Was Sascha Lobo vergaß zu sagen

Protest

Sascha Lobo hat natürlich recht: Die sozialen Medien bieten durch ihre Rückkanäle ein neues Eigenrecht aus, das sich von Institutionen und Entscheidungen abkoppelt und in einer Logik flüssiger Massemedien demonstrierende Menschen wichtiger nimmt als Pinguine. Alles, was in Lobos Text steht, stimmt, weil es sich nur schwer bestreiten lässt. Aber einen Kritikpunkt gibt es dennoch: Die Kolumne hört zu früh auf. Nach dem letzten Satz, der

Autokrat Erdogan wird wissen, weshalb er soziale Medien als „schlimmste Bedrohung“ fürchtet.

lautet, fehlt ein zwangsläufig nächster Satz, der wie folgt lauten könnte: Erdogan wird allerdings auch wissen, wie er sich gegen Bedrohungen wehrt, er hat es immer gewusst.

Der Vorteil des sozialen Internets, das auf einem Rückkanal ständig meldungsbereit ist und diesem Potenzial nachkommt, in dem es alle anderen über alles informiert, ist auch ein bedeutender Nachteil. Denn Tumblr unterscheidet sich von CNN in einem Punkt nicht: Es ist ein Nadelöhr, diesmal nicht nur in Form einer Organisationen, die die Gesellschaft (mit allen dazugehörenden Motivunterstellungen) darüber informiert, was Sache ist/sein soll, sondern auch für Organisationen, die sich umgekehrt darüber informieren wollen, was in der Gesellschaft (tatsächlich) Sache ist.

Die Zitate dafür liegen alle auf dem Tisch: Google kann sich nicht mehr gegen die Offenbarung aller auf seiner Server gespeicherten Nutzerdaten wehren. Die amerikanische Bundespolizei ließt in Echtzeit auch die Kommunikation mit, die gar nicht für die Quasiöffentlichkeiten des sozialen Netzes gedacht waren. Und die amerikanischen Geheimdienste speichern alles, für immer.

Und die eigentlichen Alleswisser sind damit noch gar nicht genannt. Die Internetanbieter, die die Kabel- und Funknetze betreiben kommen gar nicht drum herum, von allem Notiz zu nehmen. Zwar ist es inzwischen recht einfach, sich mit Tor und VPN gegen den unmittelbaren Zugriff zu schützen, aber wenn die Metapher stimmt, die Sascha Lobo verwendet, dass das soziale Internet „die neue Straße“ ist, auf der sich der politische Protest abspielt, dann ist als relevante Maschine dafür nicht der Desktop-Rechner gemeint, sondern das Smartphone, auf dem es trotz aller Nutzerfreundlichkeit merkwürdigerweise nicht nur schwer, sondern faktisch unmöglich ist, seine Kommunikation zu verschlüsseln, Anonymität herzustellen und zu garantieren und darauf zu vertrauen, dass angefallene Verkehrsdaten um Mitternacht gelöscht werden.

Google kümmert sich darum nicht, sondern fördert Ingress und von Apple erwarten die meisten nächste Woche nichts anderes als schönere Icons.

Im arabischen Frühling hatten staatliche Stellen noch den Fehler gemacht, das Internet auf der Straße abzustellen. So dumm wird Erdogan nicht sein, es würde ihn blind machen und ihm jeder Möglichkeit berauben, herauszufinden, wie er auf die nächste Protestwelle Einfluss nimmt – ohne dass es jemand auf der digitalen Straße merkt.

(Fanden wir es alle nicht total interessant, wie die Besucherströme auf der re:publica visualisiert wurden und bekamen wir vor Entzückung nicht eine kleine Gänsehaut, als Clemens Schrimpe, der für das Republica-Netz technische Verantwortung trug, anschließend bei Mobilemacs geheimnisvoll davon sprach, dass noch viel mehr möglich sei..?)

(Bild: David Shankbone)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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