Die Krisen der Gesellschaft machen ihre Mitglieder klüger. Es ist eines der faszinierendsten Zitate der aktuellsten Geschichte. Romano Prodi, EU-Kommissionspräsident von 1999 bis 2004, sagte anlässlich der Euro-Einführung im Dezember 2001: „I am sure the Euro will oblige us to introduce a new set of economic policy instruments. It is politically impossible to propose that now. But some day there will be a crisis and new instruments will be created.“ (Quellen) So ist es gekommen. Wir kennen inzwischen alle Einzelheiten der Krise. Alle Beteuerungen, das Thema sei zu kompliziert, es müsse zu viel beachtet werden, die politische Sachlage sie zu komplex haben sich als falsch oder sogar als Lügen herausgestellt. Was zur Rettung fehlt ist nur der Wille.
Mit der Überwachungsproblematik verhält es sich nicht anders. Nur auf der einen Seite hat sich das Internet als Vehikel für umfassende Überwachungen herausgestellt und die Gesellschaft in eine Krise gestürzt. Dabei geht es gar nicht darum, herauszufinden, was die Geheimdienste tatsächlich tun, sondern erstmalig zu erfahren, wo die Grenze des Unmöglichen liegt – offenbar ganz weit draußen. Das Internet enthüllt derzeit für viele Menschen seine Funktionsweise. Wer wusste denn vor zwei Monaten, wie viele Kabel es in den Ozeanen gibt, wie viele Daten sie übermitteln, wie die Anbindung zwischen dem Kabellandepunkt in Küstennähe und dem heimischen Kupferkabel im Gebirge aussieht? Kaum jemand, heute allerdings lässt es sich einfach nachlesen.
Um es kurz zu machen. In Christoph Kappes twitterberühmten Text zu Prism, lauert eine große Gefahr:
Eigenartig unpolitisch ist die Krypto-Fraktion („Verschlüssel doch“), die in Do-It-Yourself-Manier das beste tut, aber ihr eigenes Handeln in eine Kampfhandlung umdeutet, obwohl es eine Unterwerfungshandlung ist. (…) Als allgemeines Prinzip setzt sie [die Verschlüsselung] nur die Paranoia fort, gegen die sie angehen will.
Die Möglichkeit der Bespitzelung digitaler Kommunikation ist real, sie entspringt keinem Wahn. Von Paranoia kann hier also keine Rede sein. Allerdings hängt die kommunikative Grenzenlosigkeit und die Gefahr der Bespitzelung direkt miteinander zusammen. Man kann also im Grundsatz (nicht im Einzelfall) nur eines von beiden haben, ein grenzenloses Internet und eine totalüberwachte Gesellschaft oder nichts von beidem.
Es sei denn, man übergibt dieses Problem nicht nur der Politik, sondern verwandelt die Gefahren ein Stück weit in Risiken, also in Nebenfolgen von Entscheidungen, die der Einzelne selbst trifft. Ein handschriftlicher Brief ließ sich nicht verschlüsseln, für ihn brauchte man ein politisch garantiertes Postgeheimnis. Ein digitaler Brief allerdings funktioniert anders. Wer Post ins Internet wirft kann sicherstellen, dass diese nur vom Adressaten gelesen werden kann. Er muss dafür nicht an die Politik appellieren, Webserverbetreiber mit Restriktionen und Kabelverleger mit Zusatztechnologie zu belasten.
Für die Fälle, in denen Verkehrsdaten absolut unkenntlich gemacht werden müssen, sollte der Staat TOR- und VPN-Exit-Nodes betreiben. Die Technologie der Verschleierung ist da. Das Vertrauen, das der digitale Staat aufbauen kann, liegt auch in seiner Macht als Technologiebetreiber. Auch für die übliche Kommunikation ist es an der Zeit, aufzurüsten. Könnte man nicht einen Chatclient bauen, der wie „Heml.is“ die End-zu-End-Kommunikation verschlüsselt aber zusätzlich mit lauter Nonsense-Nachrichten die Metadaten-Signale in ein lautes Rauschen hüllt?
Und warum dürfen Unternehmen, die in Deutschland ihre Verbrauchertechnologie verkaufen, die AGB dazu selber schreiben? Warum zwingt sie niemand zur Offenlegung der Software (muss ja nicht gleich auch veröffentlicht werden)? Warum werden aus unternehmerischen Angeboten wie dem von https://startpage.com keine politische Garantien.
Ich vermute es hängt mit einem anderen Punkt zusammen, bei dem sich Christoph Kappes meines Erachtens irrt:
Der Schaden [durch Überwachung] ist aber in jedem Fall auch sozialer Natur: ein Gefühl ständiger Wachheit und Anspannung entsteht, wo man sich von Unbekannten beobachtet fühlt und nicht sicher sein kann, was passieren wird. Der Schaden ist gesellschaftlich.
Den Schaden durch die Big-Data-NSA-Überwachung fühlt niemand von uns, er lässt sich allenfalls intellektuell verstehen. Aber es ist wie in einem Uniseminar, man sitzt drinnen, lernt etwas darüber, wie das Gehirn die Psyche und die Kommunikation die Gesellschaft austrickst und handelt, sobald man die Uni verlassen hat, trotzdem wie ein normaler Mensch. Die NSA hält uns die Kamera ja nicht ins Gesicht, um unsere Stimmungslagen zu ermitteln.
Vertrauen ist essentiell für einen modernen Staat.
Dieser Satz aus Christoph Kappes Text stimmt. Aber man darf sich in der intellektuellen Auseinandersetzung mit den ständig neuen Herausforderungen trotzdem nicht auf eine Seite schlagen und die Politik, erstens, überfordern und, zweitens, unbemerkt neue Enttäuschungspotenziale aufbauen. Erst wenn es um „Vertrauen“ als Thema geht und das dahinterliegende Problem dasselbe bleibt auch wenn man das Wort im Text durch „Misstrauen“ ersetzt, hat man den Sprung über die moralische Mauer geschafft und sieht mehr. (Nämlich nicht nur das, was man sich wünscht.)
Wir haben alle zusammen das Internet gebaut (oder zumindest bezahlt) und jetzt hat es uns in eine Krise gestürzt, die politisches Neudenken möglich macht. Das Internet bleibt aber eine technische Einrichtung und politische Forderungen, die sich daraus ableiten lassen, müssen auch Appelle zum Misstrauen mitführen. Ziemlich viele der technischen Probleme des Internets lassen sich technisch lösen, auch wenn sie entlang ihrer Folgeketten als soziale Probleme wirken.
Christoph Kappes hatte es am Anfang seines Textes erwähnt. Das Trauma des 11. September wurde von den Geheimdiensten als Folge eigener Unfähigkeit interpretiert. Eine ähnliche Einsicht im Umgang mit den Möglichkeiten steht nun für die Gesellschaft aus.
[…] Die Krisen der Gesellschaft machen ihre Mitglieder klüger. Es ist eines der faszinierendsten Zitate der aktuellsten Geschichte. […]
Um eine Krise kritisch zu beschreiben würde ein transzendentaler oder extramundaner erkenntnistheoretischer (Reflexionswissenschaft des Wissenschaftssystemes der Buchdruckweltgesellschaftsbeschreibung) Beobachtungspunkt eingenommen werden dürfen. Da dieser Beobachtungspunkt nicht einnehmbar scheint für uns könnte die Krisen- und Kritikbegriffbenutzung fehlende epistemische Selbstkritik beschreiben. Die Evolutionsbegrifflichkeit könnte als ein Alternativangebot beschrieben werden.