„Laserkanonaden, Kulissenparaden und Lautsprecherexplosionen“ sind was für Loser, die große Bühne aber ist zeitgemäß: Emeli Sande in der Royal Albert Hall
Bei Deutschland sucht den Superstar war heute ein junger Mann, der leider nicht nur kein Talent im Gepäck hatte, sondern auch kein tragisches, ausbeutbares, persönliches Schicksal. Worum ging es also in den zwei Minuten, die jeder Depp, der vor Dieter Bohlen vorstellig wird, publikumskompatibel zu bewältigen hat: Er erzählte von dem Schicksal des Jungen, den er als Zivildienstleistender betreute. Ach was, er erzählte davon; richtiger wäre: er nutzte – angeleitet von RTL oder welchen Produktverantwortlichen auch immer – das Schicksal dieses Jungen, der im Rollstuhl sitzt und kaum in der Lage ist zu sprechen, aus, indem er ihn auch noch vor die Kamera holte, damit auch alle verstanden, wie traurig die Geschichte ist, die er sich da kurz mal ausborgte.
Es ist also kein Wunder, dass Dieter Bartetzko in der F.A.Z. schlussfolgerte, dass die Popmusik heute Dreck ist, gefolgt von der Bitte um neue Entertainer. Trotzdem, das Urteil dieses Textes, die Jugend bedauernd in den Fängen von Justin Bieber und Andrea Berg zu sehen, ist grundfalsch. Was allerdings stimmt, ist, dass die (sagen wir mal grob) Popmusik heute eine andere ist als zur Zeit Caterina Valentes. Spotify u.ä. machte sie allgegenwärtig, wobei nicht nur in erster Linie, sondern fast ausschließlich an die Hörer gedacht wurde. Die Künstler gehen relativ leer aus. Weswegen ein neues Phänomen aufkam, eben nicht ganz zufällig in Koevolution mit dem Internet: Castingshows.
Nur: Wir verstehen in Deutschland dieses Konzept völlig falsch, oder zumindest nicht so, wie wir es sehen könnten, weil es ein Quotendrecksformat ist, das RTL neben Bachelor und Dschungel ohne Sinn und Verstand in den Winter kippt, in der Hoffnung, dass bei Minusgraden und Dunkelheit genügend abendliche Langeweile in deutschen Haushalten vorherrscht. Danke Internet!, wir haben Youtube und mit ein wenig Arbeit sogar britisches Fernsehen. Es besteht also durchaus die Chance der Flucht, beispielsweise zur britischen Ausgabe von X-Factor, die, seit Take-That-Superheld Gary Barlow dort das Zepter übernommen hat eine zutiefst humanistische Veranstaltung ist.
Sam Bailey heißt die Gewinnerin des vergangenen Jahres. Was weiß man über sie? Als selektiver Youtubeklicker weiß ich nichts über sie als Person, sie erzählte bei ihrem ersten Auftritt lediglich, dass sie als Gefängnisaufseherin arbeitet. Niemand fragte daraufhin nach, wie anstrengend und belastend dieser Job ist. Ozzys Frau wollte zur Aufheiterung nur noch einmal sichergehen, dass sie da tatsächlich mit echten Handschellen arbeitet und nicht etwa mit Plüschzeug.
Was für ein Auftritt! Ganz sicher der Beginn einer Karriere, aber ging es in diesem Clip ums Gewinnen, überhaupt um Wettbewerb? Oder hat sich hier nicht vielmehr kurz aber heftig der Himmel geöffnet, um eine Frau ins Rampenlicht zu rücken und ihr ein verdientes Publikum zu bescheren. Was hier zählt ist Emotion, begrenzt auf eine Situation; es ist egal, wo Bailey herkommt, und wo sie nach diesem Song noch hin will. Man sieht das Video und freut sich, dass diese Frau kurz da war. Mit etwas Verzögerung bemerkt man dann auch, dass sie gar nicht so schön sang, aber eben so überzeugend. Man kann den Fernsehquatsch überspringen und gleich zum Ende gehen:
Darum geht es in der Popmusik, dass eine Frau davon erzählt, dass sie in den Momenten, in denen sie singt, in eine andere Welt eintaucht für ein paar wenige Male ein Publikum mitnimmt. Verabschieden wir uns von den Gedanken, dass jeder, der das auf der Bühne schafft, sogleich Millionen verdienen muss und ein lebenslanges Abo aufs Berühmtsein erlangt. Freuen wir uns stattdessen darüber, dass die Technologie hier tatsächlich einmal Teilhabe ermöglicht, Dabeisein, Miterleben, Mitfühlen. Ein Jahr zuvor hieß der Zauberer James Arthur, ein geradeso Erwachsener, der Gott sei Dank nicht an Dieter Bohlen, sondern an Gary Barlow geraten ist, wodurch jedem in der Welt, der sich auf den neuen Pop einlassen möchte, ein wirkliches Geschenk gemacht wurde. Das Finale der Show war überwältigend, aber der Anfang sprengte alle Rahmen:
Und damit ist gerade mal das Castingshow-Phänomen umrissen! Es gab noch nie so tolle Popmusik wie heute.