Was die Älteren so denken

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„Ob man mit ihnen über Demokratie, Gesetze oder allgemeine Politik spricht, im Vergleich zu den jüngeren, sind ältere Heranwachsende besser informiert, sie haben einen weiteren Blick auf schwierige Sachverhalte und — was bereits ihre höheren integrativen Komplexitätswerte anzeigen — sie verfügen über die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven miteinander zu vereinbaren.“ Zu dieser hochtrabend formulierten aber nichtssagenden Einsicht kommt die amerikanische Entwicklungspsychologin Constance Flanagan am Ende eines Buches, in dem sie sich mit jungen Menschen beschäftigt, die schon viel von der Gesellschaft verstehen, aber noch zu jung sind, an Wahlen teilnehmen zu dürfen.

Ihr Buch ist aber nicht gänzlich gescheitert, es hat nur eine andere Frage beantwortet, als es wollte: Wie denken eigentlich alte Forscher über die Welt junger Noch-nicht-Wähler? Es ist bedenklich, wenn eine Entwicklungspsychologin auf einem interdisziplinären Lehrstuhl an der Universität von Wisconsin — die nach Kollegenmeinungen ein wichtiges politisches Buch geschrieben hat —, seitenlang über den Sozialvertrag schreibt, ihn sogar ins Zentrum ihres Denkens setzt, nur weil ihr die Texte zur Idee von Jean-Jacques Rousseau, Thomas Hobbes, John Locke und Thomas von Aquin gefallen haben.

Constance Flanagan durchzieht ihre Überlegungen mit Prämissen, aus denen allenfalls sie selbst hermeneutische Attraktivität ableitet, die sie dann auch kaum begründet und die eigentlich nicht zueinanderpassen. Nicht nur gilt der Vertrag als ein für die Beobachtung von Gesellschaft überholtes Modell. Auch der Vorwurf, die Spieltheorie berücksichtige Genderproblemstellungen nicht hinreichend und die Idee, die Gesellschaft spiegele sich in kleinen Zusammenhängen — Freundeskreise, Familie, Vereine — mit gleichen Funktionsprinzipien wider, sind wenig hilfreich.

Der Autorin gelingen ihre Brückenschläge zwangsläufig und absehbar nicht: Weder der von der Entwicklungspsychologie zur politischen Theorie noch der von der Gesellschaft als „politisches, wirtschaftliches und auch denkendes System“ zu den „mini-polities“ im individuellen Alltag. Ihre Vorwürfe an die Wissenschaft, die sie im Buch erhebt, sind sogar albern. Vernachlässigt die Politikwissenschaft tatsächlich die Jugend, nur weil sie noch nicht an Wahlen teilnehmen darf? Und verwechselt sich die Zunft der Parteienforscher tatsächlich ständig mit der Politikwissenschaft? Flanagan hat ein in vielen Hinsichten uninformiertes und uninteressantes Buch geschrieben. Die Fragestellungen bleiben deshalb aktuell, wie auch der Wunsch nach Antworten.

Das Verhalten in und die Einstellungen zur Gesellschaft werden in den jungen Lebensjahren entscheidend geprägt. Eine nicht unbedeutende Rolle spielen dabei Eltern und Lehrer, die nicht im selben Alter sind und die sich der Zögling auch nicht aussuchen darf, auf der einen und Freunde und Klassenkameraden, mit denen die Jungen eher dieselbe Lebenswelt teilen und deren Personen ständig wechseln, auf der anderen Seite. Was passiert mit der Jugend, wenn das Versprechen der Bildung, dass sich nämlich Anstrengungen in Schule und Studium später beruflich und finanziell auszahlen, nicht mehr gilt? Was passiert mit den politischen Einstellungen der Eltern, die plötzlich erkennen, dass sie über die Ressourcen, mit denen sie ihre Kinder unterstützen können, gar nicht verfügen? Wie sollen sich Lehrer verhalten, wenn sie feststellen, dass sie die Gesellschaft, auf die sie ihre Schüler vorbereiten sollen, gar nicht aus ihrer eigenen Erfahrung kennen? Was passiert mit einer Gesellschaft, in der die Zeit und das Engagement für ehrenamtliche Arbeit in der Jugendzeit zwischen egoistischen Kalkülen und ökonomischen Zwängen zerrieben werden?

Das wollen wir wissen, erfahren es in diesem Buch allerdings nicht. Flanagan kommt zu anderen Erkenntnissen, nachdem sie Amerika mit Bulgarien, Tschechien und Ungarn und damit mit Ländern vergleicht, die in den vergangenen zwanzig Jahren politische Veränderungen durchlebten, die „ihren Gesellschaftsvertrag neu aushandelten“. Demnach sehen junge Amerikaner ihr Taschengeld als Belohnung für ihr Helfen im Haushalt, während junge Osteuropäer aus Verantwortungsgefühl helfen; Kinder höher gebildeter Eltern finden staatliche Sozialleistungen tendenziell unwichtiger, sofern die soziale Spaltung als kleines gesellschaftliches Problem angesehen wird; Fünfzehnjährige sind zynischer als Dreizehnjährige. Erörterungen dieser thematisch ohnehin schon zufälligen Ergebnisse bietet die Autorin nicht, sie verlässt sich auf Zahlenwerte, für deren Ausformulierung sie den Platz im Buch verbraucht.

Um das Potential der Entwicklungspsychologie für die Politikwissenschaft auszuschöpfen, was heute interessant und notwendig erscheint, müsste man sich den Fragen noch einmal annehmen und den Hinweis, den Constance Flanagan selbst zu Beginn gibt, auch tatsächlich beachten. Der Medienwissenschaftler Timothy E. Cook, schreibt die Autorin, habe nämlich die Frage danach gestellt, was man mit den gängigen Methoden überhaupt messe und was die Ergebnisse bedeuteten.

Constance Flanagan wollte es besser machen, wahrscheinlich aber müsste man es einfach ganz anders machen. Statt statistisch und vergleichend zu messen, kann es sich lohnen, mit der Jugend zu sprechen, sie mit konkreten, statt standardisierten Fragen um Einblicke in ihr Leben zu bitten. Anders als in der noch ebenso ausstehenden neuen Elitenforschung wären die Jugendlichen wahrscheinlich sogar ein dankbares Gegenüber — weil sich kaum eine Gruppe nach mehr Aufmerksamkeit sehnt. Ein einfaches Gespräch würde die meisten der methodischen Probleme Constance Flanagans lösen. Aber selbst das würde noch wenig daran ändern, dass sich Verhalten nur schlecht abfragen lässt.

Constance A. Flanagan: „Teenage Citizens – The Political Theories of the Youth. Harvard University Press, 2013. 320 S., br., 36,99 €.

(Bild Taryn Domingos)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

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