Sogar Facebook entdeckt noch Neuland

Im April hat sich Mark Zuckerberg eine neue Maxime für sein Unternehmen ausgedacht. Nun gewinnt das neue Facebook allmählich Kontur.

Die Schlussfolgerung des Journalisten Will Oremus, der für „Slate“ über Technologie schreibt und die sozialen Netzwerke im Blick behält, ist interessant und offenbar absolut zugreffend. Bei der jüngsten Bekanntgabe der Quartalszahlen vergangenen Mittwoch nutzte Mark Zuckerberg die Frage eines Journalisten dazu, nicht nur einen Ausblick in die Zukunft zu geben. Ein Stück weit versuchte er auch, die Unternehmensgeschichte von Facebook umzuschreiben. Oremus hat die Antwort in Gänze schriftlich dokumentiert. (Man kann es auch nachhören, ab Minute 49.)

Mark Zuckerbergs Anmerkungen in Kürze: Vor zehn Jahren habe es nur absolut öffentliche Blog- und absolut abgeschottete E-Mail-Kommunikation gegeben. Der heute facettenreiche Kommunikationsraum dazwischen war blank. Weder gab es schnelle und funktionierende Instant Messenger, noch die raffinierteren Möglichkeiten, ad hoc eindeutig begrenzte Gruppen zu erreichen. Nun habe Facebook erkannt, dass Menschen üblicherweise ein Publikum von 100 bis 150 Menschen adressieren, wenn sie Dinge öffentlich teilen möchten. Facebook möchte das Bedürfnis nach diesen „sozialen Räumen“ nun bedienen.

Das klang bis vor einem halben Jahr anders. Oremus erinnert daran, dass Mark Zuckerberg von der Privatsphäre als überholter sozialer Norm gesprochen hat und wie Facebook die weltweite Öffentlichkeit zum voreingestellten Publikumskreis jeder auf Facebook veröffentlichten personenbezogenen Information machte. Doch nun lasse sich tatsächlich eine andere Geschichte erzählen: Im April führte Facebook den anonymen Login ein. Facebook stellt sich dabei als Bürgen für eine Identität gegenüber dritten (Websites) zur Verfügung, ohne dass deren Betreiber erfahren, mit wem sie es bei einem Login zu tun haben. Im Mai stellte Facebook die Standardeinstellung für geteilte Inhalte zurück auf „nur mit Freunden“. Im Juli führte Facebook neben dem „Like“- und „Share“-Button den „Save“-Button ein. Facebook-Nutzer können damit Internetfundstücke für später aufheben, ohne gleichzeitig aller Welt mitzuteilen, wofür sie sich interessieren.

Die Welt ist nicht genug. Facebook will mehr als jeden Menschen einmal kennenlernen.

Damit lassen sich in der zehnjährigen Unternehmensgeschichte von Facebook zumindest ein paar Monate finden, die nachweislich zur Stärkung der Privatsphäre genutzt wurden. Auch wenn hierbei zu beachten ist, dass dies nur für die Nutzer untereinander gilt. Facebook selbst weiß weiterhin alles über jeden, Privatsphäre-Einstellungen hin oder her.

Auf die Frage nach den Gründen für den Sinneswandel findet sich aber bislang keine zufriedenstellende Antwort. Oremus vermutet, dass es direkt mit dem Geschäftsmodell zusammenhänge. Die bisherige Haltung, Privatsphäre sei ein historisch überholtes Prinzip, scheine der Reputation des Unternehmens mehr zu schaden, als es an ökonomisch verwertbaren Nutzerdaten bringe, spekuliert Oremus. Andererseits: War es nicht ohnehin immer verwunderlich, warum Facebook die Privatsphäre seiner Nutzer auf Biegen und Brechen maximal aushöhlte?

Elisabeth Pohl vermutet auf „Netzpolitik.org“ ähnliches. Facebook sei geradezu gezwungen gewesen, auf das neue Nutzungsverhalten zu reagieren, um im Spiel zu bleiben. Whatsapp habe vorgemacht, dass die „Alles Teilen-Maxime“ der falsche Weg ist, insbesondere für ein Unternehmen, das kaum noch neue kaufkräftige Nutzer gewinnen kann. Dank des 19-Milliarden-Megainvestments in Whatsapp hat sich Facebook das intime Nutzerverhalten inkorporiert. Facebook wächst nun wieder. Wenn auch nicht an bedeutsamen absoluten Nutzerzahlen, so doch an der Dichte von Profil- und insbesondere Verhaltens-Informationen, die es über den Einzelnen gewinnen kann.

Ob das etwas nützen wird, das trotz allem fragwürdige Geschäftsmodell (das auch seinen moralischen und technischen Bogen überspannt hat) über die nächsten zehn Jahre zu retten, bleibt allerdings fraglich. An der Problemlage haben auch die glänzenden Geschäftszahlen wenig geändert: Auf das Jahr hochgerechnet verdient Facebook nun nicht mehr zwei Dollar pro Nutzer, sondern 2,40 Dollar. Entsprechend dem Börsenwert des Unternehmens muss Facebook seinen Investoren allerdings 140 Dollar pro Nutzer rechtfertigen. Dass dieses Kursgewinnverhältnis merkwürdig ist, ist jedoch schon seit Jahren bekannt. Ökonomisch tiefgreifend hinterfragt wurde es nie.

Wie auch immer. Vielleicht ist Facebook der erste große Fall, bei dem es auf ökonomische Logik auch nicht mehr so sehr ankommt. So wenig die Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Gesellschaft ausgelotet und ausgebeutet wurden – die Probleme sind mit Händen zu greifen. So wie es aussieht, ist Facebook weiterhin gradewegs auf der Spur, das erste staatlich brauchbare Identitätssystem zu entwickeln. Sollte das gelingen, sind die Geschäftszahlen des Unternehmens zweitrangig.

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

2 Kommentare

  1. clammi sagt:

    Wer ist denn da von Zuckerbörg eingewickelt worden?

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