von Stefanie Büchner, Stefan Kühl und Judith Muster
Das Konzept der Digitalisierung gilt in der Wirtschaft als ein neues Heilsversprechen. Digitale Geschäftsmodelle verheißen neue Gewinnchancen. Wenn man sich schon nicht zu ganz neuen Ufern aufmacht, so will man wenigstens die Leistungsreserven der bestehenden Organisation heben. Durch digitale Transformation soll die Automatisierung betrieblicher Prozesse vorangetrieben werden. Die Idee: Je vernetzter und schneller die Prozesse strukturiert sind, desto effizienter und wirtschaftlicher die Wertschöpfung.
Aber wie realistisch sind diese Vorstellungen einer grundlegenden Veränderung durch Digitalisierung? Werden wir es in Zukunft mit Unternehmen zu tun haben, in denen Personen stören, weil Bots alle regelmäßig anfallenden Aufgaben ohne Reibungsverluste und Kaffeepausen abarbeiten? Müssen Manager gar nicht mehr entscheiden, weil Big Data das nächste Geschäftsmodell ausrechnet? Sicherlich – wie andere Techniken auch, ermöglicht die Digitalisierung die Entlastung von Routinetätigkeiten. Aber gleichzeitig – und auch das kennt man von anderen Technologien – produzieren digitale Technologien verschiedene nicht intendierte Effekte.
Es wird errechnet statt entschieden
Digitale Prozesse erzeugen digitale Daten. Daten wird das Potenzial zugeschrieben, leistungsfähige Innovationstreiber und Problemlöser zu sein. Sie erzeugen eine eigene Wirklichkeit, indem sie ein zusammenhängendes Ganzes suggerieren.[1] Dieses geordnete kohärente Ganze erscheint als ideale Grundlage rationalen Entscheidens: Die Antwort liegt gewissermaßen in den Daten. Damit vermitteln sie den Eindruck, dass tatsächliches Entscheiden nahezu obsolet wird. Denn wer alles weiß und alles überblickt, der kann die beste Lösung schlicht und einfach errechnen. Kein mühseliges Ordnen von Präferenzen, Herumschlagen mit Unsicherheiten und Entwickeln von Alternativen. Im Idealfall, so die Utopie der Transparenz, wächst sogar der Kreis derjenigen, die datengestützt Probleme frühzeitig erkennen und Lösungen entwickeln können. Die rhetorische Figur, dass „die Daten für sich sprechen“, wird in Organisationen weiter an Bedeutung gewinnen. Wer will sich gegen smarte Empfehlungen stellen? Wer geht das Risiko ein, wider „besseres“ Wissen zu entscheiden? Wer will in der Sitzung das Fass aufmachen und diese so schön geordnete, so übersichtlich und hilfreich vorstrukturierte Entscheidungslage infrage stellen?
Neuer Abstimmungsaufwand entsteht
Zugleich zeichnet sich eine entgegengesetzte Tendenz ab: Es rumort im Getriebe der Organisation, denn Digitalisierung produziert neue Abstimmungsnotwendigkeiten. Wer sich die Einrichtung eines hochautomatisierten Fertigungsprozesses genau ansieht, stellt fest, dass viele Automatisierungsprozesse nur funktionieren, weil Mitarbeiter tagtäglich viel Kreativität aufwenden, um mit den Tücken der Automatisierung umzugehen. Wer jemals die Einführung von SAP in einem Unternehmen, einer Verwaltung oder einer Universität begleitet hat, sieht häufig nicht die versprochenen Rationalisierungseffekte, sondern eher, wie viel Kreativität die Mitarbeiter aufwenden müssen, um zur Erhaltung ihrer Flexibilität Lösungen im und jenseits des SAP-Systems zu generieren. Big-Data-Auswertungen in Unternehmen sind weniger Informationsveranstaltungen als Arenen von Interpretations- und Verteilungskämpfen. Denn Organisationen sind keine einheitlichen Gebilde, in denen jeder am selben Strang, geschweige denn in dieselbe Richtung zieht: Wenn Entscheidungen auf Daten verlagert werden, werden Daten zum Kristallisationspunkt mikropolitischer Auseinandersetzung. Frei nach dem Motto ‚Glaube nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast‘, werden Kämpfe um die Einsichtnahme in und die Deutungshoheit über Daten ausgetragen. Die Hoffnung, errechnen zu können, was es eigentlich zu entscheiden gilt, weckt dann eben nicht schlummernde Effektivitätsreserven, sondern mobilisiert offenen oder verdeckten mikropolitischen Kampfgeist. Denn egal wie groß die Datenmenge auch sein mag, ein Grundgesetz des Organisierens lässt sich damit nicht erschüttern: Entscheidungen müssen getroffen werden – immer noch unter den Bedingungen begrenzter Rationalität.[2] Sie können automatisiert werden,[3] aber damit gewinnen Organisationen keineswegs an Rationalität, sondern sie kaufen sich neue blinde Flecken ein.[4] Diese „vorprogrammierten“ Reibungsverluste werden von den Befürwortern smarter Tools gern ausgeblendet.[5]
Verantwortungsprobleme und Konflikte werden in die Informalität verschoben
Wer braucht schon Vorgesetzte, wenn die Lösung durch Digitalisierung auf dem Silbertablett serviert wird? Wozu Hierarchien, wenn doch das Projekt die neue Form der Organisation schlechthin zu sein scheint? Agile Projekte wollen die Fesseln der Hierarchie abwerfen, Entscheidungsverantwortung soll frei zwischen den Kollegen fluktuieren. Die bessere Idee siegt. Eine zauberhafte Vorstellung. Und keine unbekannte: Die Idee, dass weniger formale Struktur gleichbedeutend mit Freiheitsgewinn sei, ist so alt wie falsch.[6] Nur weil etwas nicht formal geregelt ist, haben wir es nicht mit einem leeren Blatt, einer Tabula rasa oder Freiraum zu tun. Es bilden sich munter informale Erwartungen, die regeln, was wie von wem entschieden wird: Wessen Mahnung ist Gehör zu schenken, und wer ist nur übervorsichtig? Wer ist einfach nur ambitioniert, und wer schießt mit seiner Idee übers Ziel hinaus? Die agile Maschine schnurrt, solange sie informal läuft, das heißt, solange Ziele erreicht werden, Konflikte informal gedeckelt oder gelöst werden (was nicht nur nett ist) und solange alle das Gefühl haben, gleich hoch committed zu sein.
Fehler werden „fehlerhafter“
Digitale Prozesse verknüpfen die verschiedenen Funktionen über Input-Output-Schnittstellen und erzeugen dabei jeweils messbare Ergebnisse. Dabei sollen Qualität und Zeit und Kosten optimiert werden. So weit die Theorie. In der Praxis zeigt sich jedoch häufig, dass diese drei Zielkategorien so miteinander in Widerstreit geraten, dass die eine nicht optimiert werden kann, ohne der oder den anderen zu schaden. In „analogen Zeiten“ konnte man das Gleichgewicht herstellen, indem man mal die Qualität, mal die Kosten und mal die Durchlaufzeiten verbesserte. Doch Digitalisierung führt zu dazu, dass solche Abweichungen als Fehler an Sichtbarkeit gewinnen und wieder „ausgegraben“ werden können. Und „offenkundige Fehler“, so der Soziologe Niklas Luhmann „sind sehr viel fehlerhafter als heimliche Fehler.“[7] Fehler sind nicht nur Ergebnisse menschlicher Fehlentscheidungen, sondern gehen in Organisationen systematisch auf strukturelle Spannungen, z.B. zwischen unterschiedlichen Zielen, zurück. Vernetzte und automatisierte Entscheidungssysteme, seien sie digital unterstützt oder technisiert, erschweren oder verunmöglichen diesen menschengemachten Lösungsweg im Umgang mit widersprüchlichen Zwecken.
Was tun? Schwerlich werden Organisationen der Versuchung widerstehen können, die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen und die Automatisierung voranzutreiben. Aber jede Transformation, erst recht die digitale, braucht das Wissen um die nicht intendierten Folgen des Organisierens. Steuerungsphantasien durch digitale Prozesse sind fehl am Platze. Die Digitale Transformation braucht organisationskluges Entscheiden. Und die Erkenntnis, dass Technik es nicht richten wird.
[1] Vgl. Heintz, Bettina (2016). Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948-2010. Soziale Systeme, 18(1-2), pp. 7-39.
[2] Herbert A. Simon: Theories of decision making in economics and behavioral science. In: American Economic Review. Vol. 49, No. 3, 1959, S. 253–283.
[3] Unstrittig ist: Diese Delegation von Entscheidung an Daten kann auch technisiert werden, wie dies im High-Frequency-Trading oder in Anwendungen, die als Entscheidungsunterstützungssysteme vermarktet werden, geschieht. Die Unsicherheit im Entscheidungsprozess verschwindet dadurch jedoch nicht, sondern wird nur verlagert. Selbst wenn diese Verlagerung erfolgreich ist, bleibt ein nicht unerheblicher „Rest“. Dieser Rest könnte paradoxerweise gerade dadurch an strategischer Bedeutung gewinnen. Vergleiche detailliert zum High-Frequency-Trading Schwarting, Rena (2015): Hochfrequenzhandel zwischen Entscheidungsautomation und Entscheidungsautonomie. In: Maja Apelt und Konstanze Senge (Hg.): Organisation und Unsicherheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 159-174.
[4] Darauf wurde bereits zu Beginn der „Informatierung“ hingewiesen. Vergleiche Tacke, Veronika; Borchers, Uwe (1993): Organisation, Informatisierung und Risiko. In: Hans-Jürgen Weißbach (Hg.): Risiken informatisierter Produktion. Theoretische und empirische Ansätze: Strategien der Risikobewältigung. Opladen: Westdt. Verl. (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, 122), S. 125-151.
[5] Kritische Entscheidungen, z.B. darüber, wer die knappen Ressourcen bekommen soll, werden überflüssig. Entweder, so die Vorstellung, entstehe der Ressourcenengpass erst gar nicht, schließlich sehen ja alle, dass man auf ein Nadelöhr zusteuert, und können entsprechend früh eingreifen. Oder die Entscheidung sei unkritisch, weil die Daten „zeigen“, wer den größten Ressourcenbedarf hat. Dazu passen auch die mit der Digitalisierung einhergehenden Rufe nach flachen Hierarchien und mehr Selbstorganisation. Siehe z.B. Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The Revolutionary Management System That Abolishes Hierarchy. New York: Holt.
[6] Vgl. Freeman, Jo (1972): The Tyranny of Structurelessness. In: Berkeley Journal of Sociology 17, S. 151-164.
[7] Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot. S. 114.
(Foto: Marcie Casas)
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