Auf der Weltbühne

Gipfeltreffen sind die Hochämter staatspolitischer Inszenierung. Ihr Maximalerfolg liegt im Minimalkonsens. Doch müssen sie deshalb so nutzlos sein, wie viele behaupten? – Die Luzerner Soziologin Bettina Heintz geht der „Unverzichtbarkeit von Anwesenheit“ in globalen Verfahrenssystemen auf den Grund.

Brandenburg statt Hamburg: In „House of Cards“ treffen Claire Underwood und Präsident Petrov auf dem G7-Gipfel bei der deutschen Kanzlerin aufeinander. Foto: David Giesbrecht/Netflix. 

Politischen Weltereignissen wie Gipfeltreffen kann man auch mit größter Anstrengung schwerlich ausweichen. Ihr medialer Niederschlag ist mindestens mit Königs- und Papstkrönungen vergleichbar, wobei zu solchen Anlässen üblicherweise keine Stadtteile in Flammen stehen und die Fernsehfestivitäten nicht gleich tagelang andauern. Ein G20-Gipfel hat seine eigene aufwändige Dramaturgie. Mit Argusaugen blickten die Pressevertreter in Hamburg gewohnt gebannt auf jede scheinbar noch so marginale Kleinigkeit; bloß nichts verpassen, wenn die Mächtigen der Welt samt ihrer Entouragen zusammenkommen. Jede Geste und Bewegung, selbst ein Lidschlag könnten ja zu neuesten Deutungen hinsichtlich Motiven und Absichten des politischen Personals taugen.

Der Blick der medialen Beobachter hat etwas Unschuldiges. Es ist eine Art Mitinszenierung für das staunende Publikum. Die Welt zu Gast; farbenfrohe Bebilderung einer großen politischen Bühne, die permanente Anspannung erfordert und höchste Erwartungen an eigentlich allzu Erwartbares aufbaut. Egal, ob Melania Trump mit den Regierungskindern im Hafen schippert, ihr Mann mit Präsident Putin am Stehtisch beim Kekseknabbern fotografiert wird, ob die Erdogans abendländischen Anklängen in der Elbphilharmonie fernbleiben oder der kanadische Premierminister Trudeau bunte Socken (immer noch der neueste Schrei!) zu braunen Schuhen und blauem Anzug trägt – alles hat genügend Relevanz, um irgendwo noch einmal gesagt, gezeigt und bei der Verfertigung kommunikativer Ausforschungen gebührend mitbedacht zu werden.

Gipfeltreffen als Verfahrenssysteme

Kann die Beschreibung politischer Großereignisse neben exzessiver Gewalt und argumentierter Ablehnung einerseits und hingebungsvoller Faszination für glamouröse Polit-Fassaden andererseits um weitere Zugänge ergänzt werden? Eine interaktionstheoretische Analyse zur globalen Bedeutung politischer Entscheidungsverfahren bietet die Schweizer Soziologin Bettina Heintz (Universität Luzern) mit ihrer Arbeit zur „Unverzichtbarkeit von Anwesenheit“. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Bindungs- und Folgebereitschaft auf Ebene globaler (politischer) Beschlüsse höchst problematisch zu verwirklichen sind. Die moderne Gesellschaft kennt keine Höchst- oder Finalinstanz, um weltpolitisch unverbrüchliche Entscheidungen herbeizuführen. Mit internationalen Normierungs- und Ordnungsverfahren kann versucht werden, diese ,Lücke‘ zu schließen. Sie werden interaktionsförmig gebildet, als Formate der Kommunikation unter Anwesenden.

Auf der Basis von Niklas Luhmanns erstmals 1969 erschienener Studie „Legitimation durch Verfahren“ lassen sich entsprechende Gebilde als (interaktionsförmige) Verfahrenssysteme beschreiben, die einer ergebnisoffenen Herstellung von Entscheidungen dienen und selbige legitimieren. Arrangements, die in erster Linie der Herstellung von Konsens dienen, bieten der Politik multiple Optionen legitimierter Entscheidungsbildung oder werden hierauf ausgerichtet. In ihnen kann über die Einbindung entscheidungsfähiger staatlicher Repräsentanten eine ansonsten unerreichte Bindungskraft hergestellt werden. Nach Bettina Heintz sind es hier aber weniger formale Verfahrensregeln als vielmehr eine „performative und symbolische Verstrickung in das Verfahren, die Legitimation erzeugt“ (246). Interaktionssysteme tendieren zur Latenz oder Abkühlung von Konflikten, da sie eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht erfordern und insofern soziale Hemmungsmechanismen aktivieren. Genau das macht einen politischen Gipfel zur willkommenen Gelegenheit der Gemüterberuhigung (wenngleich es eine gewisse Art von Ironie sein mag, dass selbiger Effekt in den Reihen des demonstrierenden Publikums weitaus seltener zu beobachten ist).

Darüber hinaus bieten politisch initiierte bzw. intendierte Verfahrenssysteme ein reichhaltiges Repertoire an Ritualen, Techniken und Taktiken des Anwesenheits- und Protokollmanagements. Geschulte Etikette und Parketttauglichkeit sind zu wahren. Während des direkten Beisammenseins wird viel lieber relativiert, geglättet, umschifft, ausgewichen und verlagert, als dass man Bereitschaften aufbringen müsste, sich (zu) schnell auf frontale Ablehnung oder vorauseilenden Gehorsam einzulassen. Und nicht zuletzt regt ein Verhandlungstisch umso eher zum Platznehmen an, wenn er zuvor mit Kaffeetassen, Obst und Gebäck hergerichtet wurde. Frei nach Goethe: Verweile doch, staatsträchtiger Moment, du bist so schön!

Unterstellter Konsens

Zahlreiche, vielleicht die Mehrzahl der auf Interaktion begründeten globalen Verfahrenssysteme führen, was kaum wundern kann, im Ergebnis nicht etwa zu Oppositionsbildung und damit zu Anschlusskonflikten von Mehrheiten und Minderheiten bzw. Siegern und Unterlegenen, sondern vielmehr in die Proklamation von Konsens. Der konsensuell herbeigeführte Entscheid entfaltet pikanterweise keinerlei juristisch bindende Wirkung, sonst käme er auch denkbar seltener überhaupt zustande. Es wird stattdessen von ,soft regulation‘ gesprochen. Diese im politischen Alltag viel gescholtene Weichheit impliziert folgenreiche Funktionen. Erstens: Die (persönlich vertretene) Einbindung in das Verfahren ermöglicht eine öffentliche Darstellung von Folgebereitschaft, die jeden späteren Versuch einer Loslösung vom bereits geschaffenen Konsens hemmt – immerhin insoweit, als dass die nachträgliche Distanzierung in vielen Fällen (öffentlichen) Unmut oder doch Einbüßen von Vertrauen unter ebenbürtigen Verhandlungspartnern provozierte.

Persönliche Motivlagen und subjektive Normerwartungen sind dabei relevanzarm; sie bleiben für die ,Veräußerung‘ der (Selbst-)Bindung in Form von Konsenserhalt ohne Einfluss. „Man stimmt zu, obwohl man eigentlich anderer Meinung ist (…). Konsens bedeutet nicht ,objektive‘ Übereinstimmung, sondern Konsensunterstellung“ (Heintz, 236, kursiv i. O.). Vieles darf vermutet werden, wenn man (wiederum Protokoll) sich möglichst in strikter Zurückhaltung übt, Vermutungen in Gewissheiten wandeln zu wollen. Ausweichwege lassen sich einrichten – etwa mit ungenannten und doch erkennbaren Sonder- und Verweigerungsvoten, geschickt placiert mithilfe sprachlicher Hintertüren beispielsweise im Abschluss-Communiqué; oder durch die Erklärung, aufs erste genau darin einig zu sein, dass man noch nicht gänzlich einig ist. Wer immer die Gelegenheit hatte, einer Vergleichseinigung in Zivilgerichtsprozessen en détail beizuwohnen, wird einiges an Fantasie in Angelegenheiten der konsensualisierten Dissenserklärung aufbringen können.

Zweitens: Die (politische) Welt wird über das Verfahren und seine Konsensbildung ausgiebig und ausdrucksvoll zur Aufführung gebracht. Ein Gipfeltreffen strahlt über nationalstaatliche Belange und größte Diskrepanzen hinweg. Es führt den (Laien-)Beobachtern, dem Publikum der Politik, eine internationale Entscheidungsarena vor Augen. Dass dies gelingt – temporäre massenmediale Omnipräsenz des Ereignisses – ist in der Dramaturgie des Verfahrens begründet; nämlich durch zeitliche, räumliche und personelle Konzentration einer symbolischen Weltgesellschaft an einem einzigen und im Verhältnis zur Verbreitung der anwesenden kulturellen Repräsentanten geradezu ‚winzigen‘ Schauplatz. Es braucht empirisch betrachtet niemanden, der für diese Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit erst noch seine Legitimation erteilen müsste, wenn sich im Zustandekommen der Anwesenheit unweigerlich eine ‚Vertretung‘ der Welt ereignet und über Interaktion mit repräsentativen Mitteln vollzogen wird. Wo das Interaktionsgeschehen gesehen werden kann, wird es auch gesehen. Und mehr noch: es lässt sich darüber berichten. Der Beobachter, der nicht auf dieser Bühne steht, hat alle Gelegenheit, den Berichten seine Aufmerksamkeit zu schenken und damit das Geschehen – teilnehmend – als jenes zu erkennen, als das es (auch) für ihn bestimmt sein mag.

Informalität der Gärten und Gänge

Ein politisches Verfahrenssystem als „Weltbühne“, so Bettina Heintz, kann auf solchermaßen veranstaltete Interaktion nicht verzichten, woran auch moderne Kommunikationsmedien wenig ändern, da gar größte Finessen der Digitalität den Darstellungsmitteln der Staatenwelt eine vergleichbar expressive Aufführungsarchitektur, unter Einbezug von Bindungs- und Legitimationskraft bei der Entscheidungsbildung, nicht bieten können. Ein diesbezüglich in jüngerer Zeit zunehmend verlautbartes Unbehagen gegenüber den klassischen politischen ,Bühnenbildern‘ (man hört von einer „Krise der Demokratie“ und weiß nicht so genau, wo sie zu finden ist) mag wohl mit Verweis auf emanzipatorische Forderungen in mehr oder weniger solide argumentierten Widerspruch oder gar dumpfen Zorn der Straße führen; und damit eigene interaktionsförmige Quasi-Verfahren qua Protest hervorbringen. Gleichwohl ändert das an bewährten Verfahrenssystemen und eingespielten Prozeduren einstweilen wenig.

Natürlich kommt kein Gipfel der Welt an Organisation vorbei beziehungsweise ohne aus, die staatsseitig den Rahmen aller Verfahren bereitstellt. Doch die Entscheidungsbildung tritt letztlich als Resultat eigendynamischer Interaktionen hervor. Das organisational Vorgezeichnete kann leicht suspendiert oder variiert werden. Gerade Gipfeltreffen führen dies Bettina Heintz zufolge den Beobachtern anschaulich vor Augen: „Sie sind nicht bloß ein Spektakel dessen Zweck es ist, bereits getroffene Entscheidungen öffentlich zu inszenieren (…), vielmehr entfalten sie oft ein Eigenleben, das am Ende einer langen Nacht das durch Beamte und Diplomaten Vereinbarte zum Einstürzen bringt“ (235).

Wird nun als prominente Kritik am Format der Gipfeltreffen darauf hingewiesen, dass diese lediglich aufgrund des Unvermögens der Vereinten Nationen jene Entscheidungen selbstständig zu treffen, eine informelle und ungeordnete Notlösung darstellten, kann diesem Einwand entgegnet werden: Gerade weil die organisationalen Verhältnisse andernorts jene Möglichkeiten offenkundig nicht zureichend bereitstellen, deren Nutzung im Verfahren von Gipfeln beansprucht werden, sind informalisierte Verfahren außerhalb scharfer Grenzen politischer Organisation eine probate Antwort. Gipfeltreffen differenzieren sich ja wiederum in zahlreiche informale Untersysteme der Interaktion. Man spricht von den bilateralen Einzelgesprächen oder vom Sondierungsfrühstück; die Herrschaften wandeln in den Gängen und Gärten ihrer Tagungsstätten und führen Beredungen in Nischen und hinter Hecken, die für Minuten Bestand haben und an anderer Stelle keineswegs selbstverständlich anschlussfähig fortgesetzt werden können. Zeiterfahrung wird enorm verdichtet. Augenblicke bringen Ahnungen hervor. Aber Ahnungen haben keine Vergangenheit und kaum sind die Momente vorüber, kann man hinsichtlich dessen, was daraus (nicht) folgen möge, nicht sicher sein.

Verhandlungsidylle in Brandenburg

Gewiss mag die Forderung nach sehr viel mehr Präzision und Bindungskraft politischer Großverfahren, einschließlich ihrer Kontrolle, als Reaktion auf organisatorische Defizite, die nun einmal an anderer Stelle bestehen, nachvollziehbar erscheinen. Die produktive Eigendynamik eines ersatzweise gebildeten und inzwischen zur Regel gewordenen Verfahrens in Form der Gipfeltreffen, die offensichtlich davon profitieren, in lockerer Bindung mit politischer Formalorganisation zu stehen, wird durch diese Einwände aber wenig geschmälert. Man kann den symbolischen Beitrag großer Verfahrensformate – es ließen sich dazu einige andere prominente Ereignisse zählen wie zum Beispiel Kirchensynoden oder Weltkonferenzen – bei der Herstellung von Legitimation schwerlich überschätzen. Sie repräsentieren Foren der Einheit. Und wenn ihnen das üblicherweise nicht allzu leicht gelingt, so zeigen ihre Teilnehmer zumindest persönliches Bemühen darum. Dies geschieht gerade, so der Hinweis von Bettina Heintz, „trotz – oder besser: wegen – der Brüchigkeit politischer und rechtlicher Institution“ (246).

Anschauliche Episoden des politischen Betriebs bietet, wenn man gelegentliche Überzeichnungen und Exzesse unbeachtet lässt, seit einigen Jahren die US-Serie „House of Cards“, in der vor allem das Verschränkungs- oder Spannungsverhältnis von Formalität und Informalität politischer Organisation prononciert wird. Die Bildung politischer Entscheidungen ist darin deshalb lohnenswert zu beobachten, weil die Ergebnisse in ihrer reichlich diffusen und von unerwarteten Gelegenheiten mitgeprägten Gemengelage voller Widersprüche und Zweckverschiebungen entfaltet werden. Neben vielen instruktiven Beispielen, die sich durchaus für Reflexionen in Seminaren der Politischen und Organisationssoziologie anbieten, wird in einer Folge das G7-Treffen ausgerechnet (abermals) in der (späteren) Heimat der deutschen Kanzlerin präsentiert. Diese übrigens wird von einer gebürtigen Deutschen gespielt und der typische Merkel’sche Zungenschlag bleibt humorvollerweise auch gewahrt.

Die Story: Der russische Präsident Viktor Petrov (nochmals sind Analogien der reine Zufall) ist zum Leidwesen der anderen Teilnehmer geduldeter, weil längst sanktionierter Gast dieses Gipfels, welcher deshalb auch nur G7 heißt. Petrov wird benötigt, um einem heiklen Handels-Deal zwischen China und den USA nicht länger im Wege zu stehen. Wo die Not drängt und Gesichtswahrung geboten ist, erscheint vieles möglicher denn je. Selbstverständlich werden in der Episode die entsprechenden Abreden am Gipfelort, einem idyllisch gelegenen Landsitz in der Brandenburger Provinz und fernab jeglicher Demonstranten, in größtmöglicher Hinterzimmer-Atmosphäre präsentiert. Der Gipfel hat seine eigenen inneren Vorder- und Hinterbühnen. Zwischen der Plenumsdebatte mit der Bundeskanzlerin folgt wieder und wieder die persönliche Konfrontation im Séparée.

Es ist mehr als eine filmische Pointierung, wenn dem bilateralen Tête-à-Tête hinter verschlossenen Türen die Intermezzi multilateraler Sammlung in den Fluren und Winkeln des Hauses folgen. Bei allem Verhandeln gibt es ein Auf und Ab der Zugeständnisse, ein Changieren zwischen Geben und Nehmen, ein Stehlen der Show zulasten der einen und ein Schenken unverdienter Lorbeeren dafür an andere. Und weil um dieses Schachern und Feilschen nicht viel Wind gemacht wird, tritt der subtile Reiz der Zusammenkunft so wirksam zutage. Wer darin Anstößiges finden will, wird Hinterhalt und faule Tricks monieren; und wer es pragmatischer sieht, kann sich mit der Bewertung anfreunden, dass hier Politik vom Feinsten fabriziert wird.

Vom Dämpfen der Erwartungen

Zeitliche, räumliche und personelle Bedingungen globaler Gipfeltreffen sind jedenfalls eindrucksvoll: Über das Gesagte und vielleicht noch zu Sagende wird ein oder zwei Nächte geschlafen; ein Rhythmus von Gespräch, Überdenken, Abstand finden, neuem Ansetzen und Fortfahren kommt in Gang. All das ereignet sich an einem Ort, der nicht als der eigene erfahren wird und in einer personellen Konstellation, die mit Sicherheit einmalig bleibt. Naheliegend findet eine derart entfaltete Perspektive bei jenen wenig Akzeptanz, die sich in der Gewissheit wähnen, dass Gipfeltreffen globales Leid eher zementieren, als zu dessen Beendigung Beiträge zu leisten. Sollte man sich etwa auf die Seite des Genfer Soziologen Jean Ziegler schlagen, der dieser Tage anmerkt, Zorn komme in ihm hoch, denke er bei G20 allein an eine „total illegitime und illegale Zusammenkunft“ der „Befehlsempfänger des Finanzkapitals“? Das Gipfeltreffen sei nichts, so ein zorniger Ziegler, als eine „Nebelwand“ und wer an einem solchen teilnehme mache sich mitschuldig am massenhaften Hungertod der Weltbevölkerung.

Dagegen lässt sich vorschlagen, dass es lohnen könnte, politisches Engagement immer noch von wissenschaftlicher Untersuchung unterscheidbar zu halten. Vielleicht kann man angesichts der bekannten Politisierung des Themas anregen, sich auf gelegentliches Ergänzen der jeweiligen Perspektive einzulassen, anstatt mit Totalverrissen in Bausch und Bogen aller Welt ihre Anteile an Not und Verderben vorzuwerfen. Interaktionstheoretische Analyse dürfte für ein besseres Verständnis entsprechender Weltereignisse jedenfalls nicht schaden und manchen Spontanimpuls mäßigen, der auf die unbedachte Diskreditierung all jener sozialen Interaktionsgeschehen hinausläuft, die exklusive Verfahren der Entscheidungsfindung bereithalten. Defensive Bemühungen in puncto Steuerung sowie eine für solche Anlässe sicher stets gut geölte Formulierungsglättungsmaschinerie müssen nicht voreilig als eklatante Störungen des politischen Verfahrens gesehen werden. Treffender scheint die Beobachtung zu sein, dass Gipfeltreffen zur Entlastung von Erwartungen beitragen können. Der kunstvolle Effekt solcher Ereignisse liegt womöglich wesentlich darin begründet, dass sie durch Abkühlen und Dämpfen der Erwartungslasten gerade so neue Erwartungen und Aussichten auf Erfüllung zu produzieren vermögen.

Dies mindert mitnichten Bedarf oder Nutzen von Protest; im Gegenteil macht es diesen wohl umso langlebiger. Gleichwohl kann die Frage gestellt werden, was verloren geht, wenn Forderungen nach weitestgehender „Transparenz“ politischer Interessenverhandlung und Entscheidungsbildung einen Durchsetzungsgrad erreichen, der die Vorzüge des diskret-informellen Hinterbühnengeschäfts mit allen Feinheiten seiner Latenz und Selektion von Kommunikation unterminiert. Den Spitzen der Politik müssen mit anderen Worten Spielräume erhalten bleiben, die es gewährleisten eben jene bedeutsame Entscheidungsprämisse – Personal – noch wirkungsvoll ausnützen zu können. Wie Transparenzoffensiven in protestpolitischen Bewegungen aufs Glatteis führen können und die dortigen Entscheider in große Erklärungsnöte bringen, wurde jüngst auf diesem Blog am Beispiel der Piratenpartei diskutiert.

Die Routiniertheit der Gipfeltreffen mag zu langsam und zu zaghaft erscheinen. Für wen daraus Unzufriedenheit und Frustration resultieren, der könnte sich vergegenwärtigen, dass vermutlich kein politisches Prozedere der Welt gänzlich ohne Zeit und Orte für Dramaturgie und Spiel auskommt. Nur wer unvermeidbare Inszenierung von Politik nicht für unwahrscheinlich hält, kann sichergehen, am Ende allen Entscheidens weniger enttäuscht zu sein.

Literatur

Heintz, Bettina (2014): Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit. Zur weltgesellschaftlichen Bedeutung globaler Interaktionssysteme. In: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, S. 229-250.

Luhmann, Niklas (2013): Legitimation durch Verfahren. 9. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

2 Kommentare

  1. Guenter Lierschof sagt:

    Sehr geehrter Her Auto!

    Das könnt doch genauso gut in drei Absätzen gesagt werden – wäre es Literatur ja, aber so?

    Günter Lierschof
    Der Zeichner

  2. […] Auftakt eine repräsentative Note. Bis heute sind derartige Residenzen die erlesenen Adressen für politische Gipfeltreffen und Krisengespräche aller Art. Es ist der besondere Raum, der dem einzigartigen Geschehen seinen Charakter und den Teilnehmern […]

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