Die überraschende Renaissance eines verstaubten soziologischen Konzeptes. Wie Praktiker das Wort „agil“ missverstehen

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Kaum ein soziologisches Konzept ist so aus der Mode wie das sogenannte Agil-Schema des US-amerikanischen Strukturfunktionalisten Talcott Parsons. Es finden sich kaum noch Wissenschaftler, die mit dem ursprünglich mal als umfassenden soziologischen Erklärungsansatz entwickelten Agil-Schema arbeiten, hat es sich doch in der Anwendung als viel zu schematisch herausgestellt. An Universitäten wird das Agil-Schema bestenfalls noch kursorisch in Vorlesungen zur Geschichte der Soziologie vermittelt, sodass die meisten Soziologen kaum noch in der Lage sind, dieses Schema auf die Analyse zum Beispiel von Familien, Schulklassen oder Unternehmen anzuwenden.[1] Um so überraschender ist, dass  Talcott Parsons mit seinem Agil-Schema außerhalb der Soziologie eine auffällige Renaissance erlebt.

Die ungewollten Sympathien für eine strukturkonservative Theorie

Im Managementdiskurs wird der Begriff der Agilität als eine abstrakte Wertformel für die erfolgreiche Führung eines Unternehmens verwendet. „Unter Agilität wird, so eine typische Definition, „die Fähigkeit einer Organisation verstanden, sich kontinuierlich an ihre komplexe, turbulente und unsichere Umwelt anzupassen.“[2] „Für ein Unternehmen bedeute Agilität, so die Logik, „die Fähigkeit in einer Wettbewerbsumgebung gewinnbrigend zu operieren, die charakterisiert ist durch ständig aber unvorhersehbar sich ändernde Kundenwünsche“[3] Wesentlich sei dabei ein „agiles Mindset“ aller Mitarbeiter, das einen  „wertschätzenden Umgang“, „eine Begegnung auf Augenhöhe“ ermögliche.[4]

Talcott Parsons wird dabei in den deutschen Wirtschaftsmedien aufgrund seines Agil-Schemas als Vorreiter der Agilität gefeiert. Er  hätte, so das Argument im Managementdiskurs, mit dem Begriff des Agil-Schemas versucht, die „Dauerhaftigkeit eines Gesellschaftssystems zu beschreiben“, letztlich „nichts anderes als das, was Agilität heute erreichen will.“[5] Parsons, so der Gedanke, hätte mit seiner Vorstellung, dass jedes System die vier Funktionen der Anpassung an die Umwelt, der Erreichung der Ziele, der Integration der verschiedenen Subsysteme und der Strukturerhaltung als Mechanismus zur Leistungserbringung der Teilsysteme untereinander erbringen muss, viele Gedanken vorweggenommen, die heutzutage im Managementdiskurs unter dem Begriff der Agilität diskutiert  würden.[6]

Praktiker übersehen bei ihrer Begeisterung für das Konzept, dass es Parsons mit seinem Agil-Schema nicht um Assoziationen mit Agilität, sondern um die Erklärung der Stabilität  sozialer Systeme ging. Alle sozialen Systeme, so die Überlegungen  Parsons, seien darauf angewiesen, sich an ihre Umwelt anzupassen, Ziele zu erreichen, verschiedene Subsysteme zu integrieren und ihre kulturellen Normen zu erhalten.[7]

Das Wort „Agil“ steht bei  Parsons lediglich als Abkürzung für diese von ihm als zentral betrachteten Funktionen der „adaptation“, des „goal attainment“, der „integration“ und der „latent pattern maintenance“. Parsons hätte dabei ohne größere Schwierigkeiten die Funktionen auch anders anordnen können und sein Schema zum Beispiel LIGA, GAIL, ALGI oder IGAL nennen können.[8] Hätte Talcott Parsons eine andere Form der Abkürzung gewählt, wären die Verfechter der Agilität unter den Beratern und Managern vermutlich nicht über den Strukturfunktionalisten gestolpert, weil ihre Managementmode dann Ligalität, Gailität, Algilität oder Igalität hätte heißen müssen.[9]

Wie kommt es, dass sich Praktiker von einer in ihren Ohren wohlklingenden wissenschaftlichen Abkürzung so irritieren lassen, dass sie gar nicht die Widersprüche zwischen ihrem auf Beweglichkeit, Flexibilität und Dynamik abzielenden Praktikerkonzeptes und einer auf Ordnung, Stabilität und Beharrung basierenden wissenschaftlichen Theorie erkennen?

Trivialisierungen und Verdrehungen

Während es früher möglich gewesen ist, Managementkonzepte alleine auf ihre Bewährung in der Praxis zu begründen,  hat es sich im Managementdiskurs durchgesetzt, die aktuell propagierten Konzepte wissenschaftlich zu adeln.[10] Es gehört inzwischen zum State of  the Art, aktuelle Führungskonzepte durch Referenz auf die Systemtheorie zu legitimieren, die Tatsache ignorierend, dass es aus dieser Theorie wenig Anhaltspunkte für Führungsmodelle mit dem für „agile“ Konzepte üblichen Steuerungsoptimismus gibt.

Bei der Verwendung soziologischer Konzepte im Managementdiskurs können wir ein Phänomen beobachten, das in der Wissenschaftsforschung als die Ausbildung einer „Anwendungsrhetorik“ bezeichnet wird.[11] Damit wissenschaftliches Wissen für Praktiker nützlich sein kann, muss es durch sie so aufgearbeitet werden, dass es an ihre Probleme anschlussfähig wird. Wissenschaftliche Konzepte werden von Praktikern dabei nicht als Gebilde zusammenhängender theoretischer Überlegungen betrachtet, sondern als Basis für eine der bisherigen Vorgehensweise überlegende Praxis gedeutet. Dafür werden theoretische Überlegungen simplifiziert, Begrifflichkeiten umgedeutet und wissenschaftlich nicht gedeckte theoretische Verknüpfungen vorgenommen.[12]

Im Zuge der Reinterpretation soziologischen Wissens durch Praktiker werden die Ergebnisse soziologischer Forschung ihrer soziologischen Grundlagen entkleidet. Die Verwendung von soziologischem Wissen in der Praxis läuft, so schon die Beobachtung von Ulrich Beck und Wolfgang Bonß,  geradezu auf eine „aktive Abschaffung des Soziologischen am Ergebnis“ hinaus.[13] Nicht nur die Trivialisierung, sondern weitergehend die Verdrehung wissenschaftlicher Überlegungen scheinen  notwendige Voraussetzungen für die Übertragung soziologischer Überlegungen in die Praxis zu sein.[14]

Das Hochspielen von Talcott Parsonsʼ Agil-Schema zu einer der zentralen Wurzeln des Managementkonzepts der Agilität ist dabei lediglich die letzte Volte in der Umarbeitung einer soziologischen Theorie zur Legitimation von Managementkonzepten. Aus einem nachvollziehbaren Grund beschränkt sich die Lobpreisung von Talcott Parsons als Vordenker der Agilität allerdings auf den deutschsprachigen Raum. Das deutsche Adjektiv „agil“, das zur Zeit fast jedem Managementbegriff vorangestellt wird, muss im Englischen mit „agile“ übersetzt werden, weswegen nur Praktiker im deutschsprachigen Raum auf die originelle Idee kommen konnten, dass ihre Agilität etwas mit dem Konzept eines US-amerikanischen Soziologen zu tun haben könnte.


[1]. Selbst das kurze Parsons-Revival in den 1980er Jahren, das in Deutschland besonders durch Richard Münch vorangetrieben wurde, ist inzwischen wieder zu Ende. Siehe z.B. Richard Münch, Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1982.

[2] .André Häusling (Hrsg.), Agile Organisation. Transformationen erfolgreich gestalten – Beispiele agiler Pioniere, Freiburg, München, Stuttgart 2018.

[3]. Kerstin Förster/Roy Wendler, Theorien und Konzepte zu Agilität in Organisationen, Dresden 2012, S. 39.

[4]. Stephan Fischer/Sabrina Weber /Annegret Zimmermann, Was ist Agilität und welche Vorteile bringt eine agile Organisation?, in: Personalmagazin (2017), H. 4.

[5]. Prange, Christiane (2017): „Agilität im Management“, Zeitschrift für Organisation, Jg. 86, S. 184–189, hier S. 184. Man merkt wie beim  Copy-and-Paste des Gedankens, die Zweifel am Ursprung des Konzeptes in der Agilität immer mehr verschwinden. Siehe Fischer, Stephan (2016): Definition: Agilität als höchste Form der Anpassungsfähigkeit. Haufe.de. Download unter: https://www.haufe.de/personal/hr-management/agilitaet/definition-agilitaet-als-hoechste-form-der-anpassungsfaehigkeit_80_378520.html. In oder Bei Förster/Wendler, Theorien und Konzepte zu Agilität in Organisationen, S. 6–7, wird noch vorsichtig darauf verwiesen, dass nur in einem Werk eine Referenz auf Parsons zu finden ist.

[6]. Korn, H. P. (2014): Die Agile Organisation: Irritationen statt Trivialisierungen – Handout. Dabei wird als Ursache auf Talcott Parsons verwiesen und als Referenz dann  Kneer, Georg; Schroer, Markus (Hg.) (2009): Handbuch soziologische Theorien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften angegeben.

[7]. Siehe allgemein: Talcott Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976; speziell zur Anwendung auf moderne Gesellschaften: Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972.

[8]. Die wenigen verbliebenen strukturfunktionalistischen Spezialisten können mit guten Gründen darauf verweisen, dass die Anordnung der Funktionen nicht völlig beliebig ist. Weil die Dimensionen der externe (adaptation und goal-attainment) und interne (latency und integration) mit den zukunftsbezogenen (adaptation und latency) und gegenwartsbezogenen (goal-attainment und integration) Dimensionen in einer Vierfelder-Tafel kombiniert werden, liegen die vier Abkürzungen AGLI, GIAL, LIAG und IGAL besonders nahe.    

[9]. Die besten deutschsprachigen Zusammenfassungen des strukturfunktionalistischen Ansatzes von Talcott Parsons finden sich immer noch in: Schneider, Wolfgang Ludwig (2002): Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 1. Weber Parsons Mead Schütz. Opladen: WDV, S. 83ff und Münch, Richard (2004): Soziologische Theorie. Band 3. Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M., New York: Campus, S. 41ff.

10. Siehe für Verweise auf die „great university of life“ bei der Begründung früher Managementkonzepte John Micklethwait/Adrian Wooldrige, The Witch Doctors. Making Sense of the Management Gurus, London 1996, S. 12.

[11]. Michael Mulkay/Trevor Pinch/Malcolm Ashmore, Colonizing the Mind. Dilemmas in the Application of Social Science, in: Social Studies of Science 17 (1987), H. 2, S. 231–256.

[12]. Siehe dazu Alexander T. Nicolai/Fritz B. Simon, Kritik der Mode, Managementmoden zu kritisieren, in: Hans A. Wüthrich/Wolfgang B. Winter/Andreas F. Philipp (Hrsg.), Grenzen ökonomischen Denkens. Auf den Spuren einer dominanten Logik, Wiesbaden 2001, S. 499–524, hier S. 504–505, die sich auf die Überlegungen von Mulkay, Pinch und Asmore beziehen.

[13]. Ulrich Beck/Wolfgang Bonß, Soziologie und Modernisierung Zur Ortsbestimmung der Verwendungsforschung, in: Soziale Welt 35 (1984), S. 381–406, hier 392ff.)

[14]. Zur Trivialisierung soziologischer Erkenntnisse, siehe Christoph Lau, Soziologie im öffentlichen Diskurs. Voraussetzungen und Grenzen sozialwissenschaftlicher Rationalisierung gesellschaftlicher Praxis, in: Soziale Welt 4 (1984), S. 407–428, hier 407f.

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

3 Kommentare

  1. Lieber Herr Kühl,

    ich nehme hiermit Ihr Angebot gerne an und antworte hiermit auf diesen Ihren Beitrag, u.a. auch veröffentlicht in der FAZ unter „Agile Praktiker“.

    Hier mein Kommentar:
    Ich bin seit vielen Jahren als Management-Berater tätig und kann Ihre Aussage bestätigen, dass sehr viele meiner Kollegen, das schnelle und nicht-anstrengende Konzept suchen. Eine Theorie wäre viel zu anzustrengend. In der Konsequenz kommt in der sogenannten Praxis etwas an, das mehr oder weniger gedankenlos ist.

    Ich sehe jedoch auch, dass viele Kollegen aus der Wissenschaft Ihres dazu beitragen, dass dies so ist. Meines Erachtens herrscht in der Wissenschaft sehr oft ein Silo-Denken vor, das eine integrale Sicht vermissen lässt und der Transfer über die Silos oder in die Praxis bleibt aus.

    So auch bei dem Thema AGIL. Ich habe vor kurzem in meinem Blog-Artikel „Projekte neu gedacht!? Oder vom Nutzen der Forschung!?“ auf meinem Blog http://www.agilemanagement40.com zu drei wissenschaftlichen Artikeln Bezug genommen. Einer der wissenschaftlichen Artikel hat explizit AGIL als Erklärungs-Konzept verwendet. – Mein Kommentar am Ende meines Beitrages hierzu ist eindeutig!

    Nach meinem Verständnis dienen sogenannte agile Handlungsrahmen vor allem dazu, in einem komplexen Umfeld Stabilität zu gewährleisten. – Damit ist zum Beispiel Hochleistung in Teams möglich. Wir wenden in unserem Management 4.0 Ansatz die Theorie der Selbstorganisation (Synergetik) an, https://en.wikipedia.org/wiki/Self-organization. Auf dieser Basis habe ich gezeigt, dass die Grundgedanken von AGIL die Prinzipien der Selbstorganisation enthalten, wenngleich diese von Parsons wahrscheinlich nie angedacht wurden.

    Herzliche Grüße
    Alfred Oswald

  2. Christian Hildebrandt sagt:

    Zum Kontakt herstellen mit hier ignorierten historischen Fakten:
    http://wiki.c2.com/?AgileProcesses

    Woher der Begriff „Agil“ in der (Geschäfts-)Prozessgestaltung tatsächlich kommt und warum er nichts mit Parsons zu tun hatte. So wie „Skalieren“ ein Export aus der Softwareentwicklungsbranche in die restliche Wirtschaft.

  3. Michael Blaschke sagt:

    „aktive Abschaffung des Soziologischen am Ergebnis“

    > dasselbe gilt auch im Kontext Systemische Beratung/agile Coaching

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