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Über
Gefühle in Organisationen
Interview von Peter Laudenbach mit Stefan Kühl
Eine ausführliche Fassung des Interviews ist im Heft 4/2019 von Brandeins erschienen und wird ab Mai 2019 online zugänglich gemacht. Diese Fassung auf den Sozialtheoristen soll aber jetzt schon ermöglichen, die teilweise sicherlich provokanten Thesen zu diskutieren
– Herr Kühl, müssen sich Unternehmen für die Gefühle ihrer Mitarbeiter interessieren?
Stefan Kühl: Aus Sicht der Organisation ist das Gefühlsleben ihrer Mitglieder eine Störung, zumindest wenn es sich deutlich äußert. Wenn ein Untergebener im Gespräch mit seiner Vorgesetzten anfängt zu weinen oder wütend wird, ist das in der direkten Interaktion belastend. Für beide Beteiligten sind solche Situationen peinlich, weil sie gegen Verhaltenserwartungen in der Organisation verstoßen. Das gilt für überschießende positive Gefühle genau so wie für Ärger oder Enttäuschung. Es ist im Interesse der Organisationen, sich davor zu schützen. Wenn sich solche unterkontrollierten Gefühlsausbrüche wiederholen kann das Unternehmen versuchen, sich vom Mitarbeiter zu trennen. Wenn das nicht möglich ist, bilden Organisationen Spezialeinheiten für psychosoziale Betreuung aus. Dort wird versucht, eskalierendes Gefühlsleben zu bearbeiten und zu isolieren. Die Störung wird an Spezialisten für Gefühlsausbrüche verwiesen, um die Funktionsfähigkeit der Organisation zu sichern.
– Ist es nicht zu viel verlangt, alle Emotionen im Interesse der reinen Funktionsfähigkeit zu kontrollieren?
K: Zumindest kann man beobachten, dass in formalen Organisationen ein Management von Gefühlen stattfindet, das viele Gefühlsäußerungen nicht zulässt. Das entlastet die Organisation, sie kann sich bei den Mitarbeitern auf die Aspekte konzentrieren, die für sie funktional sind – zum Beispiel Kompetenz, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit. Damit ist sie für vieles andere nicht zuständig, von Selbstverwirklichungswünschen bis zur Frustration über den Zustand der Ehe. Unter Umständen bemerkt sie es, wenn der Mitarbeiter außerhalb der Arbeit Probleme hat, aber sie bleibt dagegen indifferent, solange es die Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Diese funktionale Trennung kann für den Betreffenden selbst entlastend sein. Es ist hilfreich, in Organisationen nicht in allen Aspekten des persönlichen Lebens angesprochen zu werden, etwa bei Beziehungsproblemen oder psychischen Erkrankungen.
– In den alten, starr hierarchisch gegliederten Organisationen, hat schon der enge Spielraum des Einzelnen dafür gesorgt, dass keine großen Gefühlsäußerungen aufgekommen sind. Muss man in Unternehmen mit flachen Hierarchien und größeren Freiheitsgraden stärker darauf achten, sich selbst zu kontrollieren?
K: Das ist so. Das kann für den Einzelnen durchaus anstrengend und konfliktreich werden. Er muss die Unterscheidung zwischen Privatperson und Mitglied einer Organisation mit bestimmten Verhaltenserwartungen selbst herstellen. Noch komplizierter wird es in Organisationen, die erwarten oder zumindest behaupten, dass der Mitarbeiter sich als ganze Person einbringen kann. Dann ist nicht mehr die Person allein für ihr Gefühlsmanagement zuständig, sondern die Organisation nimmt für sich in Anspruch, die Mitarbeiter in allen Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlszuständen wahrzunehmen. Das ist in vielen Fällen eine Überbeanspruchung sowohl der Organisation als auch der Personen.
– Haben Sie ein Beispiel für solche Überforderungen?
K: In den 1980er Jahren konnte man das beobachten, wenn Mitarbeiter mit Kollegen aus der gleichen Firma in gruppendynamische Trainings geschickt wurden. Die Gruppendynamik verlangt, dass man sich dabei rückhaltlos emotional öffnet. Das ist im beruflichen Umfeld eine hochgradige Anmaßung. Weil solche Trainings bevorzugt bei der Auswahl neuer Führungskräfte eingesetzt wurde, konnte man sich der Teilnahme jedoch schlecht entziehen, wenn man eine Karriere machen wollte.
– Muss man in so einer Situation Theater spielen und bei aller professionellen Selbstkontrolle völlige Offenheit zelebrieren.
K: Das lässt sich in gruppendynamischen Trainings kaum durchhalten. Überspitzt ausgedrückt: Das Erfolgskriterium eines gruppendynamischen Trainings ist die persönliche Öffnung bis hin zum Zusammenbruch: Der Schutzpanzer kollabiert, der Betreffende kommt in anderen Kontakt mit seinen Gefühlen und den anderen Teilnehmern. Das kann in therapeutischen Situationen unbedingt notwendig sein und auch in einer Ausbildung zur Beraterin oder Berater enorm helfen, aber im Kontext der eigenen Organisation ist es eine Grenzverletzung. Wenn Großunternehmen solche Trainings einsetzten, ist das eine Vermischung beruflicher und privater Ebenen, die ich für illegitim halte. Ich vermute, dass sich da Programme in Unternehmen verselbstständigt haben, weil Personaler in ihrer Beraterausbildung diese gruppendynamischen Trainings als so bereichernd empfunden hatten und den Rest der Organisation damit beglücken wollten.
– Haben Sie solche Situationen erlebt?
K: Ich war vor Jahrzehnten einmal als Berater zu einem Training im HR-Bereich bei einem großen Automobilkonzern eingeladen. Der Auftrag sah eigentlich nur einen Vortrag über neue Organisationsformen vor. Die Veranstaltung ging jedoch den ganzen Tag, man musste sich im Kreis aufstellen, singen und klatschen. In eine Runde sollte man sich gegenseitig massieren. Ich kannte einige Übungen und Singspiele aus meiner Arbeit mit geistig behinderten Jugendlichen während meines Zivildienstes. Irgendwann wurde mir das zuviel, ich habe den Ingenieur, der neben mir saß und deutlich angewidert wirkte, gefragt, ob er mir das Werk zeigen kann. Die Pointe war, dass mein Auftraggeber hinterher geschrieben hat, dass sie mein Honorar halbieren müssten, weil ich mich den gruppendynamischen Prozessen entzogen hätte. Bisher die teuerste Betriebsführung meines Lebens, aber sie hat sich gelohnt.
– Wollen nicht auch Mitarbeiter selbst vom Unternehmen als ganzer Mensch gesehen werden, statt nur regelkonform zu funktionieren?
K: Ich war vor einigen Wochen zu einem Ausbildungsworkshop für Psychodynamiker eingeladen. Der Versuch scheint zu sein, Psychoanalyse auf das Feld der Organisationsberatung auszuweiten. Das war interessant, weil da von Teilnehmern recht offensiv eingeklagt wurde, auch in der Organisation als Mensch mit all seinen Gefühlen ernst genommen zu werden. Dahinter liegt nicht selten die eigene Frustration in Großorganisationen, die man in solchen Ausbildungen reflektieren und verarbeiten kann. Absolut nachvollziehbar. Als Antwort auf diese Frustration droht dann jedoch im eigenen Beratungsansatz die Differenz zwischen Privatperson und Organisationsmitglied verwischt zu werden. Die Schutzfunktion, die diese Unterscheidung für die Mitarbeiter hat, wird übersehen.
– Und wenn Emotion zum Beruf gehört, etwa bei Krankenschwestern, Altenpflegern oder Sonderschulpädagogen?
K: Man muss zwischen dem Gefühlsmanagement innerhalb der Organisation und der Gefühlsarbeit im Umgang mit ihren Klienten unterscheiden. Gerade in Krankenhäusern, Jugendhilfeeinrichtungen oder Psychiatrien entstehen zwangsläufig bei den Mitarbeitern teilweise heftige Gefühle. An diesen Grenzstellen der Organisation ist die professionelle Distanz besonders notwendig. Die Unterscheidung zwischen Privatperson und professioneller Rolle wird dabei gerade nicht verwischt, sondern in vielen Einrichtungen systematisch reflektiert und verarbeitet, etwa in der Supervisionen.
– Aber bei allem Gefühlsmanagement lassen sich doch Emotionen nicht komplett unterdrücken. Entwickeln Beschäftigte Strategien, ihren Gefühlen Luft zu machen?
K: Das Leben in der Organisation ist ja nicht immer lustig. Man braucht Ventile für die Frustration, etwa indem man mit Kollegen über den Unsinn lästert, den die Chefin, der Chef einem zumutet. Die Gefühle, die sich in der Formalstruktur aufbauen, werden im Informalen aufgefangen. Weil das im informalen Raum stattfindet, also in der Teeküche und nicht in einer Konferenz, gefährdet das die Formalstruktur nicht, sondern stützt sie unter umständen sogar. Die Informalität dient als Reparaturwerkstatt für die Gefühlsschäden, die die Formalität anrichtet. In der Formalität gilt Gefühlsmanagement, und in der Informalität schaffen sich die Mitarbeiter bestimmte Inseln, wo ihre Gefühle Raum haben. Deshalb ist es auch sinnvoll, das auseinander zu halten. Man weiß als Organisationsmitglied sehr genau, in welchen Situationen es angemessen ist, Gefühle zu zeigen, und in welchen nicht. Das fällt umso leichter, je deutlicher formaler und informaler Rahmen voneinander unterschieden sind.
– Welche Folgen hat es,
wenn diese Unterscheidung aufgeweicht wird?
K: Viele Organisationen haben zunehmend den Anspruch, die Trennung zwischen
Formalität und Informalität aufzuheben. Sie erwarten, dass Mitarbeiter sich als
ganze Person einbringen. Persönliche Bindungen sind nicht mehr Privatsache der
Mitarbeiter, sondern ein Unternehmensziel. Das gab es früher auch: Auch Kumpel
im Bergbau oder Soldaten in Kampftruppen haben starke emotionale Bindungen. Aber
die Formalstruktur arbeitet davon unabhängig. Die Pointe der Organisation ist
ja gerade, dass sie in der Formalstruktur nicht auf persönlichen
Vertrauensverhältnissen angewiesen ist. Das unterscheidet sie von Familien, der
Mafia oder altgermanischen Stämmen. Natürlich bilden sich im informellen
Miteinander trotzdem Vertrauensverhältnisse. In neueren Organisationsmodellen
sollen diese persönlichen Bindungen der Identität und dem Zusammenhalt der
Organisation dienen. Aber im Informellen gedeiht nicht nur Personenvertrauen,
sondern zum Beispiel auch Mobbing. Wenn in einer teilautonomen Arbeitsgruppe
jemand, der nicht genug Leistung bringt, gemobbt wird, ist das für den
Betreffenden heftiger als die Kritik durch eine Chefin. Aber für die
Organisation kann es im Sinne der Leistungssteigerung funktional sein. Wenn in
neueren Organisationsmodellen persönliche Bindungen nicht mehr Privatsache
sind, sondern dem Unternehmensziel dienen sollen, könnte man zugespitzt sagen,
es wird zur Managementaufgabe, dass das Unternehmen auch als Kontaktbörse für Freundschaften
und Partnervermittlung funktioniert.
–
Was ist der Unterschied zu konventionellen Unternehmen, in denen ja auch Paare
zueinander finden.
K: Sicherlich – die eigene Arbeitsstelle ist für Paaranbahnungen ideal
geeignet. Aber in konventionellen Organisationen, die großen Wert auf
Formalität legen, gilt Paarbildung als Problem. Da kollidiert Formalität mit
Informalität. Man wird unter Umständen einen der Partner in eine andere
Abteilung versetzen oder ihm sogar die Kündigung nahelegen. Für gierige
Organisation kann eine vielfältige interne Paarbildung dagegen geradezu ein
Erfolgskriterium sein. Für sie ist der externe Lebensgefährte eines
Organisationsmitglieds potentiell ein Störfaktor. Das ist der Grund dafür, dass
Soldaten sehr lange die Erlaubnis ihrer Vorgesetzten brauchten, wenn sie
heiraten wollten.
– Was sind „gierige Organisationen“?
K: Der Begriff der „gierigen Organisation“ stammt von dem amerikanischen Soziologen Lewis A. Coser. Gierige Organisationen sind darauf ausgerichtet, Personen mit all ihrer Emotionalität und sämtlichen sozialen Bezügen aufzunehmen. Das gilt bei Erziehungsheimen oder der Psychiatrie für die Insassen. Bei Sekten, Guerilla-Verbänden, Jesuiten oder leninistische Kader-Parteien gilt es für alle Beteiligten. In Abstufungen kann man das ähnlich bei Theatern, Investmentbanken oder Werbeagenturen beobachten, die von ihren Mitarbeitern 14-Stunden-Tage und ständige Kreativität erwarten. Von einem Schauspieler wird verlangt, dass er sich als ganze Person mit seinen Gefühlen in die Rollengestaltung einbringt. Die zumindest temporäre Auflösung der Grenzen zwischen Privatperson und Berufsausübung ist Programm.
– Werden Unternehmen und andere Organisationen im Zugriff auf ihre Mitglieder derzeit gieriger?
K: Interessant ist, dass sich traditionell gierige Institutionen wie die Bundeswehr, vielleicht auch klug geführte Werbeagenturen von solchen Praktiken zunehmend distanzieren – vermutlich weil sie sonst als Arbeitgeber nicht mehr attraktiv sind. Viele der Reformen der derzeitigen Verteidigungsministerin zielen genau darauf ab. Ich habe mir vor einiger Zeit einen Bundeswehrstandort angesehen, an dem Soldaten für Spezialkräfte ausgebildet werden. Die Soldaten dürfen an freien Wochenenden nach hause fahren, man achtet nach Möglichkeit auf familienfreundliche Dienstzeiten, in der Kaserne haben sie Einzelzimmer und Internetzugang. Die Organisation signalisiert, dass sie die Privatsphäre respektiert. Umgekehrt entdecken andere Organisationen, dass Gier im Zugriff auf ihre Mitglieder funktional sein kann. Das sieht man nicht nur bei Start-Ups oder in der Kreativwirtschaft. Etwas überspitzt gesagt, propagieren New-Work-Konzepte tendenziell gierige Organisationsvorstellungen. Man will auf alle Ressourcen des Mitarbeiters zugreifen, Kreativität, Eigenverantwortung, Identifikation mit dem Unternehmen. Deshalb besetzen New Work-Konzepte Emotionalität positiv.
–
Wird da Emotion im Interesse des Unternehmens ausgebeutet?
K: Zumindest propagieren bestimmte Management-Moden, die Emotion als Ressource
zu entdecken. Da wird stark mit Ich-Botschaften, persönlicher Betroffenheit und
etwas Esoterik gearbeitet. Das ist die Aufladung der Organisation mit
Emotionalität. Sie wird vom Mitarbeiter regelrecht eingefordert. Sachargumente
genügen nicht, man muss über sich selbst und seine Gefühle sprechen. Das wird
spätestens dann problematisch, wenn die Behauptung, persönlich etwa durch ein
Argument oder eine Tatsachenbeschreibung verletzt worden zu sein, als
Erpressungsinstrument in einer Debatte benutzt wird. Man kann deutlich beobachte,
dass sich diese Vermischung von Sachargument und Gefühl von kirchlichen und
pädagogischen Milieus in Universitäten und auch in der Wirtschaft ausbreitet.
In Unternehmen spielt dabei sicher der ganze New Work-Diskurs eine wichtige
Rolle.
– Inwiefern?
K: Die Diskussion um Purpose Driven
Organizations etwa geht davon aus, dass die Organisation nur machen sollte,
womit sich ihre Angehörigen mit allen Aspekten ihrer Persönlichkeit voll und
ganz identifizieren können. So ein Anspruch perlt auch an den Organisationsmitgliedern
nicht ab. Wenn man im Arbeitsumfeld dauernd die emotionale Identifikation mit
dem Unternehmen demonstrieren soll, wirkt das irgendwann persönlichkeitsdeformierend.
Wenn ein Flugbegleiter den ganzen Tag möglichst authentisch lächelt, hat das
Folgen für sein privates Lächeln, vielleicht auch für sein Gefühlsleben, das
ist eine professionelle
Deformation. Anders als in Krankenhäusern, Altersheimen oder psychiatrischen
Anstalten wird in gierigen Organisationen die Unterscheidung zwischen beruflicher
Rolle und privaten Gefühlen eben nicht systematisch in Supervisionen kritisch
reflektiert. Die ideale New-Work-Organisation war vielleicht die Bhagwan-Sekte.
Da ist es hervorragend gelungen, bei einem hohen Maß an Freiwilligkeit und
Identifikation mit der Organisation den ganzen Menschen mit aller Emotionalität
zu integrieren. Das Musterbeispiel einer gierigen Organisation. Und das bei
hoher Effizienz, wenn die Mitglieder weit über die gesetzlichen Arbeitszeiten
hinaus gearbeitet und dafür auch noch Geld gezahlt haben. Die Entgrenzung
zwischen Person und Organisation war Programm. Das ist nicht weit entfernt von
dem, was sich einige New-Work-Organisationen vorstellen.
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisationssoziologie
an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Senior Consultant der Firma Metaplan
für eine Vielzahl deutscher Unternehmen. Seine Bücher „Wenn die Affen den Zoo
regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien“ und „Das Regenmacher-Phänomen.
Widersprüche der lernenden Organisation“ sind Standardwerke der
Managementliteratur.
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