Steht die aktuelle deutschsprachige Gewaltsoziologie an einem Wendepunkt? Diese Frage stellte sich die Forschungsgruppe ORDEX[i], und lud unter dem Titel „Organisation, Dauer und Eigendynamik von Gewalt“ im Wintersemester 2018/19 zum zweiten Mal zu einer Vortragsreihe nach Bielefeld ein, um dieser Frage in einem besonderen Veranstaltungsformat nachzugehen. Anlass dazu bot die Beobachtung, dass sich gegenwärtig neben dem vorherrschenden Trend mikrosoziologischer Arbeiten zunehmend neuere Ansätze etablieren, die neben oder auch zusätzlich zu einer rein mikrosoziologischen Perspektive auf Gewalt organisationssoziologische, prozesssoziologische oder auch gesellschaftstheoretische Argumente entwickeln[ii]. Wenngleich vermehrt innovative theoretische und methodische Zugänge gewählt werden, ist bisher kaum eine Diskussion über die Unterschiede dieser Zugänge entstanden. Ziel der vierzehntägig stattfindenden Vortragsreihe war es, diese aktuellen Perspektiven der Gewaltforschung zusammenzuführen und die teils zersplitterte Forschungslandschaft miteinander ins Gespräch zu bringen.Um statusgruppenübergreifende Diskussionen zu ermöglichen, wurden neben Professor*innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen auch Studierende eingeladen, die Ergebnisse ihrer Forschungen vorstellten und diskutierten. Dabei wurden die Vorträge in diesem Semester jeweils von einem Kommentar begleitet, der anknüpfende oder auch kritische Perspektiven zur Diskussion stellte.
KONSTANTIN KORDGES (Bielefeld) eröffnet die Vortragsreihe mit seiner Studie zu variierender und andauernder Gewalt, in der er die Terroranschläge in Mumbai 2008 und Paris im November 2015 miteinander vergleicht. Ausgangspunkt des Vortrags ist die Beobachtung, dass die Gewalt in beiden Fällen ungewöhnlich lang andauert, innerhalb der mikrosoziologischen Debatte Gewaltanwendungen allerdings als kurz beschrieben werden. Kordges adressiert somit ein theoretisches Problem der mikrosoziologischen Gewaltforschung, die sich bisher damit schwer tut, langanhaltende Gewaltereignisse zu erklären. Ebenso auffällig erscheine aus einer phänomenologischen Perspektive, wie die Formen der Gewaltanwendung variieren. Die Gewaltanwendungen zeichnen sich in beiden Fällen neben der Nutzung sehr unterschiedlicher Waffen durch eine Variation von Drive-by-Shootings auf einzelne Personen(-gruppen), Angriffen mit Sprengstoff sowie Massenerschießungen aus. Kordges schließt eine mikrosoziologische Analyse der Anschlagsserien an, in der er die von Randall Collins vorgeschlagenen interaktiven Techniken, mithilfe derer die Täter Konfrontationsanspannung und -angst[iii] überwinden herausarbeitet. In Anlehnung an Collins’ Pathways [iv] seien Techniken der Täuschung von Opfern, Angriffe aus räumlicher Distanz und Angriffe auf Schwache zu beobachten, die eine Überwindung der Konfrontationsangst und -anspannung ermöglichen. Als Ergebnis der vergleichenden mikrosoziologischen Analyse der Anschlagsserien stellt Kordges fest, dass eine zeitsensible Analyse von Gewaltanwendung nicht allein auf der Mikroebene der Konfrontationssituationen zu leisten sei. Es müssten Konzepte hinzugezogen werden, die eine Analyse der kontextuellen Einbettung der Konfrontationssituationen – insbesondere die im Vorhinein stattfinden Vorbereitungen – in den Blick nehmen können. Weiterhin müsste die interaktive Verkettung der verschiedenen Konfrontationssituationen Teil der Analyse sein. Er schlägt vor, das Collins’sche Konzept der Gewalttunnel[v] sowie das Konzept der Hinterbühne von Erving Goffman[vi] auf die Dauer der Anschläge und die damit verbundene Gewaltkompetenz der Angreifer zu beziehen. Die Hinterbühne ermögliche es Tätern, emotionale Energie anzusammeln, die wiederum auf der Vorderbühne die Gewaltkompetenz der Täter steigere. Eine Verkettung von Situationen, in denen Täter immer wieder auf eine Form der Hinterbühne zugreifen können, würde, so Kordges, ermöglichen, dass immer wieder aufs Neue Situationen entstehen, in denen es den Angreifern möglich ist, Gewalt auszuüben. Kordges sieht es dafür als notwendig an, das Konzept der Hinterbühne dahingehend zu konkretisieren, eine analytische Beschreibung von Hinterbühnen an die Bedingungen der „Sphäre der Privatheit“ sowie Ortsgebundenheit zubinden.
ANDREAS BRAUN (Bielefeld) fasst in seinem Kommentar zunächst die drei ihm zentral erscheinenden Punkte des Vortrags für die analytische Beschreibung beider Anschläge zusammen: (1) die Taten seien operativ jenseits von „klassischen“ Selbstmordattentaten zu verorten; (2) die vorgeschlagene Perspektive sei gewinnbringend für die Terrorismusforschung, da hier Gewaltsituationen analytisch vernachlässigt würden; und (3) um die Anwendung und Aufrechterhaltung der Gewalt in beiden Fällen zu erklären, würde die Theorie von Collins sinnvoll einbezogen. In Bezug auf die Hinterbühne stellt Braun heraus, dass Collins gerade die analytische Tragweite des Konzepts der Hinterbühne in der Situation vernachlässige. Ungeklärt bliebe daher, wie die Situation oder die Gewaltanwendung mit der Umgehung von Konfrontationsanspannung und der Aufrechterhaltung von emotionaler Energie verbunden seien. Braun schlägt vor, die Hinterbühne auf Pausen zwischen Phasen der Gewaltanwendung zu beziehen und sich des Konzepts der Hinterbühne dann zu bedienen, wenn situativ eine deutliche Abgrenzung nach Außen vorläge. Wenn dies nicht der Fall sei, so Braun, darüber nachzudenken, ob es sich um ein situativ begründetes Machtritual handele und regt an, zu klären, wie eine Gewaltsituation theoretisch zu rahmen sei.
Unter dem Titel „Auf- und Abbau emotionaler Energie auf der verborgenen Hinterbühne“ knüpft KATHRIN WAGNER (Osnabrück) ebenfalls an die theoretischen Arbeiten von Collins an und kritisiert sein Konzept der emotionalen Energie auf Basis einer Fallstudie des Attentats von Anders Breivik im Jahr 2011. Collins, so Wagner, beschreibe die Vorbereitungen auf Amokläufe[vii] mit der Goffman’schen Metaphorik der Hinterbühne, auf der Täter*innen durch ihr Planen, Vorbereiten und Geheimhalten emotionale Energie ansammelten. Auf der Hinterbühne würden Täter*innen sich von den Interaktionen auf der Vorderbühne erholen, sie dort aber auch vorbereiten. Die so erzeugte emotionale Energie könne dann vor und während der Tat auf die Vorderbühne transferiert werden, was den Täter*innen ermögliche, Gewalt anzuwenden. So weit folgt Wagner den Argumenten von Collins, fügt aber ergänzend hinzu, dass während der Planung und Vorbereitung nicht nur emotionale Energie aufgebaut, sondern durch Misserfolge und Zweifel auch immer wieder abgebaut würde, und sich im empirischen Material ein stetiger Wechsel dieser beiden Phasen beobachten ließe. Sie stellt bspw. fest, dass Breivik das Herstellen von Bomben teilweise misslang und entwickelt die These, dass diese Ereignisse eine negative Wirkung auf die emotionale Energie haben. Diese negative Wirkung müsse ausgeglichen werden, damit potenzielle Täter*innen ihre Planungen fortsetzten und letztendlich auch in gewalttätige Taten umsetzen könnten. Als Beispiel für solche Ausgleichshandlungen nennt Wagner Rituale, ideologische Selbsterhöhung und Belohnungen (z.B. gutes Essen und Fernsehen im Falle Breiviks).
Für VINCENZ LEUSCHNER stellen sich im Anschluss an Wagners Vortrag drei forschungspraktische Fragen: (1) Inwiefern widersprechen die untersuchten Fälle den theoretischen Annahmen von Collins; (2) wieso erfassen die Konzepte von Collins bestimmte Befunde nicht oder nur holzschnittartig und (3) wie könnten theoretische Alternativen aussehen? Der Befund, dass Misserfolge auf der Hinterbühne Täter*innen depressiv und handlungsunfähig machen könnten, löse Collins, indem die Täter*innen als äquivalent zu erfolgreichen Interaktionen auf der Vorderbühne Geheimhaltung und gleichzeitig „Leaking“ betreiben würden. Durch versteckte Andeutungen und Ankündigungen würden Spannungen und Erregungen entstehen, die auch als positive emotionale Energie zu verstehen seien. Gleichzeitig sei aber auch das Ausmaß an Obsession und Motivation der Täter*innen entscheidend. So seien potenzielle Täter*innen, die nicht zur Tat schreiten, ein blinder Fleck der Forschung. Weiterhin kritisiert Leuschner Collins Erklärungen von Gewalt, welche einerseits Gewalt nur aus den Situationen und ihren Eigendynamiken erklären wolle, gleichzeitig aber Amokläufer*innen als intentionale Akteure beschreibe. Er skizziert Collins Konzept der emotionalen Energien als „Währung aus vergangenen Situationen“ die darüber entscheide, ob Gewaltsituationen in der Zukunft gelingen. Ein Verständnis von Emotionen, welches nur positive und negative Ausschläge kenne, sei stark vereinfacht. Leuschner schlägt daher vor, die Intentionen der Akteure miteinzubeziehen und Emotionen so zu konzeptualisieren, dass diese anzeigen, dass es zwischen den Intentionen der Akteure und den vorgefundenen Situationen große Diskrepanzen gäbe. So könne, bei der Vermeidung eines Steigerungskonzeptes (welches wiederum nur positive und negative emotionale Energie kenne) an der Bedeutung der emotionalen Dynamik in Gewaltsituationen festgehalten werden.
ALEX STERN (Bielefeld) wählt im dritten Vortrag der Reihe ebenfalls eine interaktionstheoretische Perspektive auf Gewalt, ergänzt diese aber mit Überlegungen, die auf die Spezifika von Gruppenstrukturen eingehen. Unter dem Titel „The Order Says. Intragruppale Strategien der Aufrechterhaltung von Gruppenstrukturen in gewalttätigen Kulten“ untersucht Stern die Rolle von Kindern in rituellen Kulten. Dabei stellt Stern seiner Analyse zunächst einen Definitionsvorschlag zum Begriff der rituellen Gewalt voran, der drei Kriterien umfasst: (1) Gewalthandlungen seien dann als rituelle Gewalt zu verstehen, wenn sie durch einen Transzendenzbezug gerechtfertigt und begründet seien, (2) sie von einer Gruppe von mindestens drei Personen ausgeübt würden, die über die Gewaltausübung hinaus Bestand habe, und (3) die ausübende Gruppe klandestin organisiert sei. Mit Hilfe der Interaktionstheorie von Erving Goffman[viii] beschreibt Stern Strategien zur Erhaltung von Gruppenstrukturen in gewalttätigen, geheimen Kulten. Der Kern dieser Prozesse läge in der Herstellung von Täter*innenensembles, die sich gegenüber der innerhalb des Kultes lebenden Kinder verbergen würden. Durch perfide Kontroll- und Machtausübungen werde permanent die Hinterbühne der Kinder kontrolliert, indem beispielsweise Vertrauen zu den Kindern und Denunziantentum gefördert würde. Die Ideologie der Kulte diene dabei als legitimatorische Grundlage. Stern führt in seinem Vortrag mehrere Strategien aus, die sicherstellen sollen, dass durch verborgene Handlungen und gewaltvolle Machtrituale die Täter*innen Kontrolle über die Kinder erlangen und Folgsamkeit von diesen erzwingen. Mit Rückgriff auf die analysierten Mechanismen in gewalttätigen geheimen Kulten beschreibt Stern abschließend Gewaltkulte als Totale Institutionen[ix] (im Sinne Goffmans). Es lassen sich in den örtlich festgelegten Routinen von Gewaltkulten, den gleichen Rahmenbedingungen für alle Gruppenmitglieder, der exakten Planung von Tagesabläufen sowie in der Verbindung von Tätigkeiten mit dem von der Ideologie geprägten rationalen Plan Gemeinsamkeiten mit dem goffman´schen Konzept erkennen. Merkmale wie die räumliche Trennung der Mitglieder durch ihre Einbindung in die Außenwelt wichen jedoch von diesem Konzept ab. Daher schlägt Stern ergänzend vor, von unsichtbaren Totalen Institutionen zu sprechen, dessen Mitglieder sich ortsunabhängig in der Außenwelt „bewegen“.
THOMAS HOEBEL (Hamburg) geht in seinem Kommentar auf den Punkt der instruktiven Verschränkung organisationssoziologischer und gewaltsoziologischer Fragestellungen in Sterns Forschungen ein, in dessen Kern das Problem der organisierten Verheimlichung von ritueller Gewalt stehe. Zusätzlich formuliert er noch eine weitere soziologische Problemstellung: Rituelle Gewalt sei nicht allein das als schützenswert erachtete Geheimnis der Gruppe, sondern wäre zugleich elementarer Bestanteil der Verheimlichung. Gewalt müsse demnach nicht nur selbst verheimlicht werden, sondern würde auch genutzt, um Abhängigkeiten zwischen Opfern und Tätern herzustellen sowie Schamgefühle zu reproduzieren, die den gewaltsamen Kult als solchen verheimlichten.
Hinsichtlich der Feststellung, dass rituelle Gewalt als zentrales Element von nicht-physischen Trennmechanismen zu einem Fortbestehen gewalttätiger Kulte beitrage, schließt Hoebel zwei konzeptionelle Perspektiven an: Der Fall bringe analytisches Potential mit, da gegenüber allen Mitglieder ein totaler Anspruch auf ihre Person bestehe, der gegenüber Dritten verborgen werden müsse (1). Zudem sei das zu Beginn vorgestellte definitorische Konzept ritueller Gewalt, ausgehend von dem Gedanken, dass rituelle Gewalt im soziologischen Sinn sowohl beziehungsgestaltende als auch beziehungsregulierende Qualität habe, als sensibilisierend zu verstehen (2). Dazu regt Hoebel an, die Unterscheidung „Heimlichkeit“ und „Verheimlichung“ analytisch fruchtbar zu machen.
Im Gegensatz zu den vorherigen Vorträgen stellt TOBIAS HAUFFE (Bayreuth) die Frage voran, was überhaupt der Fall sei, der untersucht werden soll. In seinem aktuellen Forschungsprojekt beschäftigt sich Hauffe mit Gewaltvorkommnissen, die im öffentlichen Raum stattfinden und berichtete zum Thema Straßengewalt. Dabei fokussiere er sich auf den Zusammenhang von körperlicher Gewalt und sozialer Ordnung. Es sei unter anderem zu beobachten, dass in einigen Fällen „stampfende“ Tritte gegen den Kopf der Opfer ausgeübt werden und alle ausgewählten Fälle ein Momentum der Unerklärbarkeit gemeinsam hätten. Besonders eindrücklich erscheine ein Fall, in dem ein 29-jähriger Mann einen Freund angreift und mehrfach auf dessen Kopf eintritt. Täter*innen und Opfer könnten sich ebenso wie die mit dem Fall betrauten Polizist*innen die Tat aufgrund fehlender Vorzeichen und Motive nicht erklären. Die vermeintliche Grund- oder Anlasslosigkeit von extremen Gewalthandlungen von Personen, zwischen denen keine Vorbeziehung (oder umgekehrt, wie im geschilderten Fall, sogar eine Freundschaft) bestehe, erzeuge ein enormes öffentliches Interesse. Gewalt als Selbstzweck, wie sie von Reemtsma[x] als „autotelische“ Gewalt beschrieben werde, sei uns fremd und unerklärlich. Grundlose Gewalt sei im Vergleich zu anderen Gewaltvorkommnissen durch fehlende Sinngebung und nicht vorhandene Deutungsmustern normativ noch „schlimmer“, da sie die Betroffenen und Beobachter ratlos zurücklasse. Als weitere Unterscheidung zur autotelischen Gewalt sieht Hauffe das fehlende Interesse der Täter*innen am Körper der Opfer. Hauffe beschreibt ein „vandalistisches“ Element in seinen Fällen, da der Gewalttat fast immer Sachbeschädigungen (bspw. die Beschädigung eines Autos) zeitlich vorrausgehen würden. Die stampfenden Tritte gegen den Kopf des Opfers hätten ebenfalls etwas „vandalistisches“, da sie dem Opfer jegliche Individualität absprechen würden. Gerade die Bezugslosigkeit, Gleichgültigkeit, Beiläufigkeit sowie das Vandalistische der Gewalttaten selbst sorge für „die Leere im Zentrum der Tat“, die mit unbefriedigenden Erklärungen und Ratlosigkeit gefüllt würde. Die vermeintliche Zufälligkeit von Täter*innen und Opfern sowie die vermeintliche Grund- und Anlasslosigkeit würden in den Deutungsversuchen so interpretiert, dass jede Person selbst Opfer werden könne.
TOBIAS WERRON (Bielefeld) unterstreicht in seinem Kommentar die gesellschaftliche Deutung und Sinngebung von Gewaltereignissen als wichtigen Teil der Gewaltsoziologie. Im Vergleich zu anderen Gewalttaten sieht er neben beispielsweise kriegerischer, häuslicher oder autotelischer Gewalt auch den Typus der unerklärlichen Gewalt. Ein wichtiger Punkt, der intensiver betrachtet werden solle, sei der der Zufälligkeit eines solchen Gewaltvorkommnisses. Daher schlägt Werron vor, das Phänomen der unerklärlichen Gewalt systematisch mit anderen Zufallsphänomenen wie beispielsweise Kreativität oder Naturkatastrophen zu vergleichen. Er stellt die These auf, dass in der Moderne Rätselhaftigkeit bzw. Nichterklärbarkeit nur noch selten vorkomme und rätselhafte Gewalt sogar deshalb als die schlimmste Form von Gewalt empfunden werden könne.
Im Vortrag von TERESA KOLOMA BECK (München) steht die Erforschung des Alltags in einem gewaltgeprägten Raum bzw. Kriegsgebiet im Zentrum. Dabei spürt die Vortragende der Frage nach, wie bewaffnete Konflikte soziale Räume strukturieren und Lebenswelten prägen. Koloma Beck berichtet aus ihrer ethnografischen Forschung in Kabul und fokussiert sich auf eine Perspektive, die nach der Organisation von Alltag in bewaffneten Konflikten und Topologien von Sicherheit, die den Alltag dort strukturieren, fragt. Ausgehend von der Annahme, dass Lebensstile sich an der Vermeidung von Bedrohung ausrichten und sich an Sicherheiten orientieren, sei Gewalt in bewaffneten Konflikten nicht primär ein politisches Problem für alle Akteure, sondern ein handlungspraktisches. So könne gefragt werden, wie sich präreflexive Strukturen um die Gewalt herum bilden. Sicherheit sei die zentrale topologische Struktur und kein Gefühl: „Niemand redete von Gewalt, aber alle redeten von Sicherheit“, berichtet Koloma Beck. Ausgangspunkt ist die These, dass Räume der Sicherheit anhand von sozialen Praktiken produziert würden und sich in einem Spannungsfeld zu baulichen Strukturen bewegen. Solche Praktiken ließen sich in besonderen Verfahrens- und Organisationspraktiken, die an die bauliche Struktur anschließen, sowie Alltagshandlungen, die Zugehörigkeit anzeigen, erkennen. Auf diese Weise entstehe eine Anordnung von Inseln der Sicherheit in Kriegsgebieten (von der Vortragenden auch als Archipelisierung bezeichnet). Bewegung zwischen diesen Inseln würde immer als gefährlich wahrgenommen und die Herstellung von Sicherheit werde so zu einer zentralen Logik des Alltags in Kriegsgebieten. Das alltägliche Leben in Kriegsgebieten sei daher von einer ständigen Evaluation von Gefahrenlagen begleitet und jegliche Lebens- und Subjektivitätsformen seien nach Abwehr von Gefahr ausgerichtet. Im Fazit wendet sich Koloma Beck hin zu dem Begriff des Gewaltraums, der von dem Historiker Jörg Babarowski[xi] etabliert wurde, und übt zugleich Kritik an diesem aus. Denn bewaffnete Kriegsgebiete seien aus einer ethnografischen Perspektive kein Raum, in dem Gewalt freigesetzt würde, sondern ein Raum, in dem jeder seine Sicherheit selbst herstellen müsse. Demnach löse sich der Begriff des Gewaltraums, so wie ihn Babarowski als Ort außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols beschreibt, auf.
In seinem anschließenden Kommentar bestärkt KLAUS WEINHAUER (Bielefeld) die Fruchtbarkeit der Interdisziplinarität innerhalb der Gewaltforschung, die weiter ausgebaut werden solle. Perspektivisch sei es wichtig, einen Transfer in nicht-deutschsprachige Regionen zu ermöglichen sowie vernachlässigte Gebiete der Gewaltforschung wieder näher in den Fokus zu rücken – bspw. die Familie als soziales System oder Gewalt am Arbeitsplatz. Weinhauer verweist ebenso darauf, dass die innerdeutsche Debatte in der Gewaltforschung nun durch Fallstudien vorangebracht werden müsse, um zu prüfen, welche Erkenntnisse in Bezug auf das durch die bisherige Debatte neu geschaffene Reflexionsniveau entstünden.
KATHARINA BRAUNSMANN und FELICITAS WAGNER (beide Bielefeld) widmen sich in ihrem Vortrag der methodischen Frage nach der Entwicklung eines Notationssystems für die Gattung von spontan-authentischen Liveaufnahmen. Da mikrosoziologische Gewaltforschung sich dafür interessiere, Gewaltgeschehnisse „ultra detailliert“ nachzuzeichnen, seien Liveaufnahmen von einem gewaltgeprägten Geschehen zentral für eine Rekonstruktion. Der Zugang zum Forschungsgegenstand sei jedoch durch limitierte Beobachtungzugänge schwierig. Neue Möglichkeiten täten sich durch den technologischen Wandel und die dadurch immer bessere Verfügbarkeit von Videoaufnahmen auf, die die Forschung zugleich aber auch vor neue methodische Herausforderungen stelle. Eine davon betreffe die Analyse und die dafür notwendige Notation von Videomaterial. Bereits existierende Notationssysteme seien oftmals auf das (vorgeskriptete) Format von Filmen und Fernsehshows ausgelegt. Für die Verschriftlichung sowie Analyse von spontan-authentischen Liveaufnahmen seien diese Notationsysteme unzureichend, da es sich hier um amateurhafte, mit örtlichen Begebenheiten (z.B. Licht, Ton) arbeitende Aufnahmen handelt, die in der Regel verwackelt, ausschnitthaft und unbearbeitet sind.
Mit SPLINOS (spontan-authentische Liveaufnahmen Notationssystem) haben Braunsmann und Wagner ein eigenes Notationssystem entwickelt, das auf dem Notationssystem von Reichertz und Englert[xii] aufbaut. Ein besonderer Fokus in der Notation sei auf die Handlungen vor der Kamera zu legen und nicht auf Handlungen der Kamera selbst. Zudem zeichne die Gleichzeitigkeit von Einzelkomponenten den Typus im besonderen Maße aus, welche sich besser in Sequenzen beschreiben ließen, als in einer Sekunde-für-Sekunde Notation. Weiterhin würde die Kamera als Standort im Geschehen und die auditiven Inhalte des Videos eine bedeutende Rolle spielen. In ihrem Ausblick formulieren Braunsmann und Wagner zwei Richtungen für die qualitative Sozialforschung bzw. Mediensoziologie, in denen das Notationssystems breite Anwendung finden könnte. Es ginge einerseits darum, Muster, Regelmäßigkeiten, Anwendungsformen und Konventionen des Materialtypus herauszuarbeiten, und andererseits darum, Einzelkomponenten besser einzufangen als in einer sequenziell ablaufenden Notation.
Wie gewinnbringend spontan-authentische Liveaufnahmen für die Gewaltforschung sein können, sei also untrennbar mit Gütekriterien des vorhandenen Materials verbunden. Hier setzt der Kommentar von ANNE NASSAUER (Berlin) an. Die Prüfung der Authentizität von Videodaten stelle Forschende in der Praxis genauso vor Herausforderungen wie die Auswahl des Materials. Gerade bei der Analyse von Großereignissen finde sich eine fast unüberschaubare Menge an potenziellem Datenmaterial, sodass die Selektivität und der Ursprung der in der Forschung verwendeten Videos laufend reflektiert werden müsse. Auf Grund der relativen Neuheit des Datenmaterials würde die Frage nach dem besten Umgang mit Videos weiter zu methodologischen Diskussionen führen. Der Nutzen von Videodaten in der Forschung, insbesondere der Gewaltsoziologie, stehe allerdings außer Frage. So seien wichtige Impulse für die Gewaltsoziologie wie bspw. die Beiträge von Randall Collins erst durch die zunehmende Verfügbarkeit von Videoaufzeichnungen ermöglicht worden.
Beendet wird die Vortragsreihe mit dem Vortrag zum Thema „Gewalt gegen Männer. Sexualisierte Gewaltwiderfahrnisse durch Frauen“ von NIKOLAS STUMVOLL (Aachen). Stumvoll fragt danach, welche Formen sexualisierter Gewalt Frauen nutzen, um die sexuelle Selbstbestimmung bzw. Integrität von Männern zu verletzen, und stellt die Ergebnisse seiner mikrosoziologischen und ethnomethodologischen Forschung vor. Stumvoll verwendet eine Form der dichten Beschreibung, um unterschiedliche Fälle sexualisierter Gewalt an Männern zu analysieren. Gewalt sei in ein weites Verständnis eingebettet, das sich nicht auf die physische Verletzung des Körpers beschränke. Er bezog sich, angelehnt an Klara Hagemann-White[xiii], auf die Verletzung von körperlicher oder seelischer Integrität. Sexualisierte Gewalt sei durch einseitig aufgezwungene körperbezogene Interaktionsformen, denen ritualisierte Praktiken als sexualisierte Rahmungen zu Grunde lägen, gekennzeichnet. Auch seien Geschlechterrollen und die damit zugeschriebene Verletzungsoffenheit (im Sinne Popitz[xiv]) in der Rahmung von sexualisierter Gewalt an Männern relevant. Auf Basis von unterschiedlichen Fallbeispielen stellt Stumvoll abschließend drei Formen von sexualisierter Gewalt an Männern vor, die auch in Sequenzabfolgen einer Tat auftreten: Es finde eine Überwältigung (1) statt, bei der Widerstände des Opfers durch überraschende Angriffe und situative Schwäche der Opfers überwunden würden. Schlaf- und Rauschzustände (2) von Opfern würden ausgenutzt und Täterinnen könnten Gewalt ausüben, indem weder ein Ablehnen noch ein Einwilligen in die Handlung möglich sei. Erzwungener Konsens (3) träte dann als Form auf, wenn das Opfer durch Drohungen und/oder den Einsatz von Waffen gezwungen würde, Widerstand aufzugeben und zu kooperieren. Stumvoll gibt abschließend zu bedenken, dass sich die gefundenen Formen auch auf andere Varianten sexualisierter Gewalt beziehen ließen. Im Hinblick auf sexualisierter Gewalt an Männern und auf die Frage „Was ist der Fall?“ sei in der soziologischen Forschung noch viel Nachholbedarf.
In ihrem Kommentar betont LAURA WOLTERS (Hamburg) zunächst, dass die dichte empirische Herangehensweise Stumvolls neue Perspektiven für Untersuchungen zu sexueller Gewalt hervorbringe. Mit Blick auf Stumvolls Studien entdecke Wolters, dass alle Täter*innen ihre übliche Sexualität imitieren, körperliche Anzeichen von Lust erzwungen werden (libidinöse Gewalt nach Gaby Zipfel[xv]) und die Generalisierung von Nacktheit durch das Ausziehen der Opfer situative Verletzlichkeit herstelle. Gleichzeitig kritisiert Wolters, dass in der Studie nicht deutlich werde, ob die dichten Beschreibungen eine Konstruktion von Vergewaltigungssituationen oder eine möglichst faktennahe Beschreibung der Realität seien. Wolters bewertet die Verwendung der Begriffe Verletzungsoffenheit und Verletzungsmacht von Popitz als schwierig, da diese als anthropologische Konstanten gedacht seien und Popitz herausstelle, dass eine vorsoziale Offenheit für die Verletzlichkeit jedes Körpers grundlegend sei. In dieser Perspektive wäre die These, dass Frauen verletzungsoffener seien als Männer, gerade nicht gemeint, jedoch, und das betont Wolters sehr deutlich, sei die Funktionalität der Gendernarrative empirisch evident. Daher sei es wichtig zu verdeutlichen, dass nicht von ontologischen Fakten und anthropologischen Konstanten gesprochen würde. Es erscheine sinnvoller, in Bezug zu dieser Form von Geschlechternarrativen nicht den Begriff der Penetration zu verwenden, sondern von Circlusion im Sinne Bini Adamczaks[xvi] zu sprechen. Es gehe darum, den Gedanken des „Überstülpen“ oder „Umschließen“ mit in die Beschreibung von sexueller Gewalt einzubeziehen, der der Frau einen aktiven Part zuschreibe.
Zudem richtet Wolters Kritik an Stumvolls Verwendung des Quellenmaterials und die zu Grunde gelegte Handlungstheorie. Die nachträgliche Rationalisierung bzw. Narration von Gewalt, die sich im Quellenmaterial zeige, müsse in die Beschreibung reflektierend miteinbezogen werden, da Sinnzuschreibungen stattfänden und kein „ungefilterter Bewusstseinsstrom aus der Situation“ selbst zugänglich sei. Durch die oben angesprochene Unklarheit bestünde hier die Gefahr, ein Handlungskonzept wie das von Rational Choice Theorien zu übernehmen. Beide Unklarheiten – und mit diesem Hinweis beendet Wolters ihren Kommentar – entsprängen der Widersprüchlichkeit in der Theoriegrundlage Stumvolls, die sich zwischen dem Konstruktivismus und dem Theoriegebäude Collins, welches vor allem positivistisch und antiinterpretativ angelegt sei, entscheiden müsse.
Insgesamt bewegte sich die Vortragsreihe „Organisation, Dauer und Eigendynamik von Gewalt“ in einem sehr breiten Rahmen der Gewaltsoziologie. Kennzeichnend für die Diskussionen war vor allem die empirische Tragweite aller Vorträge. Allen Vorträgen lagen empirische Besonderheiten, Probleme oder Erkenntnisse zu Grunde, die zur Diskussion gestellt wurden. Dabei spielten interaktionstheoretische Konzepte eine zentrale Rolle, die bei der Analyse und Beschreibung unterschiedliche Gewaltphänomene als theoretischer Unterbau eingebracht wurden. Es kristallisierten sich Fragen über methodische Herangehensweisen und Zugriffe auf Gewalt heraus: Wie kann auf bestimmte Gewaltereignisse und/oder Formen von Gewalt zugegriffen werden? Und wie können gewonnene Daten in ihrer Güte bewertet werden?
Ein Punkt, der innerhalb der Vorträge sowie in den anschließenden Diskussionen weitgehend unangesprochen blieb, ist der des Gewaltbegriffs selbst. In den meisten Vorträgen wurde ein geteiltes Verständnis des (phänomenologischen) Gewaltbegriffs implizit vorausgesetzt, sodass die Infragestellung dessen offenblieb. Dies kann symptomatisch für die aktuelle Gewaltforschung insgesamt verstanden werden, die sich überwiegend auf physische Gewalt fokussiert hat. Weiterhin verblieben die Analysen der Vortragenden auf der Ebene eines Täter*innen-Opfer-Schemas. Eine Betrachtung der triadischen Konstellation (Täter*innen-Opfer-dritte Anwesende bzw. Beobachter) oder gar eine Infragestellung der Täter*innen-Opfer-Dichotomie blieb weitestgehend aus.
Mit Rückblick auf das Ziel der Vortragsreihe, aktuelle Perspektiven der Gewaltforschung zusammenzuführen und die Forschungslandschaft auch statusgruppenübergreifend miteinander ins Gespräch zu bringen, erscheint insbesondere die statusübergreifende Zusammensetzung der Beteiligten gewinnbringend. Im Anschluss an die Vorträge wurden meist lebhafte Diskussionen geführt, die dazu inspirierten, nicht nur grundlegende und altbekannte Debatten der Gewaltforschung weiterzuführen, sondern auch über neue Wege der Erforschung von Gewalt nachzudenken. Die offen gebliebenen Fragen wie beispielsweise die immer noch geführte Kontroverse über die begriffliche Konzeption von Gewalt oder die Rolle der Gewalterleidenden haben die Veranstalter zum Anlass genommen, die Vortragreihe auch im Sommersemester 2019 weiterzuführen. So werden ab dem 10. April 2019 sechs weitere Vorträge an der Universität Bielefeld stattfinden, die ebenfalls aktuelle Fragen der Gewaltforschung zum Thema machen. Aktuelle Informationen finden sich unter: www.ordex-forschungsgruppe.de.
[i] Weitere Informationen zur Forschungsgruppe ORDEX und Videomitschnitte der Vorträge auch vom Sommersemester 2018 finden Sie unter www.ordex-forschungsgruppe.de.
[ii] Hierzu unter anderem: Knöbl, W., 2017: Perspektiven der Gewaltforschung. Mittelweg 36 (26): 4-27 / Hauffe, T. & T. Hoebel, 2017: Dynamiken soziologischer Gewaltforschung. Soziologische Revue 40: 369-384 / Hoebel, T. & S. Malthaner, 2019: Über dem Zenit. Grenzen und Perspektiven der situationistischen Gewaltforschung. Mittelweg 36 (28): 3-14.
[iii] Siehe dazu Collins, R., 2011: Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie. Hamburg: Hamburger Edition.
[iv] Hierzu weiterführend Collins, R., 2009: Micro and Macro Causes of Violence. International Journal of Conflict and Violence: 9-22 / Collins, R., 2009: The Micro-sociology of Violence. The British Journal of Sociology: 566–576.
[v] Siehe dazu Collins, R., 2016: Einfahrten und Ausfahrten des Tunnels der Gewalt. Mikro-soziologische Dynamiken der emotionalen Verstrickung in gewaltsame Interaktion, in: Equit, C., A. Groenemeyer und H. Schmidt (Hg.): Situationen der Gewalt. Weinheim, Basel: Beltz Juventa: 14-39.
[vi] Siehe dazu Goffman, E., 2013: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Malik.
[vii] Siehe dazu Collins, R., 2013: Zur Mikrosoziologie von Massentötungen bei Amokläufen. Berliner Journal für Soziologie: 7-25.
[viii] Siehe dazu Goffman, E., 2013: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[ix] Siehe dazu Goffman, E., 1973: Über die Merkmale totaler Institutionen, in: (ders.) Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 13-123
[x] Siehe dazu Reemtsma, J. P., 2008: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition.
[xi] Siehe dazu Baberowski, J., 2015: Räume der Gewalt. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
[xii] Siehe dazu Reichertz, J., & Englert, C. J., 2011: Einführung in die qualitative Videoanalyse. Eine hermeneutisch-wissensoziologische Fallanalyse. Wiesbaden: Springer VS.
[xiii] Siehe dazu Hagemann-White, C., Lang, H., Lübbert, J., & Rennefeld, B., 1992: Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis. Bestandsanalyse und Perspektiven. Pfaffenweiler: Centaurus.
[xiv] Popitz, H., 1986: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. Tübingen: Mohr.
[xv] Dazu mehr Zipfel, G., 2012: „Lass uns ein bisschen Spaß haben“. Zum Verhältnis von Gender, Gewalt und Sexualität in kriegerischen Konflikten, in: Literaturkritik.de. 14 (1): S. 32-47.
[xvi] Adamczak, B., 2017: Beziehungsweise Revolution. Berlin: Suhrkamp.
(Bild: Ella_87)
Bitte nicht solche unendlich langen „Die hat das gesagt und der hat das gesagt“-Veranstaltungsberichte auf diesem Blog. Das machen alle anderen Sozblogs schon ad nauseam.