Über die nützliche Filterwirkung internetbasierter Interaktionen. Zum Unterschied von Interaktion unter Anwesenden und unter Abwesenden

Die Ersetzung der Präsenzlehre durch Fernunterricht aufgrund der Corona-Pandemie hat unter Lehrenden zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen geführt. Für die einen stellt die kurzfristige Umstellung auf die Fernlehre eine Zumutung dar, weil weder die technischen noch didaktischen Voraussetzungen dafür beständen. Einzige Konsequenz könne, so die Schlussfolgerung, die staatliche Verordnung eines „Nichtsemesters“ sein, in dem Dozenten und Studierende vom Druck des Lehrens und Lernens befreit werden.[1] Andere sehen im erzwungenen Ausfallen der Präsenzlehren die Möglichkeit, der webbasierten Lehre einen entscheidenden Schub zu versetzten. Teilweise herrscht bei technikaffinen Lehrenden eine wahre Euphorie, weil sie sich erhoffen, endlich die Konzepte einer internetbasierten Lehre umsetzen zu können, die durch das bisher übliche routinemäßige Abspielen von zweistündigen Präsenzveranstaltungen blockiert worden ist.

Für Interaktionssoziologen ist diese hochschulpolitische Debatte begrenzt interessant. Ihr Forschungsfokus richtet sich darauf, wie sich Interaktion unter Anwesenden – also der Interaktion an einem Ort – von der der Interaktion unter Abwesenden – also der internetbasierten Interaktion – unterscheidet.[2] Beide Formen von Interaktion basieren auf der der erfolgreichen wechselseitigen akustischen und visuellen Wahrnehmung der Kommunikationspartner. Die Bandbreite von sprachlichen Verständigungen, von paraverbalen, also nicht sprachlich gefassten Lauten wie Stöhnen, Kichern oder Lachen, sowie von nonverbalen Zeichen wie Mimik, Gestik oder Körperhaltung unterscheiden sich jedoch erheblich.[3]

Auf den ersten Blick fällt auf, wie weitgehend sich die für die Interaktion unter Anwesenden üblichen Mechanismen inzwischen über Plattformen wie GoToMeeting, Google Duo, Jabber, Jitsi Meet, TeamViewer oder Zoom simulieren lassen. Während vor einigen Jahrzehnen die Kommunikation unter Abwesenden bestenfalls über auf verbale und paraverbale Zeichen beschränkte sprachliche Kommunikation zwischen zwei Teilnehmern via Telefon oder Funk bestand, lassen sich heutzutage in webbasierten Interaktionen Dutzende von Personen audiovisuell zusammenschalten. Man kann über die Plattformen nicht nur die Stimmen der Interaktionsteilnehmer hören, sondern auch ihre Gesichter und häufig sogar einen Teil ihrer Körper sehen. Man kann Aufmerksamkeit fokussieren, in dem man alle auf einen Bildschirm mit einer Präsentation, einem Bild oder einem Film schauen lässt, die Diskussion für alle mitvisualisiert oder alle gleichzeitig an einem Dokument arbeiten lässt. Man kann Kleingruppeninteraktionen initiieren, zwischen diesen hin- und herwandern und über die Chatfunktion oder über parallellaufende Kommunikationsplattformen Nebengespräche führen.

Aber trotz dieser Möglichkeiten filtert die internetbasierte Interaktion immer noch eine Vielzahl der für die Kommunikation unter Anwesenden typischen Zeichen heraus. Deswegen spürt man in internetbasierten Interaktionen nicht die Spannung einer interessanten Diskussion. Der Ausdruck persönlicher Achtung für einen klugen Gedanken über ein virtuelles Sternchen oder Herzchen in der internetbasierten Interaktion ist im Vergleich zum anerkennenden Nicken in der Interaktion unter Anwesenden grob. Der Scherz eignet sich in der internetbasierten Interaktion unter Abwesenden nicht besonders gut zur Entspannung der Interaktion. Ein auflockernder Witz führt selten zu einer gefühlsmäßigen Ansteckung der Interaktionsteilnehme. In der internetbasierten Interaktion lacht jeder mehr oder minder für sich allein.

Man kann diesen Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten mit guten Gründen beklagen. Gerade in geselligen Interaktionen, die für Kommunikationen außerhalb von Organisationen typisch sind, werden die negativen Effekte dieser Begrenzungen deutlich. Zu zweit mag man sich über das Telefon, über Facetime oder über Skype „festquatschen“, von größer ausufernden internetbasierten Feiern über Internetplattformen wie Google Hangouts ist nichts bekannt. Für die ungesellige Interaktion, die für die Kommunikation in Organisationen typisch ist, kann jedoch der Mangel an Ausdrucksformen durchaus positive Effekte haben.[4] Gerade in Interaktionen in Organisationen können, darauf haben vor Kurzem Kai Matthiesen und Jonas Spengler hingewiesen, überflüssige Zeichen die Verständigung erschweren. Die Gefahr sei, dass in der Interaktion unter Anwesenden zu vieles aneinander wahrgenommen wird, was für das Diskussionsthema nicht relevant ist, sodass keine oder zumindest zu wenig Aufmerksamkeit auf das Wesentliche gelegt werden könnte.[5]

Das Fehlen paraverbaler und nonverbaler Zeichen ermöglicht in der Interaktion unter Abwesenden eine Fokussierung auf die Sachdimension. Die Rede ist von einer „Büroatmosphäre“, die sich fast zwangsläufig in internetbasierten Interaktionen in Organisationen ausbilden.[6] Diese Fokussierung auf die Sachdimension kann durch eine für alle sichtbare Visualisierung der Diskussion noch unterstützt werden. Die Konzentration auf Sachthemen wird allerdings erkauft durch erhebliche Verluste von Informationen in der Sozialdimension. Die Selbstdarstellungsmöglichkeiten als Person sind in der Kommunikation unter Abwesenden stark eingeschränkt. Während das gerade für die gesellige Interaktion außerhalb von Organisationen problematisch ist, kann das für die Interaktion in Organisationen genutzt werden. So wird in Sprechstunden oder Prüfungen die Diskussion von Themen häufig durch die Beschäftigung von Studierenden – und nicht selten auch Lehrenden – mit ihrer Selbstdarstellung überlagert, sodass einiges dafürsprechen könnte, nicht nur in Zeiten organisational angeordneter physischer Distanzierung solche Formate internetbasiert durchzuführen. Der Verlust von Selbstdarstellungsmöglichkeiten führt in der Zeitdimension darüber hinaus noch dazu, dass die Aufmerksamkeitsspannen kürzer werden. Es scheint in der Interaktion unter Abwesenden an entspannender Ablenkung in Form einer kurzen Verständigung mit der Nachbarin, des kurzen Seitenblicks auf einen attraktiven Gesprächspartner oder eines abschweifenden Blicks durch den Raum zu fehlen. Deswegen lassen sich Interaktionen unter Abwesenden häufig nicht genauso lange durchhalten wie Interaktion unter Anwesenden, was die Empfehlungen zu kürzeren Zeitblöcken und rigiderem Zeitregimen in der internetbasierten Interaktion erklären kann.

Die im Alltag üblichen Klagen über instabile Netzverbindungen, limitierte Ausdrucksmöglichkeiten und Probleme in der Beherrschung der Internetdienste verweisen auf die technischen Begrenzungen der Interaktion unter Abwesenden. Soziologisch deutlich interessanter ist, dass die technischen Möglichkeiten in der Interaktion unter Abwesenden teilweise bewusst nicht ausgeschöpft werden, um diese zielgerichtet gestalten zu können. In Zweiergesprächen wird die Videofunktion beispielsweise oftmals ausgeschaltet, um zu verhindern, dass die Teilnehmer zu stark mit ihrer visuellen Selbstdarstellung in der Interaktion beschäftigt sind, in Seminaren die Chat-Funktion deaktiviert, um die Diskussionen für alle sichtbar auf dem Bildschirm visualisieren zu können. Die technische Filterwirkung in der Interaktion unter Abwesenden ist also nicht nur eine beklagenswerte Limitierung der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern bietet ganz im Gegenteil vielfältige Chancen zur Gestaltung der Interaktion in Organisationen.

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Eine ausführliche Fassung des Textes mit Literaturangaben findet sich auf www.sozialtheoristen.de.

[1] Siehe dazu die Initiative unter www.nichtsemester.de. Der Begriff „Nichtsemester“ ist missverständlich gewählt, weil es den Initiatorinnen und Initiatoren um etwas anderes geht. „Die Lehre im Sommersemester soll stattfinden, aber das Semester soll nicht formal zählen.“ „Kannsemester“ wäre der bessere Begriff gewesen.

[2] Die bisher beste Studie zur Interaktion unter Abwesenden von André Siekmeier ist bisher unveröffentlicht; siehe André Siekmeier: Kommunikation unter Abwesenden. Bielefeld 2017. Über die „Kommunikation unter Abwesenden“ gibt es gerade in der Geschichtswissenschaft und Soziologie eine Reihe von interessanten Studien. Siehe nur beispielsweise für die Geschichtswissenschaft Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion. Räumlichkeit und Koordination mit Abwesenden in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden. In: Bettina Heintz, Hartmann Tyrell (Hrsg.): Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie. Stuttgart 2015, S. 178–200.; für die Soziologie Boris Holzer: Die Differenzierung von Netzwerk, Interaktion und Gesellschaft. In: Michael Bommes, Veronika Tacke (Hrsg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft. Wiesbaden 2011, S. 51–66. Ich schreibe bewusst von „Interaktion unter Abwesenden“, weil es mir nicht um eine briefvermittelte Kommunikation, sondern um die Simulation der „Interaktion unter Anwesenden“ über internetbasierte Interaktionen geht.

[3] Siehe dazu sehr früh schon mit einer Anwendung auf Videokonferenzen Heinrich Walter Schmitz: Videokonferenz als eigenständige Kommunikationsform. Eine explorative Analyse. Klagenfurt 1999.

[4] Zur Unterscheidung geselliger und ungeselliger Interaktion siehe Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1964, 295ff. Daran anschließend André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Frankfurt a.M. 1999, 412ff. Zur Geselligkeit natürlich grundlegend Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.): Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages. Tübingen 1911, S. 1–16.

[5] Kai Matthiesen, Jonas Spengler: Verständigung mit Nicht-Anwesenden. Was leisten digitale Formate. In: Organisationsentwicklung (2020), 2, S. 31–35.

[6] So die Beobachtung von Marcel Schütz, der an verschiedenen Hochschulen mit Online-Lehre experimentiert. Siehe dazu Marcel Schütz, Carsten von Wissel: Interaktionsformen in Organisationen – ein Impuls. In: Organisationsentwicklung (2020), 2, S. 101–102.

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

3 Kommentare

  1. Claus Riehle sagt:

    Lieber Stefan Kühl,

    das deckt sich weitestgehend mit meinen persönlichen Erfahrungen in der Lehre im technischen Bereich (Messtechnik, DHBW Ravensburg). Die Sachdimension erfährt eine Fokussierung, die Sozialdimension tritt indem Hintergrund, gleichwohl empfinde ich das Format demokratischer, weil ich zu allen Studierenden den gleichen Abstand habe – und sie zu mir. Nebeneffekt ist auch, dass meine Unterlagen stringenter werden. Was unersetzbar ist – trotzdem das wir ein virtuelles Labor machen (wie verfolgen die Darstellung der Corona-Zahlen – in meinem Sprech eine Variante von „Aufstellungsarbeit“) – die praktische Erfahrung und das Aha-Erlebnis, wenn man ein „Thermoelement“ mit einfachsten Mitteln braucht.
    Zukünftig sollte u wird ein Mix bleiben, denke ich, dh ein neues Verhalten, eine zusätzliche methodische Form; eine „Summe“, die einen Mehrwert erzeugt.

    Zuversichtliche Grüße
    Claus Riehle

  2. Sehr aufschlussreich, interessant und sicher ausbaufähig, das Thema wird bleiben!

    Die/der abwesend Teilnehmende kann allerdings durch mannigfaltige andere Ablenkungen von der Sachebene abgebracht werden – so berichtete eine Kollegin, sich zu Videokonferenzen stets nur telefonisch zuzuschalten, weil dann parallel z.B. die verschmutzt vom spielen hereinkommende Tochter abgeduscht werden kann – so lange das Mikrofon stummgeschaltet ist…

    Nur ein Hinweis: Der abbindende HInweis, es gäbe eine ausführliche Fassung unter „sozialtheoristen.de“ ist wohl zirkulär… :-)

  3. Lennart Hoffjann sagt:

    Mein Eindruck zu der Thematik ist, dass die Sachdimension dann stark betont wird, sobald ein hierarchische Gefälle klar zu erkennen sind. Dadurch, dass der Dozent ein allgemeines Senderecht inne hat und das was gesendet wird alle erhalten, wird dem gesagtem unweigerlich eine Relevanz auf der Sachdimension zugeordnet, weil nur dadurch der Sprechbeitrag eines Studierenden begründbar ist. Die Tuschelei unter Komilitonen muss bei Zoom auf den Chat ausweichen, da über die Sprechfunktion eben jeder, auch der Dozent, diese mitbekommen könnte.

    „Größere ausufernde internetbasierte Feiern“ sind mir zumindest bis zu einer Größe von etwa 8 Personen bekannt. Bis zu dieser Größe scheint es wohl noch ertragbar zu sein, die Reihenfolge der Sprechbeiträge nicht zu koordnieren, sondern aushandeln zu lassen. Das dahinter stehende Problem ist, welches auch bei Whatsapp Gruppen beobachtet werden kann, dass mit zunehmender Personen Anzahl die Sprechbeiträge inflationär werden und Einzelne nicht mehr wissen, woran sie jetzt Anschließen sollen und dann mental abschalten. Auch muss in der Interaktion makiert und damit mit der laufenden Thematik gebrochen werden, wenn an einen vorangegangene Punkt angeschlossen werden soll.

    Auch ist die Aufmerksamkeitsspanne in kleinen egalitären Gruppen weitaus höher. So lassen sich im Bereich der Online-Spiele Gruppen beobachten, welche es schaffen über Stunden hinweg stabil zu bleiben. Was daran liegen mag, dass zu kommunizieren nicht die einzige Aufgabe ist, wie es bei Online-Seminaren der Fall ist.

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