Zwischen Adenauer und Apokalypse: Böse Kinderspiele im Darkroom der Altrepublik

An BRD Noir haben sich schon so manche versucht: Bierernste Langeweile vorprogrammiert. Netflix aber bietet mit seiner „Dark“-Trilogie ein deutsch-dämmriges Horrormärchen. Für den Sender wurde der Stoff zum Welterfolg. Und das wie aus dem amerikanischen Bilderbuch. So schafft es die Serie auf „Twin Peaks“-Level. Nun ist Schlussrunde. Schade drum. Und doch nötig.

Was ist denn hier passiert! Der deutsche Wald am helllichten Tag. Gleich wird man den Augen nicht trauen. Oder eher dem, was davon übrig ist. Bild: Netflix.

 

Frage: Welche Film-Produktion in den USA käme auf die Idee, eine hauseigene Streaming-Serie mit regelmäßigen Einspielern von Nena’s 80er-„Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“ zu garnieren? Antwort: Natürlich Netflix. Nur eine kleine verrückte Feinheit der „Stranger Things“-Adaption „Dark“, die seit 2017 die amerikanische und deutsche Netflix-Gemeinde begeistert (Regie: Baran bo Odar, nach Idee und Drehbuch von Jantje Friese und Team). Das alles mit manch kuriosen Folgen: Weil viele Amerikaner das pure Deutsch der Darsteller so wunderbar beängstigend und brutal in ihren Ohren vernehmen, verzichten eingefleischte Fans auf die US-englische Rück-Synchronisation. Hannoverdeutsch klingt ja so viel genüsslich grässlicher. Den Kick will man sich nicht nehmen lassen.

Die nun anlaufende dritte Runde wird die letzte sein. „Drei Zyklen, drei Staffeln“, ließ Netflix in einer ganz dem okkulten Stil der Serie angelehnten Lakonik wissen. So sei es auch von Anbeginn geplant gewesen. Dreimal Thrillhorror frei Haus. Fertig und aus. Aber mit Pauken und Trompeten. In weiteren acht Folgen wird die bereits Kultstatus besitzende Serie auf ihr Finale, oder eher, die Apokalypse zulaufen.

Worum geht es eigentlich in diesem „Dark“? Liest man bisweilen in den sozialen Netzwerken. Der so fein wie diffus gesponnene Plot in aller Kürze: Zwei Kinder verschwinden spurlos. Ihre Leichen, das Resultat grausamer Experimente in einem unterirdischen Raum, werden später verstümmelt gefunden. Nicht irgendwo geschieht so etwas, sondern, wie es sich gehört, in einer idyllischen deutschen Kleinstadt mit dem unscheinbar-unschuldigen Namen Winden.

Winden liegt, wie sich das gehört, natürlich inmitten riesiger, nahezu endloser Waldungen. Und, wie sich das wohl auch gehört, gleich nebenan steht ein Atomkraftwerk Winden. Freilich sind dort schon merkwürdige Dinge geschehen, damals, im Reaktor, erzählt man. Wobei man eigentlich lieber nicht von erzählen möchte. Verschlusssache, versteht sich. Nicht zu vergessen die „Windener Höhlen“, ein zentraler Schauplatz, der es in sich hat. Im Laufe des Geschehens knüpft ein Faden an den anderen.

Ganz in Gelb: Kommen Se rinn, können Se raus gucken. Wo bitte geht’s hier zum Reaktorraum? Vor Kernschmelze wird gewarnt. Bild: Netflix.

 

Heillose Verstrickungen bestehen in Wahrheit zwischen vier Windener Familien, soll heißen: trübe Geheimnisse. Was die Wahrheit in Winden ist, bleibt dabei so sehr im Dunkeln, so sehr man bemüht ist, ihr auf den Grund zu gehen. Hier kommen sippschaftsdramatische Gespensterl-G’schichten mit Anleihen aus dem Ibsen’schen Schauernaturalismus auf die Bühne. Familien, in denen alle irgendwie schrecklich mühselig und beladen sind und manches auf dem Kerbholz haben, sowas geht fürs deutsche Publikum eh immer. Alles ereignet sich im wechselnden Vor und Zurück zwischen 1920ern, 50ern, 80ern sowie den Jahren der Gegenwart und einer postapokalyptischen Zukunft.

Nach und nach, gemach, gemach, wird dem Zuschauer plausibler, was er ahnen könnte. Aber der Konjunktiv ist ein regelrechter Grundton der Serie und insofern erinnert man sich am besten vorsorglich an die geflügelt-wörtlichen „Twin Peaks“-Eulen, die bekanntlich ja „nicht das sind, was sie scheinen“. So viel lässt sich aber doch sagen: In Winden mischt sich das Übernatürliche mit dem Vertrauten, Raum und Zeit geraten aus den Fugen. Und das wieder und wieder.

Obacht, der Herr Pastor hat Dreck am Stecken. Doch erstmal ist Pfarrer Tauber der neue Bilderbuchgeistliche aus Vechta. Seelenheil bringt das für Winden nicht. Bild: Netflix.

 

So spielt die Serie auf herrlich filigrane Weise mit religiösen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Sujets. Heisenberg’sches Temporalparadoxieren und immer so weiter mit den intellektuellen Wurmlöchern. Stets in der moderaten Zone massenmedialer Unterhaltungsunschärfe, aber bisweilen eben doch hart an der Grenze des guten Geschmacks und der eben noch gedeihlichen Verdauung. Dass manche Szenen nicht für jedermanns Augen eine Freude bieten dürften, ist nur eine Facette dieser Einschränkung.

Schlicht verlangt der Stoff seinen Zuschauern einige Konzentration und Ausdauer ab. Wer schnellen Effekt und eine durchratternde Entschlüsselung erwartet, ist hier Fehl am Platz. „Dark“ ist ein Format, das seine Feinkost-Zuschauer auf die Probe stellt und ziemlich allein zurücklassen will. Mit Grübeln, Nachdenken und einer garantiert hochprozentig verabreichten Dosis Melancholin. Nomen est omen. Dazu trägt die farbliche Dämpfung nicht unwesentlich bei. Beim Zuschauen fragt man sich bisweilen: Ob die Alt-BRD vielleicht gerade in dieser Blässe am hellsten erscheint?

Ja, wer hat die denn da hingelegt? 33 Schafe warten auf eine Erklärung. Das kann dauern. Wo ein Schäfer, da kein Schlachter. Bild: Netflix.

 

Spannend übrigens wie Netflix strategisch mit den kulturellen Vorlieben und Gewohnheiten seiner vielen Fans zu spielen weiß. Längst hat der Streaming-Dienst es verstanden, in den angesagten Teilen der Publikumswelt regional ansprechende Formate zu diversifizieren, die an gesellschaftlich und politisch verankerte Vorstellungen, Prägungen und Komplexe anknüpfen können. „Dark“ entspricht dem in exzellenter Weise. Die Detailgenauigkeit des geistig-moralischen BRD-Interieurs spricht Bände, ironisch-persiflierende Verspieltheit, Verdrängtes und Verstecktes in Vergangenheit und Gegenwart, eingeschlossen.

Alles ist düster und doch wieder witzig zugleich. Auf solche Spritzigkeit muss man erstmal kommen. Und vielleicht kommt man darauf am ehesten jenseits des Atlantiks. Denn auch wenn die gesamte Besetzung von „Dark“ aus den deutschen Starreihen bestückt worden ist: die gewollte US-Handschrift in Bild, Ton, Dramaturgie ist unverkennbar. Das wiederum aber nicht etwa als ein Abklatsch von „Stranger Things“.

Zu den allgemeinen bundesrepublikanischen Verwunschtheiten zählt natürlich eine ordentliche Portion Stilklischee. Abgesehen vom leicht urigen Bild einer deutschen Provinz sind diverse Bezüge zum serienmäßigen Scandinavia-Mystery-Sound der letzten Jahre offenkundig. Motto: Mach was Trostloses im Niemandsland und die Zuschauer liegen dir zu Füßen!

Friedhof nicht nur der Kuscheltiere: ein Kinderzimmer für die Ewigkeit. Bild: Netflix.

Stimmt halb und halb stimmt’s wieder nicht. Denn dazu gehört noch das Frische und Vitale. Jene Art Jugend- und Naturmagie („Stranger Things“ lässt grüßen). Ein adoleszent-halbgarer Charme der Wald- und Wiesen-Naturbübigkeit trifft immer noch den Nerv. Im Mittelpunkt steht hier die Figur des Jonas Kahnwald: zunächst jugendlich, dann in Zeitsprüngen mittelalt und als Greis. Wie es für einen fernsehtauglichen Teenager (gespielt von Louis Hofmann) ganz gut passt, hat man dazu noch eine Liebesgeschichte eingefädelt. Nun denn.

Selbstverständlich wurde von Anbeginn die US-Marktgängigkeit mitbedacht. Wenn man schon in Deutschland und mit Deutschen über das deutsche Wesen philoproduziert, braucht man: tiefen, dunklen Märchentann. Und davon viel. Erst im Bild von deutschen Landen als nahezu geschlossen-grimmschem Bundesforst taugt die Serie vollends auch für den amerikanischen Geschmack.

Ob man das noch trinken kann? Zeitreisen beschleunigen das Verderben. Jonas Kahnwald, gespielt von Louis Hofmann, der Hauptprotagonist der Story. Bild: Netflix.

 

Vorlagen sind bekannt: Irgendwelche Ami-Vorstadtkinder ziehen in den tiefen Busch von New York State. Darauf Hexengemetzel und blutgetränkter Wahnsinn. Ganz so krass geht’s in Winden meist nicht ab. Wobei für eine Axt im Kopf und ordentlich Strom aus der Aorta noch eine schicke Szene gefunden wurde. Freundlicher ist da das sonstige BRD-Sinnesfest: Kanzler Kohl als Wahlplakat, „Modern Talking“ gibt ein Konzert und eckige VW-Polizei-Polos schleichen durch Windens Straßen. „Reclam“-Heftchen (die Farbe Gelb hat, so viel sei verraten, in der Serie einen recht prominenten Platz) und „Raider“-Schokoriegel dürfen in der Gesamtausstattung freilich auch nicht fehlen.

Alles immer schön im Hin und Her. Grad ist man erst aus des Kaisers Weltkrieg zurück, schon gibt’s deutsches Waldsterben und Anti-Atomkraft. Der Feind sitzt im Osten, die Mädels und Jungs auf den Schulhöfen mögen’s eng, ledern und turnschuhig. Ein wahrer amerikanischer Traum vom deutschen wilden Westen der Achtziger. Dazwischen die Zeit im altautoritären Adenauerstaat auf dubiosem Herrensitz. Schließen und verdunkeln Sie lieber die Fenster!

Ein Berufsleben ungelöster Fälle. Und einmal muss alles zu Ende gehen. Oder von Neuem beginnen. Diese beiden Herren wissen ein bisschen mehr. Bild: Netflix.

 

Der die ganze Serie durchwandernde Depri-Kommissar Egon Tiedemann, mit den Nerven lange schon jenseits von Gut und Böse, wird da und dort hin gerufen. Hinter dessen oberflächlicher Mittelmäßigkeit steckt allerdings ein gütiger und gerechter Charakter. Verborgen unter Windener Schutt. Wie so vieles dort. Ein verlebtes Leben zwischen schneidigem 50er-Jungspund und 80er-Endermüdetem. In seiner chronisch phlegmatischen Subalternität ist Lokal-Sheriff Tiedemann in jeder Epoche so aus der Zeit gefallen, dass er – das ist der eigentliche Witz an seiner Figur – wiederum in alle gleichermaßen passt. Dem Darsteller Christian Pätzold ist diese Rolle wie auf den Leib geschnitten: ruhig und schwerfällig wählt er seine Worte, fast erdrückend.

Ach ja, es ist alles ein einziges Stöhnen im Fluss der Zeit. Würde einen auf die letzten Tage doch nur nicht diese eine Geschichte von damals einholen. Erinnerungen werden wach und das Ungemach nimmt seinen Lauf. Auf so viel Bonner Tristesse wäre niemand gekommen, hätten die Amerikaner hier nicht Hand angelegt. Man muss ihr Gespür für den Deutschdurchschnitt in Flach- und Feuchtgebieten der surrealen Einöde aufrichtig bewundern.

Bemerkenswert ist die eindringliche Atmosphäre dieser Serie. Mehr als alles Gesprochene und Gehandelte. Längere Szenen des Dahinlaufens und Dahinwartens inkludiert. Die Produzenten haben die wabernd-nebulöse Urigkeit von „Twin Peaks“ gründlich aufgesogen. Es ist ein einziges großes Geflecht aus Rückblenden und Anspielungen, bei denen nie genau zu sagen ist, ob sie sich in Nichtigkeit oder Hochdramaturgie auflösen werden.

Hallo, hier AKW-Chefin Regina Tiedemann, spreche ich da mit mir selbst? Die Polizei will im Kraftwerk doch mal nach dem Rechten sehen. Hoffentlich ist man nicht zu früh und nicht zu spät. Die Zeit hat ihre Tücken. Bild: Netflix.

 

Immerhin hat die Produktion die Netflix-Kassen nur so gefüllt; sie gilt als erfolgreichste Kreation, wie jüngst das angesagte US-Serienportal „Rotten Tomatoes“ urteilte. Und das noch vor „House of Cards“, welches ja erstens über einen längeren Zeitraum und zweitens auch mit einer größeren Anschlussfähigkeit für den Netz-Ottonormalkonsumenten lief. Einiges Lob gebührt den Machern des Soundtracks und aller weiteren Melodien dieses Stoffs. Wer erstmal die akustische Kulisse von „Dark“ erspüren möchte, findet den Theme Song „Goodbye“ von Sascha Ring alias „Apparat“ auf YouTube. Hört man sie hier nicht wieder förmlich heraus, die Alt-BRD? Hach…

Man hat die Wahl: Doktor Kohl oder doch Modern Talking? In den Achtzigern darf jeder seine Widersprüche noch für sich behalten. Alles geht, nichts muss. Bild: Netflix.

 

Nicht ausgeschlossen, dass wieder irgendein Literatur- und Medienexeget die pikantesten Ästhetik-, Reflexions- und Problematisierungsdefizite am Stoff monieren mag. Sei’s drum. Das hier ist gute Unterhaltung. So wild wie wohlbedacht, so brachial wie harmlos. In siebzig Jahren hat das deutsche Fernsehen nur wenig Internationales platzieren können. Mit „Babylon Berlin“ ist ein weiterer, ebenfalls auslaufender Global-Coup zu erwähnen. Der Witz an solchen Geschichten: Weder dem klassischen öffentlichen Rundfunk noch dem Privatfernsehen in Deutschland ist Vergleichbares gelungen. Jenseits der Lindenstraßigkeit, jenseits der Tatorthaftigkeit und jenseits aller Gute-Zeiten-Schlechte-Zeiten-Schwarzwald-Fallers-Leben dieser Nation der TV-Gewohnheitskonsumption.

Spurensuche: Wie kam Kommissar Egon Tiedemann wirklich ums Leben? Sachdienliche Hinweise nimmt die Polizeidienststelle Winden entgegen. Aber nur, wenn’s Winden überhaupt gibt. Bild: Netflix.

 

Wenn’s am Schlimmsten ist, soll man aber auch mal aufhören. Keine Frage: Dieser Content aus der Achterbahn will bald beendet werden. Nicht auszuschließen, dass man zum Schluss aber doch nur sagen wird: Ich weiß nicht, was soll das bedeuten und was alles darf man hineinlesen? (Oh snap, auch dieser Text partizipiert ja eben daran!) Gleichwohl – eine heimliche Botschaft dieser verworrenen Story ist vielleicht fundamental: Die Bonner Republik lebt noch, ja sie lebt noch! Selbst die „Deutschlandfunk“-Mittagsnachrichten, die in einer Folge im beschaulichen Winden aus einem auf Eichenwandschrank wohlplatzierten Radio ertönen, klingen 2019 noch wie Mitte ’80. Und gar eine kurze, nur vage Andeutung auf die heutige Kanzlerin lässt die eine gewaltige Option offen, dass Doktor Kohl tatsächlich noch regiert. Wo Raum und Zeit aus dem Ruder gelaufen sind, ist mit allem zu rechnen.

Ob das alles wohl ganz zufällig Balsam sein könnte, gerade in dieser Zeit? Vielleicht denken Produzenten nicht ganz so zufällig. Die Beweise sind jedenfalls erdrückend: Netflix gibt den Deutschen ihre gute alte, schaurig-schöne BRD zurück. Das ist die ganze dunkle Wahrheit. Ehrlich jetzt. Denkt an die Eulen!

Die dritte und letzte Staffel „Dark“ läuft ab Samstag auf Netflix. Der Trailer zum Finale ist hier abzurufen

– Aktualisiert am 27.06.2020 –

3 Kommentare

  1. LuksLachs sagt:

    Dark ist keine Stranger Things Adaption!

  2. STAdaption sagt:

    Hier mal zwei Anmerkungen zum ewigen Vergleich mit Stranger Things.
    Wer ernsthaft diesen Vergleich anstellt, hat entweder eine der beiden Serien nicht gesehen oder gar beide. Dieser Vergleich ist aberwitzig.
    Des Weiteren bisitzt Dark sogar eine höhere Bewertung auf imdb, so dass man schon Stranger Things mit Dark vergleichen müsste und nicht umgekehrt.

    • Marcel Schütz sagt:

      Ich danke für Ihre Meinung. Es ging mir auch nicht um einen näher inhaltlich qualifizierten Vergleich, sondern lediglich um den Hinweis auf das Genre und seine Nachfrage. Zu Ihrer „höheren Bewertung“: Hier kann ich nur zustimmen und habe ja im Text selbst erwähnt, dass DARK über allen anderen Produkten rangiert.

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