Bilanzfälschung. Zur übersehenen Normalität des Falles Wirecard

Bilanzskandale beschädigen das Vertrauen in das Management von Unternehmen. Auch nur vage Andeutungen einer „Enronitis“ – die nach dem spektakulär gescheiterten US-Energiekonzern benannte Tendenz von Unternehmen, ihre Zahlen besser dazustellen, als sie wirklich sind – versetzen Börsenaufsicht, Wirtschaftsprüfer und Unternehmensmanagement in wilde Hektik.[1] Manager, die ihr Zahlenwerk zu sehr manipuliert haben, werden medienwirksam in Handschellen dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Wirtschaftsprüfer geloben, Abbitte für ihre fehlende Aufmerksamkeit in der Vergangenheit zu leisten, und verschärfen ihre Qualitätssicherung. Die Börsenaufsicht erfindet eine Reihe neuer Regeln, um den verängstigten Kapitalanlegern zu signalisieren, dass man alles tut, um das Problem einer allzu fantasievollen Bilanzführung und -prüfung in den Griff zu bekommen.

Dabei wird so getan, als wäre die Bilanzführung ein Problem der Überwachung und Bestrafung von Managern, Controllern und Wirtschaftsprüfern. Wenn man nur genügend sündige Manager an den Pranger stellt, viele neue Regeln für Wirtschaftsprüfungsgesellschaften schafft und die Börsenaufsicht mit neuen Stellen ausstattet, würde man, so die Logik, das Vertrauen der Anleger schon wiedergewinnen. Es wird dabei jedoch verkannt, dass die kreative Buchführung von Unternehmen die fast zwangsläufige Nebenfolge einer durch den Finanzmarkt getriebenen Wirtschaft ist.

Die fantasievollen Formen der Bilanzkosmetik lassen sich darauf zurückführen, dass das Geschäftsmodell von risikokapitalfinanzierten Unternehmen wie Wirecard auf einem permanenten Nachfluss von Geld aus dem Kapitalmarkt aufgebaut ist. Unternehmen, die auf die Finanzierung durch Risikokapitalgesellschaften oder durch die Börse angewiesen sind, müssen mit aller Gewalt – notfalls auch durch das Engagement von Privatdetektiven – verhindern, dass sie Signale aussenden, die den Kapitalmarkt beunruhigen könnten. Das Ausbleiben von Überweisungen durch Investoren oder die Beeinträchtigung der Möglichkeit, an der Börse neues Geld einzusammeln, könnte das schnelle Ende eines kapitalmarktorientierten Unternehmens bedeuten.

Die Logik der Risikokapitalgeber am Finanzmarkt ist immer die gleiche. Wenn eine neue „heiße Technik“ identifiziert ist und Anleger Interesse an dieser Technik entwickeln, wird von Unternehmen erwartet, dass sie schnell wachsen – auch auf Kosten kurzfristiger Profitabilität. Der Glaube ist, dass sich nur derjenige, der schnell Marktanteile erobert, auch durchsetzen wird. Die Unternehmen geraten dadurch in eine Wachstumsfalle. Sie sind gezwungen, international weiter zu expandieren und ihr Produktspektrum auszudehnen, weil sie sonst ihre hohe Marktkapitalisierung nicht rechtfertigen können. Da ihr Überleben im Gegensatz zu primär an Produktmärkten orientierten Unternehmen davon abhängt, dass sie eine regelmäßige Nachfinanzierung über den Kapitalmarkt bekommen, ist die Aufrechterhaltung der Wachstumslogik von zentraler Bedeutung.

Die Wachstumsfalle für risikokapitalfinanzierte Unternehmen hat zur Folge, dass diese permanent Erfolgsmeldungen über zunehmende Nutzerzahlen, Umsatzsteigerungen und Ergebnisverbesserungen liefern müssen, um ihre Legitimität aufrechtzuerhalten. Es besteht die Verlockung, „Schaufensterdekorationen“ zu kreieren, um die nächsten Finanzierungsrunden zu erreichen. In einer Phase, in der immer mehr Anleger nach Aktien dieser schnell expandierenden Unternehmen verlangen, herrscht in der Öffentlichkeit wenig Sensibilität für diese Schaufenstercharakter vor. Selbst wenn eine besonders großzügige Auslegung der Zahlen bekannt wird, verliert sich diese Neuigkeit in einer Vielzahl von Erfolgsnachrichten.

Aber es gibt kritische Kipppunkte. Der Kapitalmarkt, der während der Boomphase fast jede Trickserei verzeiht, weil alle Kapitalgeber auf einen rechtzeitigen Exit setzen, reagiert plötzlich sensibel, wenn auch nur der Anschein umstrittener Buchungsmethoden bekannt wird und ein Unternehmen seine eigenen Zahlen korrigieren muss. Medien, die sich vorher nur für die Erfolgsnachrichten der entsprechenden Unternehmen interessiert haben, entdecken plötzlich, dass die Erfolgsgeschichten auf Bilanzfälschungen basieren.

Besonders kritisch sind dabei immer Krisen auf den Finanzmärkten. Einschneidende Verluste an den Börsen für Wachstumsunternehmen aber auch an denen für Standardwerte sind häufig die letzten Ausläufer eines zu Ende gehenden, durch Risikokapital getriebenen Zyklus’. In der Phase des Niedergangs kommt es nicht mehr primär auf die Meldung steigender Nutzer- oder Umsatzzahlen an, sondern auf die Beruhigung des Kapitalmarktes durch die Erklärung, dass das Unternehmen im operativen Geschäft profitabel ist. Und dieser Blick auf den Profit führt dazu, dass genauer darauf geachtet wird, wie die Zahlen eines Unternehmens eigentlich zustande kommen. Das war bisher bei jedem Zyklus auf dem Risikokapitalmarkt so – bei den Minicomputern in den 1970er Jahren der Fall, bei den PC-Firmen in den 1980er Jahren und bei den Internet- und Telekommunikationsunternehmern in den 1990ern.

Je nachdem, wie stark ein Unternehmen sich vom Kapitalmarkt abhängig gemacht hat, wirken sich die Folgen einer fantasiereichen Buchführung unterschiedlich stark aus. Sicherlich: Die durch offensichtlich werdende kreative Bilanzführung entstehenden Kursverluste sind auch für primär auf den Verkauf von Produkten ausgerichtete Unternehmen nicht angenehm. Sie stellen aber in der Regel nicht die Überlebensfähigkeit des Unternehmens in Frage. Solange das Unternehmen durch den Verkauf seiner Produkte und Dienstleistungen mehr einnimmt, als es ausgibt, ist seine Liquidität nicht unmittelbar bedroht. Bei primär am Kapitalmarkt orientierten Unternehmen wirkt sich die Erosion des Vertrauens der Kapitalanleger jedoch oft verheerend aus. Durch das Ausbleiben von Nachschüssen aus dem Kapitalmarkt wird der Spielraum zur Liquiditätssicherung geringer, und die mühsam aufgebauten und stabilisierten Finanzierungsgerüste stürzen zusammen.

Ehemalige risikokapitalfinanzierte Modell-Unternehmen sind nicht deswegen den Bach hinuntergegangen, weil nach dem Aufdecken der Bilanztricksereien zutiefst marode Unternehmen zum Vorschein gekommen wären. Sie sind vielmehr deswegen gescheitert, weil das Vertrauen am Kapitalmarkt durch die offensichtlich gewordene kreative Buchführung verloren gegangen war und damit das am Kapitalmarkt orientierte Geschäftsmodell nicht mehr aufgehen konnte. Oder noch provokanter ausgedrückt: Die tricksenden Unternehmen gingen pleite, weil die Bilanztricksereien nicht gut genug organisiert waren. Das Management der doppelten Wirklichkeit, der Betriebsrealität einerseits und der Außendarstellung andererseits, war einfach nicht professionell genug. [2]

Was können Finanzaufsichtsbehörden, Wirtschaftsprüfer oder Kapitalanleger tun? Aus der obigen Argumentation folgt ein Frühwarnsystem, mit dem Bilanzmanipulationen wie bei Wirecard entdeckt werden können. Wenn ein risikokapitalfinanziertes Unternehmen exponentielle Wachstumskurven vorweist, müssten bei Finanzaufsichtsbehörden, Wirtschaftsprüfern und Kapitalanlegern die Alarmglocken schrillen. Diese Wachstumskurve mag auf real steigenden Nutzerzahlen und Umsätzen basieren, aber die meisten Unternehmen werden zusätzlich viel buchhalterische Kreativität aufgewendet haben, um die Wachstumszahlen beeindruckender erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit sind.

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant bei Metaplan Quickborn. Zum Thema erscheint von ihm in Kürze das Buch „Brauchbare Illegalität. Von Nutzen des Regelbruchs für Organisationen“ (Campus Verlag 2020). 

[1] Zur Bilanzforschung bei Enron Malcolm S. Salter: Innovation Corrupted. The Origins and Legacy of Enron’s Collapse. Cambridge, Mass. 2008.

[2] Eine ausführliche Analyse der Funktion von Bilanzfälschungen findet sich in Stefan Kühl: Exit. Wie Risikokapital die Regeln der Wirtschaft verändert. Frankfurt a.M., New York 2003.

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

3 Kommentare

  1. Anonymous sagt:

    Hierzu der wunderbare Film „System Error“. Es ist unglaublich, das wir in 2020 immer noch keine Idee haben – dieses nicht natürliche System zu verändern! Traurig…

    http://www.systemerror-film.de/

  2. Claus Riehle sagt:

    Die Unterscheidung Produktmärkte und Kapitalmärkte finde ich hilfreich.
    Produktmärkte handeln(!) mit hand(!)habbaren Erzeugnissen; Kapitalmärkte mit Buchwerten, mit erzeugten „Schaufensterdekorationen“, die wir nur betrachten jedoch nicht handhaben(!) können.
    Kapitalmärkte erzeugen daher eine Seifenblasenwirtschaft: Alles gut solange die Seifenblase wächst – sie schillert ja auch – und dann Riesenentäuschung, wenn sie platzt (je größer und schillerender, je schlimmer die Enttäuschung).
    Diese Metapher verfeinernd könnte man die Produktmärkte weiter unterscheiden in Life-Style-Produktmärkte und Lebensgut-Märkte.
    Life-Style-Produktmärkte erzeugen keine große Blasen, dafür jedoch kleine Luftgebilde großer Zahl: Viele Bläschen auf einem Haufen nennt man Schaum. Life-Stylemärkte erzeugen eine Schaumschlägerwirtschaft (d.h. Marketing & Sales werden dominante Einflussgrößen); erzeugen viele kleine neuen Bläschen via neuer, nichtnotwendiger Produkte, die Konsumenten und deren Statusbefürnisse up-to-date zu sein abfüttern („bis wir die nächste Sau durch’s Dorf treiben“).
    Der Lebensgutmarkt erzeugt im Gegensatz dazu Güter die essenziell für (Über)Leben) sind. Seine Produkte stehen für eine essenzielle Wirtschaft (essenziell wird radikaler verstanden als nachhaltig). In einer essenziellen Wirtschaft würde der „liquide Zustand“ gegenüber den „Luftnummern“ dominieren, d.h. die Anzahl der Seifenblasen und Bläschen ist überschaubar klein – dieses Verhältnis ist dann die kritische Größe – und die luftige Gebilde können nicht anfangen den Gesamtzustand beherrschen.

  3. Jens sagt:

    Schade. Habe den Artikel zu spät entdeckt.
    Finanzierung durch Risikokapital als Beweggrund für accounting for growth? Soweit ich weiß, hat sich Wirecard über Kredite finanziert und nicht über die Ausgabe neuer Aktien. Dafür, also für ihre Kreditwürdigkeit, haben sie accounting for growth praktiziert. Das Ziel waren nicht dumme Anleger, sondern eher dumme Banken. Und auch nicht ein Exit, sondern die Veruntreuung von Darlehen. Das ist schon eine ziemlich andere Hausnummer.

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