Was ist das Besondere an der holakratischen Formalisierung? – Einblicke in neue Formen der Formalisierung in Organisationen

Während in klassischen Organisationen die Veränderung von formalen Strukturen durch den Neuzuschnitt von Abteilungen oder die Neudefinition von Prozessen häufig ein langwieriger Vorgang ist, befinden sich – so jedenfalls das Postulat der Vertreter:innen neuer Organisationsformen – die formalen Strukturen sogenannter holakratischer Organisationen in einem permanenten Veränderungsprozess. Purpose-driven und spannungsgeleitet können im sogenannten Governance Meeting je nach Umweltanforderung beispielsweise neue Kreise gebildet oder Rollen durch das Ergänzen oder Entfernen von Zuständigkeiten modifiziert werden. So entsteht eine formale Ordnung, die sich, um es salopp auszudrücken, in einem permanenten Fluss befindet und von allen Organisationsmitgliedern stetig mitverfolgt werden kann.

Worin besteht aus systemtheoretischer Perspektive die Wirkweise von Formalisierung in Organisationen und worin liegen die Besonderheiten holakratischer Formalisierung?

Zur klassischen Formalisierung

Durch Formalisierung können Erwartungen zeitlich, sachlich und sozial generalisiert werden (Luhmann 1964: 60). Generalisierte Erwartungen bleiben von Einzelereignissen unabhängig bestehen, werden „von einzelnen Abweichungen, Störungen, Widersprüchen nicht betroffen“ und überdauern „innerhalb gewisser Grenzen“ auch Schwankungen (ebd.: 55f.).

Zeitlich generalisierte Erwartungen, die bei Niklas Luhmann als Normen bezeichnet werden, sind relativ resistent gegenüber Enttäuschungen (ebd.: 61). Durch Formalisierung erübrigt sich die Frage nach ihrer Anerkennung, die sich sonst bei jeder Enttäuschung stellen würde (ebd.). Nur durch Entscheidung kann die formale Geltung von Erwartungen geändert werden und da Erwartungen entweder formalisiert sind oder nicht formalisiert sind, „ist für jeden Zeitpunkt eindeutig feststellbar, ob eine Erwartung gilt oder nicht“ (ebd.: 62). Aufgrund ihrer relativen Resistenz gegenüber Enttäuschungen haben Normen „einen besonderen Änderungs- und Anpassungsstil“ (ebd.). Sie bestehen trotz Umweltveränderungen solange fort, bis ihre Anpassung an diese unvermeidlich wird und ihre Änderung abrupt eintritt. Die Folge zeitlicher Generalisierung von Erwartungen ist daher eine Starrheit der Organisation in Bezug auf Umweltanpassungen ( ebd.).

Sachliche Generalisierung in Organisationen ermöglicht eine Fiktion des Zusammenhangs von Rollenerwartungen. „Diese Systemwirkung hängt nicht davon ab“, so Luhmann, dass „die einzelne Erwartung mit den übrigen in einem sinnvollen logischen, sachlichen, technischen Zusammenhang steht. Davon wird abstrahiert“ (ebd.: 63). Die Funktion der Formalisierung ist das Ersetzen dieser Frage nach dem Zusammenhang durch Fiktion. Auch wenn formale Rollen konsistent sein müssen, da zur Anwendung der Mitgliedsregel nicht die Enttäuschung einer Rollenerwartung notwendig sein kann, um eine andere zu erfüllen, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang ihrer Erwartungen durch die Generalisierung erst gar nicht (ebd.). Die Prüfung dieser Konsistenz erübrigt sich dadurch. Formalisierung ermöglicht zwar die Fiktion des Rollenzusammenhangs, kann allerdings nicht die Folgen, nämlich Rollenkonflikte, die sich aus dem Zusammenfallen unterschiedlicher Rollen in einer Person ergeben, vollständig lösen (ebd.: 67).

In der sozialen Dimension „kommt die Generalisierung von Verhaltenserwartungen darin zum Ausdruck, daß innerhalb des Systems Konsens mit den formalen Erwartungen bei allen Mitgliedern ungeachtet ihrer individuell unterschiedlichen Einstellungen unterstellt werden kann“ (ebd.: 68). Durch Formalisierung, also die Bindung von Mitgliedschaft an bestimmte Erwartungen, wird sichergestellt, dass alle, die Mitglied der Organisation werden oder bleiben wollen (Mitgliedschaftsentscheidung), die formalen Erwartungen dieser anerkennen.  Die Entscheidung zur Mitgliedschaft in einer Organisation „wird isoliert getroffen und kann für sich motiviert werden“ (ebd.: 93). Mitgliedschaft „setzt eine allgemeine Vertrautheit mit der Rolle, nicht aber die gedankliche Vorwegnahme all ihrer einzelnen Ausführungshandlungen voraus“ (ebd.). Formalisierung ersetzt derweil die Prüfung des Ausmaßes der tatsächlichen Zustimmung zu den formalen Erwartungen durch Fiktion und ermöglicht dadurch, dass Konsens bei allen Mitgliedern unterstellt werden kann (ebd.: 68f.). Als Folge der sozialen Generalisierung wird die Beschaffung der Leistungsmotivation problematisch, da vom Konsens der Mitglieder zu den formalen Erwartungen abstrahiert wird und lediglich der Konsens zur Mitgliedschaft und damit nur die Teilnahme- nicht aber die Leistungsmotivation generalisiert wird (ebd.: 104).

Organisationen können durch Generalisierung in allen drei Sinndimensionen – und dieser Gedanke ist für das Verständnis von Organisationen zentral – relativ beständig und gleichzeitig elastisch gehalten werden. In zeitlicher Hinsicht können Erwartungen einer Organisation aufgrund von Umweltanpassungen enttäuscht werden und dennoch als Normen weiterbestehen. In der sachlichen Dimension können einzelne Rollenerwartungen verändert werden, ohne ihre Konsistenz zu gefährden. In sozialer Hinsicht können Erwartungen geändert werden und trotzdem kann allen Mitgliedern weiterhin Konsens unterstellt werden.

Wie werden jetzt diese allgemeinen Formalisierungsmechanismen im Rahmen des holakratischen Organisationsmodells modifiziert?

Zur Besonderheit der holakratischen Formalisierung

Ein holakratisch formalisiertes System ist danach ausgerichtet, seine Formalstruktur ständig an die Erwartungen seiner Umwelt anzupassen. Kreise und Rollen werden durch kontinuierliche Formalisierung gebildet, modifiziert oder entfernt. Die Formalstruktur eines holakratischen Systems ist deshalb in ständiger Veränderung. Gleichzeitig werden alle Veränderungen schriftlich dokumentiert. Durch diese Dokumentation wird es nach Vorstellung der Holakrat:innen möglich, eine Organisationstruktur für alle sichtbar zu halten und damit anschlussfähig für Veränderungen zu machen (siehe dazu Robertson 2015: 26ff.). Die Dokumentation der aktuellen Formalstruktur ist aus diesem Grund sehr präzise. Hinzu kommt, dass mit jeder einzelnen Veränderung der Formalstruktur den Mitgliedern nicht nur die Frage nach der Wiederbestätigung der neuen formalen Struktur gestellt wird. Vielmehr sind die Mitglieder in den Anpassungsprozess der Formalstruktur eingebunden, sodass sie diese nicht nur rekonfirmieren, sondern darüber hinaus so mitgestalten können, dass einer Wiederzustimmung nichts entgegensteht. Charakteristisch für die holakratische Formalisierung ist daher, dass sie iterativ sowie spezifisch ist und rekonfirmativ wirkt.

In der zeitlichen Generalisierung von Erwartungen liegt der Unterschied zwischen holakratischer und klassischer Formalisierung in der Verschiebung der Prioritätensetzung. Bei der klassischen Variante wurde ein Höchstmaß an Beständigkeit angestrebt, das mit kleinstmöglicher Elastizität vereinbar ist. Die holakratische Formalisierung jedoch legt den Fokus auf die Elastizität – Ziel ist es, bei einem Mindestmaß an Beständigkeit die größtmögliche Elastizität der Organisation zu erlangen.

Diese Verschiebung der Prioritäten findet in der Iteration der Formalisierung ihren Ausdruck. In holakratischen Organisationen wird bei jeder Umweltänderung die Formalstruktur auf ihre Funktionalität geprüft und ggf. an die veränderten Anforderungen angepasst. Eine Normbildung, also die Bildung von Erwartungen, die relativ resistent gegenüber Enttäuschungen sind, wird durch diese Iterationserwartung gehemmt, denn anstelle der normativen Erwartungen in klassisch formalisierten Systemen treten in holakratisch formalisierten Systemen kognitive Erwartungen. Stellt sich also heraus, dass eine normative Erwartung enttäuscht wird, wird an dieser enttäuschten Erwartung festgehalten, wohingegen bei einer kognitiven Erwartung, wie sie in holakratischen Organisationen im Umgang mit Spannungen auftreten, die Enttäuschung zum Anlass genommen wird, diese formale Erwartung zu ändern (siehe zur Unterscheidung der Reaktionsformen auf Erwartungsenttäuschung Luhmann 1972: 42).

In sachlicher Hinsicht unterscheidet sich die holakratische Formalisierung von der klassischen durch ihre Spezifität. Zwar ermöglicht auch sie die Fiktion des Zusammenhangs von Rollenerwartungen, diese werden jedoch stark spezifiziert. Formalisiert werden dadurch nicht nur Rollenerwartungen, sondern auch spezifische Erwartungen, z.B. Aufgaben, die mit der Rollenerwartung einhergehen. Die hohe Spezifität der holakratischen Formalisierung hat zudem eine Verkleinerung der Indifferenzzone zur Folge, da mit ihr bis ins Detail genau entscheidbar wird, was als formal gilt und was nicht (Luhmann 1964: 96). Um diesen Zusammenhang verstehen zu können, wird zunächst das ursprüngliche Konzept der Indifferenzzone Barnards und anschließend das Luhmanns erläutert. Barnard unterscheidet drei Typen von Anweisungen bzw. Erwartungen: erstens die, die eindeutig nicht akzeptabel sind, zweitens die Erwartungen, bei denen nicht eindeutig ist, ob sie akzeptabel sind oder nicht, und drittens diejenigen, die unhinterfragt von den Mitgliedern akzeptiert werden und in die Indifferenzzone fallen (Barnard 1938: 168f.). „The zone of indifference will be wider or narrower depending upon the degree to which the inducements exceed the burdens and sacrifices which determine the individual’s adhesion to the organization” (ebd.: 169). Diese Verbundenheit mit der Organisation kann wiederum zum einen durch die von der Organisation bereitgestellten objektiven Anreize, wie z.B. Geld und Status, und zum anderen durch Überzeugungsarbeit der Führungskraft beeinflusst werden (ebd.: 137ff.). Ungeachtet dessen kann die Verbundenheit nur individuell beeinflusst werden. Welche objektiven Anreize von dem einzelnen Mitglied angenommen werden oder auf welche Weise die Führungskraft dieses überzeugt, ist nach Barnards Konzept der Indifferenzzone eine empirische Frage, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden kann. Um dennoch eine differenziertere Betrachtung der Variablen, die die Größe der Indifferenzzone definieren, zu ermöglichen, wird im Folgenden Luhmanns Konzept der Indifferenzzone dargelegt und anschließend weiterentwickelt.

Die durch Formalisierung generalisierte Teilnahmemotivation sichert die Unterwerfung des Mitglieds unter die Formalstruktur, deren faktische Ausführung unbestimmt bleibt. Im Rahmen dieser Teilnahmemotivation kann „[d]er Vorgesetzte […] von Entscheidungsmöglichkeiten für seine Untergebenen Wahlen treffen, Entscheidungsprämissen oder gar konkrete Entscheidungen auswählen oder den Wahlbereich der Untergebenen einengen“ (ebd.: 96). Nach Luhmann definiert dieser Rahmen, in welchem das Mitglied „solche Entscheidungen, wenn sie ihm definitiv zugestellt werden, unkritisch und indifferent in seine Situation zu übernehmen [hat]“, die Indifferenzzone (ebd.: 61). Aus diesem Verständnis der Indifferenzzone geht hervor, dass formale Erwartungen, ihre Unbestimmtheit in der faktischen Ausführung sowie die Teilnahmemotivation konstitutiv für die Indifferenzzone sind. Formale Erwartungen bilden dabei Konstanten, da sie im Gegensatz zu Teilnahmemotivation und Unbestimmtheit absolut und nicht graduell bestimmt werden. Motivation und Unbestimmtheit sind variabel, während die Teilnahmemotivation das Mindestmaß kennzeichnet, das notwendig ist, um dem System beizutreten bzw. darin zu verbleiben. Alles darüber Hinausgehende kann als Leistungsmotivation bezeichnet werden. Unbestimmtheit kann stark oder schwach ausgeprägt sein, wobei Letzteres auch als Spezifität bezeichnet werden kann.

Daraus folgt, dass die Indifferenzzone sich mit Zunahme der Motivation und Unbestimmtheit erweitert und sich mit Abnahme der Motivation und Zunahme der Spezifität verkleinert. Die Möglichkeit der Erweiterung der Zone durch Leistungsmotivation kann damit erklärt werden, dass mit Zunahme der Motivation auch die Bereitschaft steigt, Erwartungen indifferent zu behandeln und ihnen zu entsprechen, da die Motivation das Mindestmaß übersteigt, das notwendig ist, um die Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten. Durch die Unbestimmtheit formaler Erwartungen kann insofern eine Erweiterung ermöglicht werden, als bis zu einem gewissen Grad offenbleibt, ob das faktische Verhalten zur Erfüllung der dadurch konkretisierten formalen Erwartung notwendig ist. Ist die Spezifität der formalen Erwartung hoch, kann das Mitglied relativ exakt bestimmen, welches faktische Verhalten eindeutig zu einer formalen Erwartung gehört und welches nicht. Unbestimmtheit bzw. Spezifität und Motivation bedingen sich dabei gegenseitig. Geringe Motivation kann zu einem gewissen Maße durch hohe Unbestimmtheit ausgeglichen werden. Umgekehrt kann hohe Motivation hohe Spezifität in einem gewissen Umfang kompensieren.

Die soziale Generalisierung in holakratischen Organisationen unterscheidet sich von der in klassischen Organisationen dadurch, dass die holakratische Formalisierung rekonfirmativ wirkt. Bei jeder Änderung der Formalstruktur hat das Mitglied die Möglichkeit diese zu gestaltet und zu rekonfirmieren. Zunächst findet hier wie auch bei der klassischen Formalisierung bei Eintritt in die Organisation eine Trennung von Teilnahme- und Leistungsmotivation statt. Bei Eintritt in die Organisation unterwirft sich das Mitglied wie auch bei der klassischen Formalisierung der allgemeinen Formalstruktur. Die jeweiligen konkreten Ausprägungen dieser sind zu diesem Zeitpunkt nicht definiert. Durch die holakratische Formalisierung, bei deren Änderung das Mitglied involviert ist, wird jedoch eine Formalstruktur erzeugt, die gerade nicht allgemein, sondern spezifisch ist. Das Mitglied unterwirft sich bei einer Änderung der formalen Struktur daher nicht mehr einer allgemeinen, sondern einer spezifischen und vor allem einer selbstgestalteten Formalstruktur. Durch die Gestaltungsmöglichkeit der Formalstruktur, die das Mitglied hat, wird Konsens nicht mehr zur allgemeinen, sondern zu einer spezifischen Formalstruktur unterstellbar. Dies führt dazu, dass die Trennlinie zwischen Teilnahme- und Leistungsmotivation verwischt. Ob dadurch die Beschaffung der Leistungsmotivation weniger problematisch wird als bei der klassischen Formalisierung, da das Mitglied die Formalstruktur selbstgestaltet, der es sich unterwirft, ist eine empirische Frage. Ebenso ist es Gegenstand empirischer Untersuchung, ob sich dieses Problem im umgekehrten Falle nicht auch verschärfen kann, gerade weil das Mitglied durch seine Gestaltungsmöglichkeit der Formalstruktur selbst die Mindestanforderungen zur Erfüllung seiner Mitgliedschaftserwartung definieren kann.

Offen bleibt nach diesen Erläuterungen noch die Frage nach den Folgen, die sich aus der holakratischen Formalisierung für die Organisationen und ihre Mitglieder ergeben. Was resultiert aus der Verschiebung der Priorität von Beständigkeit hin zu Elastizität? Was sind die Effekte der Verkleinerung der Indifferenzzone? Und welche Folgen ergeben sich aus der Verwischung der Trennlinie zwischen Teilnahme- und Leistungsmotivation?

Literaturverzeichnis

Barnard, Chester I. (1938): The Functions of the Executive. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.

Luhmann, Niklas (1972): Rechtssoziologie. Reinbek: Rowohlt.

Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York: Holt.

(Bild: Gabriel Jorby)

1 Kommentar

  1. […] in dem vorangegangenen Beitrag zu den Besonderheiten holakratischer Formalisierung herausgearbeitet wurde, unterscheidet sich die […]

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