Über die überraschende Ähnlichkeit zwischen dem Harzburger Führungsmodell und dem holakratischen Organisationsprogramm
Die Promotoren von Managementmoden profitieren von der ausgeprägten Vergesslichkeit in und von Organisationen. Nur so ist es möglich, Managementprinzipien in neuer Verpackung zu propagieren, die vor ein oder zwei Jahrzehnten in ganz ähnlicher Form schon mal als letzter Schrei propagiert wurden.[1] Diese Ignoranz gegenüber der Geschichte von Organisationen muss im Prinzip nichts Negatives sein. Wenn sich in Organisationen alle daran erinnern würden, welche Probleme eine früher propagierte Reform mit sich gebracht hat, würde wohl kaum jemand noch eine Veränderung wagen.[2]
Trotzdem ist es manchmal nicht schlecht, sich wenigstens wage daran zu erinnern, welche Managementkonzepte früher bereits angepriesen wurden. Es ermöglicht, dass man nicht allzu sehr durch die Effekte einer durch eine Managementmode angestoßene Reform überrascht wird und frühzeitig gegensteuern kann. Lernen durch Erfahrung ist – jedenfalls in niedrigen Dosierungen – in Organisationen nicht per se schädlich.
Interessant ist, dass im Schatten der in fast allen Organisationen breit propagierten Agilität, ein Managementkonzept eine Renaissance erlebt, das vor etwa fünfzig Jahren unter dem Begriff „Harzburger Modell“ der im deutschsprachigen Raum dominante Ansatz gewesen ist. Heutzutage erinnert sich kaum noch jemand an dieses Konzept, aber bis vor wenigen Jahrzehnten zogen noch Zehntausende Führungskräfte pro Jahr nach Bad Harzburg, um sich darin schulen zu lassen, wie eine Führung im Mitarbeiterverhältnis aussehen kann. Statt einer autoritären Führung käme es, so die Idee, in einer kooperativen Führung darauf an, Mitarbeitern maximalen Freiraum bei der Erreichung vorgegebener Ziele zu lassen.
Der Dreh, mit dem die weitgehende Autonomie der Mitarbeiter bei der Erfüllung ihrer Ziele erreicht werden sollte, war, dass die Zielvorgaben für die einzelnen Mitarbeiter in ausführlichen Stellenbeschreibungen niedergelegt wurden und die Vorgesetzten sich in einer Art Verfassung darauf verpflichteten, die Autonomie der Mitarbeiter zu achten. Die genaue Festlegung der Ziele für jeden einzelnen Mitarbeiter im Rahmen dieser Verfassung sollte sicherstellen, dass diese eine klare Vorstellung davon erhalten, woran ihre Leistungen von den Vorgesetzten gemessen werden. Die Autonomie der Mitarbeiter wurde im Harzburger Modell durch eine weitgehende Durchformalisierung der Organisation erkauft.[3]
Während sich Spuren des Harzburger Modells bestenfalls noch in einigen wenigen Einzelhandelsketten finden lassen, erlebt die Idee der Schaffung von Handlungsspielräumen durch eine Durchformalisierung der Organisation unter dem Begriff der „Holakratie“ im Managementdiskurs eine überraschende Renaissance.[4] Holakratie wird als ein „organisationales Betriebssystem“ präsentiert, durch das der Handlungsspielraum der Mitarbeiter erhöht und die Selbstorganisationsfähigkeit in Teams verbessert werden soll. Dafür werden alle Mitarbeiter auf eine holakratische Verfassung verpflichtet, in der ihre Rechte und Pflichten bis ins kleinste Detail festgelegt werden. Auf Basis dieser Verfassung werden die im Rahmen der unterschiedlichen Rollen zu erfüllenden Aufgaben exakt definiert.[5]
Sicherlich, in einem zentralen Punkt unterscheidet sich das holakratische Konzept vom Harzburger Modell. Während die Ziele der Mitarbeiter im Harzburger Führungsmodell vom Vorgesetzten angeordnet und überprüft wurden, legen im holakratischen Organisationsmodell die Mitarbeiter in Zirkeln gemeinsam fest, welche Ziele in welchen Rollen erreicht werden sollen, und überprüfen gemeinsam, ob diese erreicht worden sind oder nicht. Während im Harzburger Modell der hierarchische Vorgesetzte noch eine zentrale Rolle in der Zielsetzung sowie der Kontrolle von deren Erfüllung durch „seine“ Mitarbeiter hatte, ist die Hierarchie im holakratischen Organisationsmodell fast bis zur Unkenntnis aufgeweicht.
Mitarbeiter sind in der Holakratie nicht mehr wie im Harzburger Modell einzelnen Vorgesetzten zugeordnet, sondern können genau spezifizierte Rollen in unterschiedlichen Zirkeln übernehmen. In diesen Zirkeln gibt es mit den „Lead Links“ zwar noch etwas, das entfernt an Vorgesetze erinnert. Deren Einfluss beschränkt sich aber darauf, die Rollen in den Zirkeln mit Mitarbeitern zu besetzen. Dabei sind sie darauf angewiesen, dass die Mitarbeiter eine Rolle auch übernehmen wollen, können ihnen keine Vorschriften machen, wie sie diese ausfüllen, und können auch nicht verhindern, wenn Mitarbeiter eine Rolle nicht mehr ausüben wollen.
Aber der Trick, mit dem im holakratischen Organisationskonzept die Autonomie der Mitarbeiter erhöht werden soll, ist derselbe wie im Harzburger Führungsmodell: Selbst die kleinsten Anforderungen werden schriftlich fixiert und so zu einer formal verbindlichen Verhaltenserwartung gemacht. Würde man die unterschiedlichen Rollenanforderungen an ein Mitglied in einer holakratischen Organisation ausdrucken, erhielte man Stellenbeschreibungen, die nicht selten an die hundert Seiten beinhalteten. Unweigerlich fühlt man sich an die nur wenig kürzeren Stellenbeschreibungen im Harzburger Modell erinnert, die sich noch in den Archiven manches deutschen Großunternehmens finden lassen.
Am Ende ist das Harzburger Modell grandios gescheitert. Neue Teilnehmer blieben aus, sodass der Umsatz einbrach. Die Harzburger Akademie musste Insolvenz anmelden und die Reste wurden von einer Firma aufgekauft, die nach ihrer Umbenennung in „Die Akademie“ versuchte, auch noch die geringsten Verbindungen zum Harzburger Modell zu verschleiern, und inzwischen ebenfalls Konkurs anmelden musste.[6]
Die Ursachen für den Niedergang sind vielfältig. Wie jede Managementmode verlor auch das Harzburger Modell irgendwann seinen Reiz. Es wurde deutlich, dass bei aller Plausibilität des Konzeptes dessen Einführung häufig mit größeren Stolpersteinen verbunden war. Nachdem fast jedes deutsche Großunternehmen mit dem Konzept experimentiert hatte, entstand nach Jahren der Dominanz eines Führungsmodells der Bedarf nach etwas Neuem. Kybernetische Führungssysteme kamen auf den Markt und verdrängten zunehmend das Harzburger Modell aus dem Managementdiskurs. In dieser Atmosphäre wurde die zunehmend offensiv thematisierte frühere Karriere des Begründers des Harzburger Modells, Reinhard Höhn, als SS-Gruppenführer im Reichssicherheitshauptamt und einer der Chefideologen im NS-Staat zunehmend zur Belastung und trug ihren Teil zum Niedergang der Akademie bei.[7]
In den Unternehmen, Verwaltungen und Krankenhäusern scheint das Modell aber aus einem anderen Grund gescheitert zu sein. Letztlich war das Modell, durch den Versuch die Anforderungen an die Mitarbeiter in seitenlangen Stellenbeschreibungen zu fixieren, nicht in der Lage, die Komplexität der Anforderungen in einer Organisation adäquat abzubilden. Es entstanden Formalitätsruinen, die mit der Realität der Organisation immer weniger zu tun hatten.[8] Das ist letztlich die Lektion, die man für neue Managementmoden, die eine höhere Autonomie der Mitarbeiter durch eine weitgehende Durchformalisierung der Organisation anstreben, lernen könnte – wenn man denn bereit wäre, sich zu erinnern.[9]
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant bei Metaplan Quickborn. Zuletzt erschien von ihm „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus 2020). Er leitet zurzeit ein Forschungsprojekt zum Harzburger Modell.
[1] Siehe zu Organisationsmoden einschlägig Eric Abrahamson: Managerial Fads and Fashions: The Diffusion and Rejection of Innovations. In: Academy of Management Review 16 (1991), 3, S. 586–612.; Eric Abrahamson: Management Fashion. In: Academy of Management Review 21 (1996), S. 254–285; Eric Abrahamson: Technical and Aestetic Fashion Fashion. In: Czarniawska, Barbara, Guje Sevón (Hrsg.): Translating Organizational Change. Berlin, New York 1996, S. 117–137; Alfred Kieser: Moden & Mythen des Organisierens. In: Die Betriebswirtschaft 56 (1996), S. 21–39; Alfred Kieser: Rhetoric and Myth in Management Fashion. In: Organization 4 (1997), S. 49–74.
[2] Zur funktionalen Vergesslichkeit bei Reformen siehe Nils Brunsson, Johan P. Olsen: The Reforming Organization. New York 1993. Immer noch lesenswert zur Funktionalität von Ignoranz ist der Klassiker Wilbert E. Moore, Melvin M. Tumin: Some Social Functions of Ignorance. In: American Sociological Review 14 (1949), S. 787–795.
[3] Siehe zur Bauart des Harzburger Modells die Schriften Reinhard Höhns, der die immer gleichen Grundideen in immer neuen Variationen präsentierte. Siehe für einen Einstieg Reinhard Höhn: Führungsbrevier der Wirtschaft. Bad Harzburg 1969.; Reinhard Höhn: Verwaltung heute. Autoritäre Führung oder modernes Management. Bad Harzburg 1970; Reinhard Höhn: Das tägliche Brot des Managers. Bad Harzburg 1978. Als einen kurzen Einstieg sei empfohlen Reinhard Höhn: Die Delegation der Verantwortung im Rahmen des Mitarbeiterverhältnisses. In: Erich Schnaufer, Klaus Agthe (Hrsg.): Organisation. Berlin 1961, S. 339–354.
[4] Parallel zum holakratischen Organisationsmodell wurden viele Prinzipien des Harzburger Modells in einem Buch „Demokratisierung in der Organisation“ erneut aufbereitet. Siehe Helmut Borsch, Dietmar Borsch: Demokratisierung in der Organisation. Das Verantwortungsprinzip und das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Stuttgart 2019. Ein Vergleich dieses sehr interessanten und bisher wenig rezipierten Buches mit dem holakratischen Organisationsmodel steht noch aus.
[5] Siehe zur Bauart des holakatischen Modells Brian J. Robertson: Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York 2015. Siehe für einen kurzen Überblick ders.: The Humanity of Holacracy. 4 Ways Holacracy Brings Out the Best in People 2017. Online unter: https://blog.holacracy.org/holacracys-human-side-36d601882d21.
[6] Zum Niedergang des Harzburger Modells siehe neuerdings ausführlich Alexander O. Müller: Reinhard Höhn. Ein Leben zwischen Kontinuität und Neubeginn. Berlin 2019, 226ff.
[7] Die Karriere von Reinhard Höhn im N Nikolas Lelle: „Firm im Führen“. Das „Harzburger Modell“ und eine (Nachkriegs-)Geschichte deutscher Arbeit. In: Werner Konitzer, David Palme (Hrsg.): „Arbeit“, „Volk“, „Gemeinschaft“. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus. Frankfurt a.M., New York 2016, S. 205–224; Adelheid von Saldern: Das „Harzburger Modell“. Ein Ordnungssystem für bundesrepubli kanische Unternehmen, 1960-1975. In: Thomas Etzemüller (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 303–329.S-Staat ist die Perspektive in vielen Arbeiten; siehe nur beispielhaft Bernd Rüthers: Reinhard Höhn, Carl Schmitt und andere. In: Juristische Zeitgeschichte 39 (2001), S. 2866–2871.; Michael Wildt: Der Fall Reinhard Höhn. Vom Reichssicherheitshauptamt zur Harzburger Akademie. In: Alexander Gallus, Axel Schildt (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930. Göttingen 2011, S. 254–274. Siehe auch neuerdings das in Frankreich stark diskutierte Buch Johann Chapoutot: Libres d’obéir. Le management, du nazisme à aujourd’hui. Paris 2020.
[8] Siehe dazu die einschlägige Studie von Richard Guserl: Das Harzburger Modell. Wiesbaden 1973. Kürzere Einwürfe finden sich in Richard Guserl: Bürokratie à la Harzburg. In: Allgemeine Betriebswirtschaft (1972), 5, S. 673–674; Richard Guserl: Konfrontation mit Harzburg. In: Allgemeine Betriebswirtschaft (1972), 24, S. 1211–1212. Immer noch lesenswert ist die systemtheoretisch informierte Auseinandersetzung mit dem Harzburger Modell aus den späten 1960er Jahren; Karsten Trebesch: Organisationssoziologische Analyse und Kritik des „Harzburger Modells“. Mannheim 1969. Kürzere Texte von Trebesch in Karsten Trebesch: Organisationssoziologische Analyse des „Harzburger Modells“. In: Hausinformation der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft (1970), 49, S. 1–4; Karsten Trebesch, Reinhard Höhn, Ch. Schuberth: Das Harzburger Modell im Kreuzfeuer. In: Plus 5 (1971), 3, 9-13.
[9] Weswegen es vielleicht aber sehr gut sein kann, nicht sich zu erinnern und nicht zu lernen wird ausführlich dargestellt in Stefan Kühl: Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation. Frankfurt a.M., New York 2015.