Wie man sich Flexibilität im Kleinen durch Inflexibilität im Großen verschafft
Der Anspruch des holakratischen Organisationsmodells ist, dass die formale Struktur durch einen von unten getriebenen Formalisierungsprozess permanent angepasst werden kann. Durch die einfache Veränderung des Zuschnitts von Rollen und Kreisen sowie deren Aufgaben soll es möglich sein, sich schnell an verändernde Bedingungen anzupassen. Eine inkrementale Verbesserung der formalen Struktur auch angesichts sich permanent verändernder Rahmenbedingungen soll das Ergebnis sein.[1]
Die Flexibilität in der Gestaltung der Formalstruktur im Detail endet jedoch, wenn es um die holakratischen Prinzipien im Allgemeinen geht. Die dynamische Steuerung der Organisation endet immer dann, wenn die holakratischen Prinzipien berührt werden. Der Grund für diese auffällige Starrheit liegt darin, dass die Organisationen nicht von sich aus die holakratische Verfassung, die der Garant dafür ist, dass die Organisation nicht schleichend wieder in eine durch Hierarchien und Abteilungen gebundene Organisationsstruktur zurückfällt, ändern kann. Die einzige Möglichkeit zur Anpassung der Verfassung besteht darin, dass das Beratungsunternehmen selbst eine neue Version der Verfassung verkündet, die dann gleich für alle holakratischen Organisationen verbindlich wird.[2]
Selbstverständlich könnte man einwenden, dass keine Organisation von einer Beratungsfirma daran gehindert werden kann, die Verfassung mit einem Federstrich wieder zu verändern. Diese dezentralen Anpassungen werden jedoch durch die enge Kopplung zwischen der holakratischen Verfassung und der holakratischen Steuerungssoftware blockiert. Die Anpassung der holakratischen Steuerungssoftware findet in größerem Rahmen immer nur dann statt, wenn das Beratungsunternehmen die Verfassung ändert. Deswegen ist es für die holakratischen Organisationen faktisch unmöglich, auch nur kleinere Anpassungen an den Grundprinzipien vorzunehmen, weil sie durch die für die Aufrechterhaltung der holakratischen Struktur existentielle Software nicht unterstützt wird.[3]
Jede Organisation steht vor dem Paradox, dass sie sowohl Redundanz als auch Varianz braucht, sie aber nicht beides zugleich anstreben kann.[4] Redundanz bezeichnet dabei die Sicherheit, mit der man davon ausgehen kann, dass die Grundlagen für Entscheidungen stabil bleiben, Varianz die Schnelligkeit, mit der diese Grundlagen sich ändern können.[5] In diesem Spannungsfeld zwischen Redundanz und Varianz sucht jede Organisationen bei der Gestaltung ihrer Formalstruktur einen Mittelweg zwischen der „Selbstlähmung perfekter Ordnung“ und der „Willkür perfekter Unordnung“ zu finden.[6]
Das Auffällige bei holakratischen Organisationen ist, dass sie Hyperstabilität in den formalen Grundprinzipien mit einer Hyperflexibilität bei der detaillierten Ausgestaltung der formalen Strukturen im Rahmen dieser Grundprinzipien kombiniert. Die in der organisationsübergreifenden Steuerungssoftware festgelegte Verfassung ermöglicht der Organisation zwar, flexibel Kreise und Rollen anzupassen, aber eine Modifikation ihrer formalen Grundstruktur ist faktisch unmöglich.
[1] Siehe Brian J. Robertson: Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York 2015, 19ff..
[2] Siehe für die Versionen https://www.holacracy.org/constitution/previous-versions-of-the-constitution
[3] Insofern sind die wenigen holakratischen Organisationen interessant, die ohne diese Software arbeiten. Diese sind bisher nicht systematisch in der Forschung untersucht worden. Die eine holakratische Organisation, die wir untersucht haben, die weder mit Holaspirit noch Glassfrog nutzt, ist interessant. Die ist sehr viel flexibler in der Anpassung ihrer übergreifenden Prinzipien, man kann aber auch deutlich, eine Auflösung der holakratischen Grundstruktur beobachten.
[4] Siehe dazu einschlägig James D. Thompson: Organizations in Action. New York 1967, 10ff.
[5] Siehe dazu Niklas Luhmann: Organisation. In: Willi Küpper, Günther Ortmann (Hrsg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Opladen 1988, S. 165–186, 173ff.
[6] Helmut Willke: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation. Weinheim 1989, 96f.
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