Zu den Möglichkeiten und Grenzen von „Turns“ in Gewaltforschung

Inzwischen wird alle paar Jahre in der Gewaltforschung ein neuer „Turn“ ausgerufen. Während sich in den 1970er Jahren die Forderung, mit dem Begriff der „strukturellen Gewalt“ nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse produzierte psychische Gewalt ins Blickfeld zu nehmen (siehe einschlägig Galtung 1975; siehe dazu kompakt Riekenberg 2008), noch vergleichsweise lange halten konnte, verkürzten sich die Zyklen seitdem erheblich. In den 1990er Jahren folgte zuerst im deutschsprachigen Raum mit der durch Heinrich Popitz (siehe besonders 1992, 43ff.) beeinflussten phänomenologischen Gewaltforschung eine Verlagerung hin zu der Frage, wie Gewalt konkret ausgeübt wird (maßgeblich Trotha 1997, 2000 und Nedelmann 1995, 1997).[1] Die in der auf den deutschen Sprachraum begrenzten phänomenologischen Gewaltforschung schon deutlich erkennbare mikrosoziologische Wende konnte aufgrund fehlender Sprachkenntnisse ein paar Jahre später im englischsprachigen Bereich in den 2000er Jahren erneut ausgerufen werden. Dadurch ließ sich auch der schon in der Gewaltphänomenologie angelegte Ansatz, die Ursachen für Gewalt konsequent in der Mikrodynamik der Situation zu verorten, nochmals verstärken (maßgeblich Collins 2008; siehe auch einzelne Aspekte der Theorie beleuchtend Collins 2009a, 2009b, 2011, 2012, 2013; vorher schon Katz 1988).[2] Es folgte dann – um nur einen weiteren Versuch eines Turns zu nennen – unter dem Begriff der „Gewalträume“ eine geopolitisch anmutende Hinwendung zur Analyse des Raumes, in dem es zur Ausübung von Gewalt kommt (siehe aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven nur beispielhaft Snyder 2010; Snyder 2015; Baberowski 2015).[3]

Wie auch in anderen Spezialsoziologien orientierten sich die Turns in der Gewaltsoziologie an übergreifenden Perspektivwechseln in den Sozialwissenschaften.[4] Die Entwicklung des Begriffs der „strukturellen Gewalt“ stand beispielsweise im Kontext eines gesellschaftstheoretischen Interesses, die durch die globale kapitalistische Wirtschaftsordnung produzierten Ungleichheiten in den Blick zu bekommen (siehe nur beispielhaft Holz 1972). Die Hinwendung zu einer Mikrosoziologie der Gewalt ging mit der übergreifenden Entwicklung einer sozialtheoretischen Perspektive einher, die letztlich alle gesellschaftlichen Phänomene über die Betrachtung von Mikrointeraktionen zu erklären versucht (siehe dazu explizit Collins 2019b). Der Versuch, dem Raum eine zentrale Bedeutung bei der Betrachtung von Gewalt zuzuweisen, steht in der Tradition eines allgemeinen Hervorhebens der Raumdimension in den Sozialwissenschaften (siehe zum „spatial turn“ Lefebvre 2000; ein Überblick bei Sheller 2017). Letztlich kann man an dieser Anfälligkeit gegenüber Turns erkennen, dass die Gewaltforschung inzwischen zu einer ganz gewöhnlichen Bindestrichsoziologie geworden ist – nicht systematisch integriert in umfassende soziologische Theorien, aber stark empfänglich für verändernde Stimmungen in und durch allgemeine soziologische Diskurse (siehe zur Etablierung der Gewaltforschung als Bindestrichsoziologie Hartmann 2017).[5]

Die Ausrufung eines neuen Turns erfordert eine gewisse Bereitschaft zur rhetorischen Dramatisierung.[6] Es sei doch, so die übliche Einbettung eines solchen Vorgangs, deutlich geworden, dass der bisher dominierende Ansatz seinen „Zenit mittlerweile überschritten“ habe. Dem in die Jahre gekommenen Ansatz würde es an „theoretischem Schwung“ fehlen, die „eigenen Unzulänglichkeiten und Widersprüche“ anzugehen. Angesichts dieser „Stagnation im Forschungsfeld“ sei es notwendig, einen neuen Ansatz einzuführen. Durch die Fokussierung auf eine bisher „unterbelichtete Dimension von Gewalt“ könnte, so die Ankündigung, nicht nur die theoretische Diskussion neu belebt werden, sondern auch neue empirische Zugänge erschlossen werden. Dabei – und hier ist dann ein expansiver Anspruch zu beobachten – würde man einen alten Turn nicht nur durch einen neuen ersetzen, sondern auch die Elemente der alten Turns produktiv integrieren und letztlich eine überlegene Perspektive etablieren.[7]

Die Tragik der Turns – und besonders deren Vertretern – ist, dass diese immer ein Verfallsdatum haben.[8] Die sich zwangsläufig ergebenen blinden Flecke einer gerade aktuellen Zentralperspektive führen dazu, dass entweder die Renaissance eines altes Paradigmas – ein „U-Turn“ – angemahnt wird, oder ein ganz neues Paradigma ausgerufen wird (siehe dazu Hüttermann und Ebner 2020, S. 507). Nach der Ablösung des letztlich alle Machtverhältnisse berührenden Begriffs der strukturellen Gewalt war es deswegen nur eine Frage der Zeit, bis die „Innovateure“ der Gewaltforschung eine Rückbesinnung der Analyse(n) auf die Ausübung körperlicher Gewalt einforderten, nur damit dann wieder für eine Rückkehr zu einem Konzept der strukturellen Gewalt plädiert werden konnte (siehe für ein solches Plädoyer Imbusch 2017b). Auf das aufkommende Interesse an makrosoziologischen Erklärungen für Gewalt folgte dementsprechend sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum der mikrosoziologische Turn der Gewaltforschung, der wiederum fast zwangsläufig die Klage über die Missachtung der übergreifenden Kontexte mit sich gebracht hat (siehe für solche Klagen nur beispielhaft Sutterlüty 2015; Groenemeyer 2016; Wieviorka 2014; Knöbl 2019a; Hoebel und Malthaner 2019; siehe auch Collins 2019a selbst).

Bei aller Tragik, die die Turns angesichts ihres sicheren Niedergangs besitzen, erfüllen sie in den wissenschaftlichen Debatten besonders eine wichtige Funktionen. Sie dienen dazu, eine bisher vernachlässigte Sichtweise herauszustellen und eine neue empirische Forschungsprogrammatik zu präsentieren. Die propagierte Zentralperspektive ermöglicht also nicht nur einen durch die Zentralperspektive geprägten kritischen Blick auf die bisher existierenden Arbeiten, sondern sie können auch konkrete Anleitungen für empirische Arbeiten liefern. Ein positiver Effekt eines Turns ist deswegen eine Vielzahl von nicht selten fruchtbaren empirischen Studien, die einen neuen Blick auch auf schon stark beforschte Phänomene ermöglichen.[9]

Der aktuelle Turn in der Gewaltforschung besteht in der Ausrufung einer Prozessperspektive. Die Klage ist, dass die Zeitdimension bisher unterschätzt wurde und deswegen die Entwicklung einer prozessualistischen Alternative notwendig wäre. Die Promotoren dieses Ansatzes – Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl – sprechen selbst von einer neuen „Heuristik“, aber es ist unverkennbar, dass es um einen neuen Turn geht. Während die beiden Prozesssoziologen sich in der Einleitung ihres als Plädoyer für eine neue Gewaltforschung angelegten Buches noch auffällig bescheiden präsentieren – es ist die Rede davon, dass der Ansatz nicht beanspruche, „die Lösung explanatorischer Probleme in der aktuellen Gewaltforschung“ zu sein oder „neue Theorien zur Analyse von Gewalt“ zu generieren (Hoebel und Knöbl 2019, S. 15) –, wird der Anspruch im Laufe der programmatischen Schrift immer höher getrieben.[10] Am Ende des Buches wird für Prozesse als eine neue Zentralkategorie der Gewaltforschung plädiert. Gar nicht mehr bescheiden ist dann die Rede davon, dass die „temporale Ordnung“ „den entscheidenden Ansatzpunkt“ darstellt, um Gewalt erklären zu können.[11] Eine prozessuale Perspektive hätte, so die Aussage, ein „inklusive[s] Potenzial“, um alle anderen Argumente „aufzunehmen und weiterzuentwickeln“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 199). Deutlicher kann man – trotz einer auffälligen Vermeidung des Wortes – einen Turn nicht ausrufen.[12]

Nach dem Ausrufen einer Prozessperspektive könnte man die beliebte Ausrufung neuer Turns in der Gewaltforschung – die „systemtheoretische Heuristik“ der Sinndimensionen nutzend – in vergleichsweiser einfacher Weise fortführen. Man müsste lediglich nach der Betonung der „Zeitdimension“ jetzt die Missachtung der „Sozial-“ oder der „Sachdimension“ in der Gewaltsoziologie beklagen und eine der beiden vermeintlich vernachlässigten Dimensionen als „den entscheidenden Ansatzpunkt“ zur Erklärung von Gewalt bezeichnen.[13] So könnte man die Sozialdimension in Form eines „institutionellen Turns“ in der Gewaltforschung gegen die Prozesssoziologie dadurch stark machen, dass eine dezidiertere Einbindung von beobachtenden Dritten in die Erklärung von Gewalt dringend benötigt wird (interessanterweise findet sich zeitlich parallel zum Plädoyer für eine Prozesssoziologie bei Knöbl 2019b auch ein Plädoyer für einen „institutionentheoretischen Turn“). Schließlich spielt die institutionelle Absicherung – die Akzeptanz durch anonyme Dritte – bei der Ausübung von Gewalt offensichtlich eine wichtige Rolle (siehe für einen solchen Ansatz Lindemann 2014, 245ff.; siehe auch Lindemann 2015 und Lindemann 2017). Aber auch eine als „thematischer Turn“ ausflaggte Hinwendung zur Sachdimension könnte erfolgreich sein, weil es offensichtlich einen zentralen Unterschied macht, ob bei einer Konfrontation zwischen Polizisten und Demonstranten die Gewaltanwendung mit einem staatlich abgesicherten Rollenhandeln legitimiert oder diese persönlich zugerechnet werden kann.

All diese – allein durch die Nutzung der drei Sinndimensionen generierten – Turns hätten ihre Plausibilität. Jede Gewaltanwendung hat eine Zeitdimension. Gewaltbereitschaften müssen sich aufbauen, es müssen Hemmungen abgebaut, die Gewalt selbst ausgeübt und danach sich selbst oder anderen gegenüber gerechtfertigt werden. Genauso gibt es in jeder Gewaltsituation eine Sozialdimension – es gibt Personen, die Gewalt ausüben, Opfer, die die Gewalt erleiden, in vielen Fällen auch Zuschauer und nicht zuletzt abwesende Dritte als Adressaten einer Gewaltausübung. Und in der Sachdimension geht es in der Regel auch um etwas – sei es nun die Auslebung aufgestauter Aggressionen, die Aneignung fremden Eigentums, die Produktion des Zusammenhalts in einer Gruppe, die Aufrüttelung einer passiven Masse oder die Vernichtung einer ethnisch oder religiös definierten Minderheit. Theoretisch erklärungsbedürftig und empirisch zu plausibilisieren wäre dann, weswegen ausgerechnet die ausgewählte Heuristik – ganz gleich, ob es sich hierbei um eine zeit-, sozial- oder sachsensible Form handelt – als Zentralperspektive propagiert werden sollte.

Als Systemtheoretiker hat man für das Ausrufen immer neuer Turns oder Plädoyers für eine stärkere Beachtung der einen oder der anderen Perspektive wenig übrig. Aber wenn man das Spiel des Ausrufens immer neuer Turns in der Gewaltforschung unbedingt weitertreiben will, dann sei jetzt schon für die nächsten Jahre ein – nicht ganz ernstgemeinter – Turn hin zu einer „systemsensiblen Gewaltforschung“ angekündigt. Statt den immer gleichen Hammer für die Betrachtung von Gewaltphänomen zu benutzen, käme es – so grob das Programm eines solchen Turns – darauf an, die sehr unterschiedlichen Systemzustände, die körperliche Gewalt rahmt, in das Blickfeld zu bekommen, um damit die jeweils spezifischen temporären Eigendynamiken und Entwicklungslinien, die Legitimität durch Dritte sowie die Stützung durch spezifische Erwartungsbildung über Personen, Rolle, Programme und Werte ernst zu nehmen. Damit würde man die Engführung auf die Interaktionen der Gewalt überwinden, weil nicht nur detailgenaue und differenzierende Blicke auf Kontexte von Gewaltinteraktionen – seien es nun Stämme, Familien, Gruppen, Organisationen, Bewegungen oder Staaten – erschlossen werden können, sondern weil sich auf diese Weise auch die Bedeutung der Eigendynamik der Gewaltinteraktionen präzise bestimmen lässt.[14]

Erst ein solcher Zugang ermöglicht, die Bedeutung der Zeitdimension systematischer einzuordnen.[15] Bei einigen Gewalttaten kann die Zeitdimension eine entscheidende Rolle spielen (siehe dazu zusammenfassend Kühl 2017; empirisch aufschlussreich die Beiträge in Ziegler et al. 2015). So kann man eine Schlägerei unter Jugendlichen (siehe Jackson-Jacobs 2013), Straßenschlachten in Großstädten (siehe Tiratelli 2018), die Entstehung eines Lynchmobs (siehe Klatetzki 2015) oder die Entwicklung von Pogromen (siehe Bergmann 1998; Bergmann 2003) sicherlich nur verstehen, wenn man die Eigendynamik von Mikrointeraktionen ernst nimmt. Wir wissen aus der empirischen Forschung – besonders von Forschungen in der Tradition von Randall Collins –, welche Bedeutungen Zufälle, Umkipppunkte und Selbstverstärkungen bei der Erklärung von solchen Gewaltsituationen besitzen. [16] Aber bei staatlich angeordneten Massenerschießungen, der Zuführung von Gefangenen aus dem Untersuchungsgefängnis zu Gerichtsprozessen oder der Hinrichtung von Verurteilten würde ein Zentralfokus auf die Zeitdimension zu grundlegend falschen Erklärungen führen. Gerade bei Gewaltausübungen im Rahmen von staatlichen Gewaltorganisationen ist, bei aller prozessdynamisch zu begründender Varianz, die Ähnlichkeit in den Gewaltakten erklärungsbedürftig.[17]

Um abschließend noch einmal die dramatisierende Rhetorik der „Turn-Sprache“ zu verwenden und damit die Aufmerksamkeit für diesen völlig neuartigen und alle anderen Ansätze integrierenden Ansatz zu erhöhen, sei darauf hingewiesen, dass erst durch eine solche „systemsensible Gewaltforschung“ sichergestellt werden kann, dass die Zeit-, die Sozial- oder auch die Sachdimension bei der Erklärung von Gewalt nicht unkontrolliert überzogen wird.[18] Gewalt hat – wie alle sozialen Phänomene – immer eine Zeitdimension, genauso wie sie immer eine Sachdimension sowie eine Sozialdimension hat. Aber erst wenn man diese Dimensionen im Rahmen einer „systemsensiblen Gewaltforschung“ theoretisch kontrolliert miteinander in Beziehung setzt, kann man Gewalt wirklich erklären.

 

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[1] Siehe auch, von Buch zu Buch leider immer stärker ontologisch werdend, Sofsky 1993, 1996, 2002; vielleicht am interessantesten Sofsky 1994. Siehe dazu auch kompakt Koloma Beck und Schlichte 2014, 122ff. . Zur Popitz-Tradition dieses Ansatzes sei besonders auf Trotha 2000 hingewiesen. Biographisch zu Popitz auch Christ 2014, 332f.

[2] Die Ähnlichkeit der Ansätze zwischen den selbsternannten „Innovateuren“ der Gewaltforschung sowie den Vertretern einer Mikrosoziologie der Gewalt sind mehr als auffällig, geht es doch beiden „um die Abwendung von rein auf Ursachen basierenden Kausalerklärungen und um die Hinwendung (zu) explizit körperlicher Gewalthandlungen und -erfahrungen in (Mikro-)Situationen“ (Braun 2020a, S. 8. Überspitzt ausgedrückt war der durch Collins ausgerufene „mikrosoziologische Turn“ in der Gewaltforschung nur durch die sprachlich bedingte Ignoranz gegenüber der zehn Jahre zuvor losgetretenen Debatte in Deutschland möglich.

[3] Ich habe mich hier nur auf einige Turns in der Gewaltsoziologie eingelassen, die besondere Aufmerksamkeit erhalten haben. Im Abschnitt über die Abgrenzungsfolie werden weitere behandelt, die – bei entsprechender sprachlicher Dramatisierung – ebenfalls als Turns zu verstehen wären.

[4] Siehe zum Beispiel zu den Turns in der politischen Soziologie Taylor 2010, 4ff. Angesichts all der Plädoyers für einen linguistischen, kulturellen, humanistischen, kritischen, kosmopolitischen, konstruktivistischen, reflexiven, feministischen, interaktionistischen, empiristischen, qualitativen, relationalen, emotionalen, prozessualen, postkolonialen oder digitalen Turn in der Soziologie ist es manchmal gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten. Siehe nur Kravchenko 2019.

[5] Vielleicht ist gerade die Gewaltsoziologie durch die Turns mit ihren jeweiligen theoretischen Verortungen und methodischen Implikationen als Bindestrichsoziologie schon viel konsolidierter als vielfach vermutet wird (siehe die Zweifel von Hoebel und Malthaner 2019, S. 7.

[6] Aus einer geschlechtersoziologischen Perspektive könnte es erklären, weswegen Turns – genauso wie „Zeitdiagnosen“ – selbst bei Berücksichtigung einer ungleichen Geschlechterverteilung in der Wissenschaft überproportional von männlichen Wissenschaftlern ausgerufen werden. Es erfordert einen gewissen Habitus, um sich die Ausrufung eines solchen Wendepunktes zuzutrauen.

[7] Die Formulierungen wurden hier nur beispielhaft verwendet. Sie finden sich aber, so oder so ähnlich, unter anderem bei Imbusch 2017a, S. 47, Hoebel und Malthaner 2019, 7f. sowie Hoebel und Knöbl 2019, S. 16 wieder. Die Rhetorik unterscheidet sich dabei nicht zwischen den verschiedenen ausgerufenen Turns in der Gewaltsoziologie. Interessant ist dabei, dass sich das genutzte Vokabular stark an der Rhetorik der Turns in anderen Bindestrichsoziologien orientiert. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, die auffällig häufige Nutzung der Metapher des „Überschreiten eines Zenits“ ein sicherer Indikator, um die Anfälligkeit für Turns in einer Bindestrichsoziologie zu identifizieren. Quantitative sprachanalytische Forschungen dazu könnten aufschlussreich sein.

[8] Zur Veränderung des Verständnisses von Gewalt in verschiedenen Funktionssystemen über Jahrzehnte hinweg, siehe aufschlussreich Neidhardt 1985; siehe kritisch zu „Fads“ in der Wissenschaft schon früh und sprachgewaltig Sorokin 1958. Im Anschluss an Beobachtungen zu Managementmoden gibt es einen interessanten Nachweis solcher Dynamiken am Beispiel der Organisationstheorie bei Kieser 1997.

[9] So zum Beispiel die eindrucksvoll ausgearbeitete, durch die Gewaltphänomenologie inspirierte Studie zum Bürgerkrieg in Angola von Teresa Koloma Beck 2012. Ein weiteres Beispiel wäre die durch die mikrosoziologische Gewaltforschung inspirierte Arbeit zur Gewalteskalation auf Demonstrationen von Nassauer 2019. Dementsprechend gibt es aber auch Anlass zur Kritik, wenn einem von einem Wissenschaftler vermeintlich ausgerufenen Turn keine empirischen Ausarbeitungen folgen – siehe nur die Rezeption des Buches „Vertrauen und Gewalt“ von Jan Philipp Reemtsma 2008. Übersehen wird dabei allerdings, dass Reemtsma das Buch nicht vorrangig soziologisch, sondern philosophisch angelegt hat und seine Illustrationen zu einem erheblichen Teil aus dem Feld der Literaturwissenschaften stammen. Das Buch hatte insofern – so jedenfalls meine Lesart – nie den Anspruch, empirische Arbeiten anleiten zu können.

[10] Randall Collins’ Anspruch scheint unterdessen auf den ersten Blick deutlich bescheidener: „The micro-interactional theory does not explain all aspects of violence; it complements other theories of long-term motivational patterns of individuals, and the organizational and institutional structures affecting the initiation and control of large-scale violence“ ( Collins 2013, S. 133). Bei genauerer Betrachtung hält er jedoch an seinem Konzept der „Microfoundation of Macrosociology“ (Collins 1981) fest und vertritt einen für Turns typischen expansiven Erklärungsanspruchs. Siehe dazu Kühl 2014, S. 79.

[11] Ganz im Sinne der üblichen Sprache zur Ausrufung von Turns heißt es wörtlich: Der methodologische Vorschlag „besteht darin, die Frage der Transitivität (bzw. der Intransitivität) von Ereignissen und damit ihrer temporalen Ordnung ins Zentrum kausaltheoretischer Erörterungen zu rücken, um Gewalt zu erklären. Dies liefert aus unserer Sicht den entscheidenden Ansatzpunkt, um nicht nur zu validen Erklärungen zu gelangen, sondern Erklärungsversuche gleichsam auch dezidiert kritisieren zu können“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 157) (die Kursivsetzungen auch für das „den“ jeweils im Original). Interessant wäre zu klären, wie diese Ausweitung des Anspruchs des Buches – quasi von der Heuristik zum Turn – zustande gekommen ist. Vielleicht ist es einfach eine Strategie, um bei möglicher Kritik den eigenen, am Ende des Buches sehr deutlich formulierten expansiven Anspruch mit der Formel zu schützen, dass es „nur um die Formulierung einer weiteren Heuristik“ gehen würde, eine solche Kritik also unangemessen sei. Siehe dazu die auch zweifelnden Anfragen von Braun 2020b, S. 327.

[12] Bei Andrew Abbott, sicherlich einem der interessantesten Vertreter Theorien mittlerer Reichweite, sind die Such- und Argumentationsheuristiken gleichrangig angeordnet; siehe Abbott 2004, 110ff. Theoriesystematisch kann man Heuristiken von Turns daran unterscheiden, ob – wie im Fall der Heuristik – gleichrangige Perspektiven gegenübergestellt werden oder ob – wie im Fall von Turns – ein prominenter Erklärungsanspruch eingefordert wird. Vertreter einer neuen Heuristik stellen diese also den anderen Heuristiken gegenüber, während Vertreter eines Turns ihrem Ansatz zutrauen, alle anderen Ansätze zu integrieren. In der Vergangenheit hat eine Verteidigungsstrategie von „Turn-Vertretern“ darin bestanden, den eigenen Anspruch zurückzunehmen und die eigene Perspektive nur als eine mögliche darzustellen. Aus einem mit großer Verve vertretenen Turn, der einst beansprucht hat, andere Perspektiven integrieren zu können, wird dann schrittweise eine Heuristik geschaffen, die letztlich nicht mehr Erklärungskraft beansprucht als alle anderen Ansätze auch.

[13] Niklas Luhmann hätte es sicherlich nicht gefallen, seine Sinndimension auf eine Heuristik zu reduzieren, aber vielleicht dient die theoretische Zurücknahme und die Ausflaggung als Heuristik der Anschlussfähigkeit außerhalb der Systemtheorie. Siehe für einen Überblick Luhmann 1984, 11ff. und für eine Durchführung in Bezug auf generalisierte Verhaltenserwartungen Luhmann 1972, 53ff. Ich folge hier einem Argumentationsschema, was mir zu Anfang meines Studiums mein damaliger Dozent Martin Heidenreich empfohlen hat. Wenn man soziologisch bei einem Thema nicht weiterweiß, dann kann man immer die drei Sinndimensionen als Suchheuristik benutzen. Man findet garantiert immer etwas.

[14] Die Betonung liegt auf „Gewaltinteraktionen“. Man wird eine Soziologie der Gewalt nie allein mit einer „interaktionsblinden“ Soziologie der Familie, der Bewegung, der Gruppe oder der Organisation bearbeiten können. Siehe zu letzterem, tendenziell das interaktionsfernste System, auch Luhmann 1964, S. 332: „Elementare Ordnungen“ – er meint hier sehr interaktionsnahe soziale Phänomene – „sind nie ganz ersetzbar, nie restlos in formales Verhalten auflösbar.“

[15] Siehe in dem Sinne auch Thomas Kron und Lena M. Verneuer 2020, S. 22, die dafür plädieren „fallspezifisch den untersuchten sachlichen, zeitlichen und sozialen Ausschnitt anzupassen“. Ob das mit ihrem struktur-individualistischen Grundmodells der soziologischen Erklärung gelingen kann, wäre noch zu prüfen.

[16] Das sind klassischerweise die Fälle, die auch Collins nimmt: impulsive Schlägereien, häuslichen Folterregimes, Amoktaten im Schulkontext oder Unruhen.

[17] Laura Wolters 2020, S. 118 weist zurecht daraufhin, wie problematisch es ist, dass sich die Gewaltforschung durch ihren mikrosoziologischen Bias eine hochproblematische  Einengung auf die „Außeralltäglichkeit“ eingehandelt hat. Die alltägliche Gewalt nicht nur in Form von Gewalt in Liebesbeziehungen oder Familien, sondern besonders auch in Form staatlich legitimierter Gewalt ist dadurch weitgehend aus dem Blickfeld geraten.

[18] Ich hoffe, dass das „Zwinkersmiley“ – um den Ausdruck des Europaparlamentsabgeordneten Martin Sonnenborn zu gebrauchen – am Ende des Satzes deutlich wird.

Veröffentlicht von Stefan Kühl

Hat vor zwanzig Jahren als Student die Systemtheorie in Bielefeld (kennen-)gelernt und unterrichtet dort jetzt Soziologie. Anspruch – die Erklärungskraft der Soziologie jenseits des wissenschaftlichen Elfenbeinturms deutlich zu machen. Webseite - Uni Bielefeld

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