Um die Führungsvorstellungen im Nationalsozialismus und in der Demokratie rekonstruieren zu können, muss zwischen zwei grundlegend verschiedenen Konstruktionsweisen von Managementmodellen unterschieden werden. In der einen Vorstellung wird versucht, Effizienz, Effektivität und Innovation durch ein Höchstmaß an Formalität zu erreichen, während in der anderen zur Erreichung dieser Ziele auf ein Höchstmaß an Informalität gesetzt wird. Wenn man sich die Vorliebe der Managementliteratur für auf Buchstaben reduzierte Modellbezeichnungen anschaut – „Modell X“, „Modell Y“, „Modell J“ –, dann könnte man an dieser Stelle von einem „Modell F“ und einem „Modell I“ sprechen.
Im „Modell F“ – dem Modell Formalität – ist es das Ziel, über genaue Rollendefinitionen eine möglichst hohe Zahl an Verhaltenserwartungen an die Organisationsmitglieder schriftlich zu fixieren und rechtlich zu kodifizieren. Die Erfolgsformel wird in der immer weiteren Detaillierung und Perfektionierung formaler Rollenerwartungen gesehen. Die Existenz von an Personen gebundenen, informalen Erwartungen in Organisationen wird zwar zur Kenntnis genommen, doch gibt es ein Bestreben, möglichst viele von diesen in formale Rollenerwartungen zu übersetzen. Die Menschen sollen, so die Vorstellung, wie Rädchen im Getriebe funktionieren. Metaphern, die für dieses Organisationsmodell verwendet werden, sind dann auch konsequenterweise Maschine, Mechanismus, Apparat oder Betriebssystem.
Bei Managementkonzepten, die auf dem „Modell F“ aufsetzen, wird auf eine zentrale Besonderheit von Organisationen abgezielt – nämlich die Möglichkeit, eine Mitgliedschaft unter Bedingungen stellen zu können. Wenn man Mitglied einer Organisation sein will, muss man bereit sein, die formalen Erwartungsstrukturen der Organisation zu akzeptieren. So lässt sich spezifizieren, zu welchen Zeitpunkten man in den Räumlichkeiten der Organisation anwesend sein muss, was während der Anwesenheit zu tun ist, auf welche anderen Organisationsmitglieder man zu achten hat und welche man ignorieren kann. Es handelt sich bei den formalen Erwartungsstrukturen um die „entschiedenen Entscheidungsprämissen“, die man akzeptieren muss, wenn man Mitglied der Organisation bleiben will.
Im „Modell I“ – dem Modell Informalität – sollen sich auf der Basis von Personenvertrauen möglichst viele Erwartungen in Organisationen informal ausbilden. Die Erfolgsformel besteht nach Ansicht der Verfechter dieses Modells darin, dem Drang zu einer zunehmenden Durchformalisierung der Verhaltenserwartungen in immer detaillierteren Rollenbeschreibungen zu widerstehen. Die Notwendigkeit formaler Rollenerwartungen wird zwar nicht negiert, diese sollen aber nur einen Rahmen für die auf Personenvertrauen basierenden, informalen Erwartungen bilden. Die Menschen sollen – so die Kurzformel – im Mittelpunkt der Organisation stehen. Metaphern, die für dieses Organisationsmodell verwendet werden, sind Organismus, Gemeinschaft, Lebenswelt oder Kultur.
Managementkonzepte wie das Modell Ibauen auf der Erkenntnis auf, dass es in der Welt der Organisation weit wilder zugeht, als es die gut kommunizierbare Formalstruktur suggeriert. Unter „Informalität“ werden dabei die bewährten Trampelpfade verstanden, die in einer Organisation immer wieder beschritten werden. Das „Informale“, das „Unterleben“ und die „Kultur“ sind Festlegungen auf die Art und Weise, wie in Organisationen entschieden werden soll. Es geht dabei um Entscheidungen, die nicht durch einen Unternehmensvorstand, einen Parteitag oder ein religiöses Oberhaupt zustande kommen, sondern die sich als Gewohnheiten eingeschlichen haben. Die Orientierung an diesen „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ können nicht als Mitgliedschaftsbedingung eingefordert werden, prägen aber häufig das Verhalten der Mitglieder mindestens genauso stark wie die formalen Erwartungen der Organisationen.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts bringen Managementvordenker allgemeine Handlungsempfehlungen für die Steuerung von Organisationen vor, in denen die Schwerpunkte entweder auf die Potenziale der Formalität oder der Informalität gelegt werden. Man kann die Geschichte von Managementkonzepten deswegen als einen Wechsel nicht nur zwischen Aufbau und Reduzierung von Hierarchien oder zwischen der Ausdifferenzierung oder Auflösung von Abteilungsgrenzen, sondern besonders zwischen Formalität und Informalität beschreiben.
Anfang des 20. Jahrhunderts war der Taylorismus dabei sicherlich der erste bedeutende Versuch, Effizienzvorteile durch eine weitgehende Formalisierung der Organisationsrollen mit Wenn-Dann-Regeln – sogenannten Konditionalprogrammen – zu erreichen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg prominenten Modelle der Führung im Mitarbeiterverhältnis und der Führung über Zielvereinbarungen lösten sich zwar von der Vorstellung, dass Organisationsmitglieder durch möglichst genaue Konditionalprogramme geführt werden sollten, setzen aber weiterhin auf die Möglichkeiten der Formalisierung – in diesem Fall durch die Festlegung genauer Zweckprogramme für alle Rollen in einer Organisation.
Als Reaktion auf die Versuche weitgehender Formalisierung bildeten sich immer wieder auch Organisationskonzepte aus, die auf die Ausbildung informaler Erwartungen setzten. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden zuerst Konzepte der kooperativen Werksgemeinschaft und darauf aufbauende der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft, in denen der Schwerpunkt auf die Ausbildung von personengebundenen, kollegialen Erwartungen bei der Erledigung von Aufgaben gelegt wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen dann Modelle einer „vergemeinschaftenden Personalpolitik“ auf, in denen die Bedeutung der Person in den Mittelpunkt der Erwartungsbildung gestellt wurde. Diese fanden zuerst in Japan, dann in den USA und schließlich in Europa unter dem Begriff der „Organisationskultur“ große Aufmerksamkeit.
Die grundlegende Unterscheidung zwischen den Managementmodellen, die durch eine möglichst detaillierte Beschreibung der formalen Struktur Erwartungssicherheit bieten wollen, und denen, die auf die Ausbildung informaler Strukturen setzen, um Orientierungshilfe zu leisten, ermöglicht es, Kontinuitäten und Brüche des Führungsdiskurses im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik zu beschreiben.
Auszug aus Stefan Kühl „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025, 24,- Euro).
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