Zielorientierte Bürokratie und der strafende Staat – Gespräch zur Handlungsfähigkeit von Verwaltungen

Im März erschien der Zwischenbericht der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“. Über dieses Papier haben Judith Muster, Stefan Kühl und Stefan Schulz in einem zweistündigen Gespräch diskutiert.

Stefan Schulz: Liebe Hörerinnen und liebe Hörer (Link zur Audioversion des Gesprächs), wir reden heute über den Staat und wie man ihn reformieren kann. Ein großes Wort. Der Staat sind grundsätzlich wir alle. Deshalb können wir uns einfach selbst beauftragen, über den Staat zu reden. Das machen ja Soziologen sowieso und heute sind ausschließlich Soziologinnen und Soziologen hier: Judith Muster und Stefan Kühl.

Stefan Kühl, du bist Professor für Soziologie oder ganz spezifisch Organisationssoziologie in Bielefeld. Judith, du bist auch Soziologin und arbeitest für einen Lehrstuhl in Potsdam. Du bist aber hauptberuflich bei Metaplan. Das ist keine Universität, sondern ihr befasst euch dort Tag ein, Tag aus mit fremden Aufträgen, die an euch herangetragen werden, um was zu tun?

Judith Muster: Wir beraten Unternehmen und Verwaltungen, manchmal auch Ministerialverwaltungen bei Fragen von Reorganisationen, Strategieentwicklung, Kulturentwicklung und all solchen Dingen. Was uns speziell macht, ist, dass wir diesen Beratungsansatz dezidiert auf organisationssoziologischem Fundament bauen und gebaut haben, schon seit über 50 Jahren. Das macht Metaplan ein bisschen anders als andere Beratung.

„Ich möchte quasi nur noch mit meinem Telefon reden und der Staat hat dann entsprechend zu reagieren. Wenn er mich nicht versteht, ist es Aufgabe der KI, das zu übersetzen.“

Stefan Schulz

Stefan Schulz: Ich kenne Metaplan nur aus Erzählungen, vor allem, weil du Stefan da auch mit drinhängst. Du hast Erfahrung mit dem Staat, mit Fragestellungen von Landesregierungen oder Verwaltungen.

Judith Muster: Genau, das sind Bundesverwaltungen, Ministerialverwaltungen auf Bundes- oder Landesebene oder Bezirksämter, die sagen, wenn wir uns digitalisieren, müssen wir doch mal miteinander reden. Es sind auch Anstalten öffentlichen Rechts oder andere nachgeordnete Bereiche, bundeseigenen GmbHs oder unterschiedlichen Formen, die Fragen zur Organisationsgestaltung haben.

Kernkritik an der Staatsreform-Initiative

Soziologische Stolpersteine im Papier

„Personalkultur“ als Leerformel: Der Ansatz, Verwaltungsprobleme über Personalfragen zu lösen, greift zu kurz und verwendet inhaltsleere Management-Phrasen.

Fehlende Detailgenauigkeit: Die Vorschläge operieren auf einer zu hohen Flughöhe und berücksichtigen nicht die praktischen Umsetzungshindernisse in den Behörden.

Verkennung der Organisationslogik: Die Reformvorschläge ignorieren die Eigenlogiken von Verwaltungsorganisationen (Hierarchie, Zuständigkeiten, Mitzeichnungsprinzip).

„Kompaktlösungen“ statt spezifischer Ansätze: Der Text bietet pauschale Lösungen (offene Referentenentwürfe, Praxistauglichkeitstests) statt differenzierter Maßnahmen für unterschiedliche Kontexte.

Verwässerung durch KI-Hoffnungen: Es werden unrealistische Erwartungen an die Digitalisierung und KI geknüpft, ohne die bestehenden Strukturprobleme zu lösen.

Problematische Verknüpfung von Migration und Sicherheit: Die thematische Verbindung dieser Bereiche reproduziert eine sicherheitspolitische Perspektive auf Migration.

Inkonsistente Gliederung des Textes: Der Bericht wirkt wie eine Sammlung verschiedener Expertenvorschläge ohne durchgängige konzeptionelle Linie.

Stefan Schulz: Dann sind wir ja schon ganz nah am heutigen Thema dran: Der Initiative für einen handlungsfähigen Staat. Also Senioren, die sich verdient gemacht haben in den großen Apparaten: Thomas de Maizière als ehemaliger Innenminister, Kanzleramtschef Pierre Steinbrück als Finanzminister, Andreas Voskuhle als Verfassungsgerichtspräsident. Sie haben Vorschläge gemacht:

Clips: Gerade weil Blockierungen und Erstarrungen nicht über Nacht, nicht einmal nur in einer Legislaturperiode entstehen, will die Initiative über den Tag hinausdenken. Sie ist bewusst breit und langfristig angelegt. Sie will Vorschläge erarbeiten, um unseren föderalen Rechts- und Sozialstaat, seine Leistungen, seine Angebote im Interesse der Bürger schneller, wirksamer, klarer und zuverlässiger zu machen. Ob es um Föderalismus oder Verwaltung geht, um Wirtschaft und Standort, Bildung und Soziales, Resilienz und Sicherheit, um Digitalisierung, Energiepolitik oder manchen Wandel in unserer Gesellschaft.

„Luhmann hat in einem älteren Text zur Reform des öffentlichen Dienstes so schön gesagt, dass Reform ein Leitwort ist, das Nachfolge religiöser Vorstellungen antritt.“

Judith Muster

Stefan Schulz: Jetzt hast du, Stefan, die Idee gehabt, dass wir darüber reden. Ich habe schon gescherzt, dass wir sowieso darüber reden können, weil wir Bürger dieses Staates sind und wenn jemand Vorschläge macht, betreffen diese auch uns. Also sind wir aussagebefugt. Hier geht es um den Staat. Judith und ich haben im Vorgespräch schon gescherzt, dass der Staat soziologisch nicht so richtig zu fassen ist. Es gibt jedenfalls keine Soziologie, die ich kenne, bei der Staat als Grundbegriff vorkommt. Kannst du uns sagen, was ein Staat ist, ohne zu schnell auf Verwaltung und Organisationen abzustellen? Was ist eigentlich ein Staat?

Stefan Kühl: Es gibt zwei Alternativen. Die eine ist, dass man den Staat über einen Raum definiert, in dem bestimmte verbindliche Regeln etabliert werden, unabhängig davon, ob die Bürgerinnen und Bürger das besonders gut finden. Man würde ihn etwa über Gesetze oder Verordnungen definieren, die erlassen werden und an die sich alle zu halten haben, die Bürger eines Staates sind. Verkehrsregeln sind das offensichtlichste Beispiel dafür. Wenn wir von Staat reden, um so zu tun, als wenn gehören wir zu dem Staat dazu, dann liegt dieses Verständnis von Staat vor. Man rekurriert darauf und sagt: Wir sind Betroffene dieses Regelwerks, die in einem Staat existiert, der unter anderem darüber legitimiert wird, dass wir an der Etablierung dieses Regelwerks mitwirken können. Die Rolle des Wählers oder der Wählerin hat deswegen eine wichtige Funktion, weil dadurch wenigstens der Eindruck suggeriert wird, dass es irgendeine Form der Mitgestaltungsmöglichkeit bei diesem Regelwerk gibt. Das ist die breitere Bestimmung von Staat, die dann eben für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Gäste gilt. Egal, ob diese Personen als Touristen da sind oder natürlich Personen, die hier permanent leben, sind, es gilt für alle die gleiche Form der Gesetzmäßigkeit. Genauso ist es umgekehrt, wenn wir in einem anderen Staat sind. 

Interessante Schwerpunkte der Staatsreform-Initiative

Hilfreiche Ansätze der Staatsreform-Initiative

Vereinheitlichung digitaler Standards: Der Vorschlag, kompatible IT-Systeme und einheitliche digitale Verfahren innerhalb der Bundesverwaltung zu schaffen.

Experimentierklauseln: Die Möglichkeit, neue Verwaltungsansätze zunächst zu erproben und aus Erfahrungen zu lernen, bevor sie flächendeckend eingeführt werden.

Abweichungskompetenzen: Der Vorschlag, Regelabweichungen zu formalisieren, wenn sie dem eigentlichen Sinn eines Gesetzes besser dienen als die strikte Befolgung.

Kritische Überprüfung der Drittmittelpraxis: Die Erkenntnis, dass der Wettbewerb um Drittmittel in der Wissenschaft zu viel Bürokratie erzeugt und Ressourcen bindet.

Zentralisierung bestimmter Verwaltungsprozesse: Sinnvolle Bündelung von Verwaltungsaufgaben wie Meldeverfahren auf Bundesebene statt Doppelstrukturen in 10.000 Kommunen.

Verbotsprinzip statt Berichtspflichten: Der Ansatz, weniger auf indirekte Steuerung durch Berichtspflichten zu setzen und stattdessen klare Verbote mit konsequenter Sanktionierung zu kombinieren.

Erhöhte Durchlässigkeit zwischen Ministerien: Die Idee, Personal flexibler zwischen verschiedenen Behörden einzusetzen und die Departmentisierung der Ministerien zu reduzieren.

Bei der Initiative handlungsfähiger Staat ist etwas anderes gemeint. Damit ist nicht gemeint, dass sich die Bürger anders zu verhalten haben. Es geht eigentlich um ein Verständnis von Staat als Organisation, bei der es Mitglieder gibt. Das sind dann eben nicht die 80 oder 82 Millionen und weitere Personen, die in dem Staat sind, sondern die Personen, die vom Staat beschäftigt werden: Verwaltungsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, Beamte. Wenn davon gesprochen wird, dass wir einen handlungsfähigeren Staat brauchen, dann geht es letztlich um diesen Nexus zwischen Politik, die bestimmte Rahmenbedingungen definiert, und der Umsetzung in hoffentlich effizienten Verwaltungsorganisationen.

Stefan Schulz: Wir finden da unsere Einflugschneise, wo wir uns davon freimachen, dass der Staat auch ein Staatsvolk, eine Sprache und eine Grenze hat. Wir machen Leute, die diesen Verwaltungsapparaten oder auch den Gerichten vorstanden, Vorschläge für diese Apparate, für die wir sagen können, das sind Organisationen. Es gibt Leute, die haben sich darauf beworben, Beamte zu sein, und die erfüllen ihre Aufgaben, machen Karrieren und setzen Ziele um. Es ist schwer, den Start zu fassen, aber diese 80 Seiten, die wir jetzt als Zwischenbericht bekommen haben, sind für Organisationssoziologen wichtig, lesbar und auch kritikwürdig. Es ist einfach unser Metier, würdest du sagen.

„Die radikalste Formulierung, die wir in der Organisationssoziologie dafür benutzen, ist der Begriff der brauchbaren Illegalität, also der Regelabweichung, die dafür da ist, den Sinn einer Regel durchzusetzen, auch wenn er der Regel selbst widerspricht.“

Stefan Kühl

Stefan Kühl: Ich habe vor kurzem ein nettes Buch von Frieda Günther, einem Historiker, gelesen: Verwaltungsstaat, die Verwaltungskultur der deutschen Innenministerien 1919 bis 1975. Etwa für Personen mit Spezialinteresse, aber ein charmantes Buch, weil der Autor unter anderem zeigt, wie früh die Reformbemühungen in Bezug auf Verwaltung eingesetzt haben, nämlich schon unmittelbar mit der Weimarer Republik. Schon sehr, sehr früh gibt es vergleichbare Initiativen zur Reform der Verwaltung. Der Begriff Verwaltungsstaat ist eben der Begriff, mit dem darauf verwiesen wird, um welche Komponente der Staatlichkeit es sich handelt, wenn man über sowas wie Initiative handlungsfähiger Staat spricht. Es geht um den Verwaltungsstaat, wo wir als Bürgerinnen und Bürger in gewisser Art und Weise Publikum sind, das von Verwaltungsentscheidungen betroffen ist. In der Leistungsrolle befinden sich dann vorrangig die Angestellten und Beamten, die für Verwaltung tätig sind.

Stefan Schulz: Wir sind die Ausgelieferten dessen, um was es hier geht. Das Inhaltsverzeichnis ist schon mal ganz interessant und damit auch unser Einstieg in diesen Text. Zuallererst wird die Gesetzgebung behandelt, danach folgt Föderalismus. Da ist man schon wieder bei, wie steht der Staat zu sich selbst? Also wir kennen ja unsere Trias aus Bund, Ländern und Gemeinden. Die Digitalisierung kommt auch relativ früh im Inhaltsverzeichnis und dann Sicherheit und Migration. Wenn wir dazu kommen, kann man zumindest pointieren. Da sind wir ganz schnell bei den Gästen und wie wir damit umgehen, aber auch bei Zukunftsfragen, die sich stellen: Wir haben einen Fachkräftemangel und verbuchen aber gleichzeitig Migration immer unter Sicherheit. Was im Innenministerium Gang und gäbe ist, schlägt sich auch im Text nieder. Datenschutz, auch sehr wichtig für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, Klima sowieso, Soziales, Bildung und dann nochmal allgemeine Prinzipien. 

Für uns am interessantesten und hier auch gleich als erstes ist Gesetzgebung, neue Gesetzgebungsverfahren. Ich werde mit meinen Pointen und Fragen dazu ein bisschen warten, denn ich möchte gerne einen ganz großen Wurf machen, den ich in diesem Text nicht finde. Ich möchte quasi nur noch mit meinem Telefon reden und der Staat hat dann entsprechend zu reagieren. Wenn er mich nicht versteht, ist es Aufgabe der KI, das zu übersetzen. So weit geht dieser Text nicht, denn wir haben es hier mit Fachbegriffen zu tun. Der Referentenentwurf, den wir schon kennen, soll jetzt ein offener Referentenentwurf sein. Plötzlich gibt es Praxistauglichkeitstests für Gesetze und neue Beteiligungsverfahren, aufschiebende Vetorechte und Normkontrollräte. Judith, du hast das rausgesucht als etwa, worüber du am meisten sprechen möchtest, weil du dich da zu Hause fühlst, wo wir schon sagen: Oh Gott, was sind denn das für Worte? Du hast in unsere Notiz reingeschrieben negative Koordination.

„Wir wissen, dass eine der größten Anpassungen und Modernisierungshinternisse in Organisationen besetzte Stellen sind, dass sie gerade in Beamtenstrukturen oder Verwaltungen extrem schwer zu verändern sind.“

Judith Muster

Judith Muster: Ich fand den Teil dieser integrativeren Gesetzgebungsverfahren interessant, weil das ein Kernproblem ist: Wie entstehen sie, wie laufen die Diskurse um diese Gesetze herum. Man hat natürlich mit Verfahren wie dem offenen Referentenentwurf eine Idee reingebracht. Zu sagen, wir machen es transparenter. Referentenentwürfe gibt es schon immer und die wäre die Idee des offenen Referentenentwurfs, den es auch schon mal gab. Die Idee dahinter ist, öffentlich zugänglich zu machen, was die Ideen sind, die im Raum herumschweben. Man hat das zum Beispiel bei der Urheberrechtsreform schonmal gemacht und hat dann die Möglichkeit, dass NGOs, Bürgerinnen und Bürgern, vielleicht sogar anderen Fachgremien sich zu den inhaltlichen Ideen zu äußern.

Und warum ist das interessant? Weil man damit die Idee verbindet, dass kluge Ideen, die irgendwo in der Welt herumschwirren, schon mit aufgenommen werden. Warum wird daran Kritik geübt? Das ist etwas, das man bei allen Beteiligungsverfahren relativ schnell hat. Viele Vorschläge, die dann kommen, werden nicht genutzt und fallen wieder hinten rüber. Man kann dann im Nachgang immer sagen, also die Vorschläge, die wir gemacht haben, die sind überhaupt nicht aufgenommen worden. Warum fand ich es eigentlich eine gute Idee, sich darüber Gedanken zu machen, wie finden Gesetzgebungsverfahren statt? Da bin ich auf den von Fritz Schabberg geprägten Begriff der „negativen Koordination“ gestoßen, weil meistens Gesetzgebungsverfahren von einem Haus aus initiiert werden und dieses federführend dafür ist, dass das Verfahren passiert. Es weiß aber, dass es sich mit anderen Häusern abstimmen muss und fängt dann schon an, mit sich selbst zu verhandeln. Die Diskursführung läuft meistens so, dass versucht wird, den anderen Häusern einen gut funktionierenden Entwurf vorzulegen, damit man ihn möglichst durchbringt. Dadurch senkt sich im Prinzip immer ein bisschen das Anspruchsniveau ab. Man koordiniert sich sozusagen ins Negative, verhandelt mit sich selbst und wird damit vielleicht gar nicht mehr dem gerecht, was man sich ursprünglich als Zweck vorgenommen hat. Das habe ich in verschiedenen Prozessen tatsächlich genauso beobachten können. So ein offener Referentenentwurf kann dem entgegenwirken, weil man relativ schnell transparent macht, welche Position man eigentlich hat. Man ist gegenüber dem Publikum einfach eine andere Verpflichtung eingegangen und kann diese Verhandlungen vielleicht ein bisschen weniger intern führen.

Stefan Schulz: Aber hat man es so häufig mit Konflikten zu tun? Wenn ich an Referentenentwürfe denke, gerade beim Thema Familie, da nimmt man nicht in einem anderen Haus was weg und die Budgetentscheidungen sind jetzt auch nicht immer so, dass man Angst hätte, zu früh mit irgendwelchen Sachen rauszugehen, weil man weiß, das wird in Verhandlungen verwässert und Ambitionen rausgestrichen. Aber das klang jetzt grundsätzlich so, als hätten wir es hier mit dem quasi allerersten Vorschlag zu tun, der als offener Referentenentwurf in der Geschichte vorkam und sich nicht bewährt hat. Steigen sie hier mit einer Idee in den Text ein, die schon zum Scheitern verurteilt ist?

„Auf der einen Seite fordern wir weniger schriftliche Berichte ein, aber erhöhen die Sanktionen bei Gesetzesverstößen. Wenn man das provokant sagen würde, ist das ein Lob des Verbots mit entsprechender Sanktionierung und Verzicht auf alle Formen von indirekter Steuerung.“

Stefan Kühl

Judith Muster: Ich glaube, das Problem dieses ganzen Textes ist in der Hinführung von dir, Stefan, gerade schon angeklungen, nämlich dass wir mit dem Staat vermittelt, also durch Organisation vermittelt anschauen und dass Organisationen bestimmte Eigenlogiken ausmachen, die hier quasi nicht mit durchdacht werden. Am Ende kommt es auf sehr, sehr genaues Organisieren an. Das wird aus meiner Sichtein bisschen durchträgt durch diese Diskussion des Papieres. Ein Beispiel dafür, wie Organisationen ticken, können wir auch nochmal genauer schauen. Die Ideen sind meistens gar nicht so neu, das sieht man an verschiedenen Stellen. Zum Beispiel kann man Dinge dezentralisieren oder zentralisieren. Da kommen wir beim Digitalministerium nochmal drauf. Man kann Referentenentwürfe geschlossen machen oder offen machen. Das kann jeweils aus einer bestimmten Perspektive Sinn ergeben. In einem bestimmten Fall habe ich zum Beispiel mal ein Referat in einem Landesministerium beraten. Es ging darum, einen integrierten Klimaschutzplan zu entwickeln. Sie hatten den alten Klimaschutzplan nicht gut umsetzen können, weil sie ein sehr breites Beteiligungsverfahren gemacht haben, was so ein offener Referentenentwurf im Prinzip auch wäre. Der Geburtsfehler dieses Plans war, dass die daraus entwickelten Maßnahmen überhaupt nicht mit der Logik der umsetzenden Häuser und der Verwaltungslogik in irgendeiner Form zusammenzubringen waren. Es wurde relativ wenig umgesetzt, weil man Jahre über die Federführung der einzelnen Maßnahmen stritt. Für dieses Ministerium oder für diese Konstellation war es sinnvoll, die nächsten integrierten Klimaschutzpläne nicht über ein breites Beteiligungsverfahren zu machen, sondern stärker die Organisationslogik der einzelnen Häuser einzubeziehen, um einen eher pragmatischen Plan zu machen. Der Vorteil des ersten Plans war das hohe Anspruchsniveau. Der Nachteil des zweiten Plans war das niedrigere Anspruchsniveau, sein Vorteil aber die höhere Umsetzbarkeit. Ich glaube, das ist das Problem, dass wir bei dem offenen Referentenentwurf als Beispiel einer Kompaktlösung haben: Sie soll jetzt immer gelten, aber man muss sich die Historie des Falles und auch anschauen, was in den unterschiedlichen Einheiten gerade opportun ist.

Stefan Kühl: Ich könnte mit einem gewissen Augenzwinkern sagen, wir hatten so eine Realanwendung des offenen Referentenentwurfs beim Heizungsgesetz. Immer dann, wenn der Referentenentwurf eines Hauses durchgesprochen wird, weil man möchte, dass schon im Vorfeld eine bestimmte politische Initiative ausgebremst wird, dann merkt man, was stattfindet, weil sich sofort die entsprechenden Interessensorganisationen draufwerfen und diesen Vorschlag zerlegen. Gleichzeitig ist die Unterstützung aus anderen Häusern nicht groß genug ist, weil sie noch nicht mitgezeichnet haben. Also dieser geschlossene Referentenentwurf hat den großen Nachteil, Judith du hast es angesprochen, dass man sich faktisch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Fast ohne Ausnahme alles, was da rauskommt, ist ambitionslos. Aber sie haben den Vorteil und sind durchverhandelt. Das heißt, die verschiedenen Häuser, die verschiedenen Ministerien stehen hinter diesem entsprechenden Referentenentwurf. Eine weitere Gefahr eines offenen Referentenentwurfs ist, dass er in der mikropolitischen Auseinandersetzung zerlegt wird. Neben der fehlenden Anschlussfähigkeit in der Umsetzung besteht das Zerlegen in den politischen Auseinandersetzungen, weil letztlich die Initiative nur durch ein einziges Haus getragen wird.

Stefan Schulz: Der offene Referentenentwurf, den könnten wir eigentlich als frühen Referentenentwurf reformulieren. Er kommt so früh, dass alle, die ihn lesen, wissen, da hat noch niemand viel Herzblut reingesteckt, das kann man noch zerreden.

Stefan Kühl: Da hat jemand schon sehr, sehr viel Herzblut reingesteckt.

Judith Muster: Das würde sich niemand trauen. Das ist halt das, was sowieso passiert. Man kann sagen, es gibt einen offenen Referentenentwurf und verhandelt trotzdem doch die federführende Stelle mit sich und weiß, was die zivilgesellschaftlichen Akteure wollen, was sie für politische Forderungen haben. Sie wissen, was die anderen politischen Akteure wollen, was die anderen Häuser wollen, was mikropolitisch intern opportun ist. Da ist schon in eigene Verhandlungen mit drin. Formal ist das vielleicht ein offener Referentenentwurf, aber das heißt überhaupt nicht, dass das informal nicht abgeteilt und abgestimmt ist. Ich glaube, dieser Druck, in die Öffentlichkeit zu gehen, ist so hoch, dass man eher über intransparentere Wege versucht, diesen Referentenentwurf abzustimmen. So sehe ich das manchmal bei Beteiligungsverfahren, was nicht heißt, dass in manchen Fällen ein offener Referentenentwurf eine total gute Idee ist. Fragt sich halt nur, ob das in allen Fällen so ist, weil der Abstimmungsaufwand informal vorverlagert wird.

„Am Ende sind es 700 Parlamentarier, 70.000 Staatsbeamte und 70 Millionen Menschen. Dieses Verhältnis dieser Beziehung läuft nur über Bürokratie.“

Stefan Schulz

Stefan Kühl: Das Problem dieser Formulierung ist ein Absatz, der zwar ganz zu Anfang steht, aber da mal so reingeschrieben wird, dass nicht gesagt wird, für wen dieser Referentenentwurf offen sein soll. Also soll der sofort an die breitere Öffentlichkeit gehen? Soll der erstmal nur mit den nachgelagerten Behörden geteilt werden? Soll der mit den anderen Ressorts geteilt werden? Es wird nicht spezifiziert. Es macht den Eindruck, da setzt sich ein Referent, eine Referentin hin, schreibt so einen Entwurf, lässt sich den durch ihre Ministerin absegnen und dann wird das in die Diskussion gegeben. Dann finden die Effekte statt, die du, Judith, beschrieben hast.

Stefan Schulz: Klingt so, als hätte man zwischen dem Eckpunktepapier, das die Idee auf drei Seiten zusammenfasst und dem Referentenentwurf, nochmal so eine Zwischenstufe vorgeschlagen, die aber begrifflich ein bisschen halbgar bleibt. Da kann man gut vergleichen. Die Vorschläge, die danach kommen, finde ich, sind auch beim Lesen sofort augenscheinlich prinzipiell neu: Praxistauglichkeit, Vetorechte und ein Normkontrollrat, der nochmal als beobachtende Stelle danebensteht.

Judith Muster: Und bei der Praxistauglichkeit würde ich sagen, gilt im Prinzip das, was du Stefan gerade gesagt hast, dass man nämlich nicht weiß, für wen. Also da stehen AdressatInnen, aber wer ist Adressat eines Gesetzesentwurfs? Auch da hat man verschiedene soziale Adressen: Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und so weiter. Mir fehlt dafür auch die Fantasie, wie denn Praxistauglichkeit jenseits von Beteiligungsverfahren wieder funktioniert, überhaupt geprüft werden soll. Diese Beteiligungsverfahren, das habe ich eben schon gesagt, die verkommen dann häufig zu Schauseitenveranstaltungen, die man relativ häufig hat. Da werden wir auch öfter für Moderation angefragt und sagen immer „Nein, Danke“, weil das einfach eine Situation ist, bei der man nochmal so tun soll, als hätte man alle beteiligten Akteure gefragt. Das soll dann semigut dokumentiert werden: Bitte schreiben Sie am Ende auf einer Flipchart die drei Fazits der Arbeitsgruppe auf und präsentieren diese. Da kommt bis auf die Tatsache, dass man die richtigen Leute eingeladen hat, wobei es egal ist, ob die kommen oder nicht, wenig bei rum. Insofern ist die Frage, was genau dahintersteht.

Stefan Kühl: Stefan, wenn ich da was Positives reinlesen möchte, geht das nicht in Richtung der Pathologien, die du, Judith, gerade beschrieben hast. Dann wäre die Idee, zu sagen, statt dass sich ein Ministerium zu sehr auf eine bestimmte Idee fixiert und schon einen Referentenentwurf aufsetzt, der intern gut abgestimmt ist, es eine Alternative sein könnte, sich mit den anderen beteiligten Häusern zusammenzusetzen und gemeinsam zu überlegen, wie so ein Referentenentwurf aussehen könnte. Das ist extrem schwierig, weil die Personen, die in den Referaten an solchen Vorlagen arbeiten, in den deutschen Ministerien einen unglaublichen Zwang haben, sich mit ihrer eigenen Hierarchie abzustimmen. Das heißt, es ist immer ein Prozess, der hoch problematisch ist, weil Ministerien extrem hierarchische Organisationen sind. Es wird immer nach oben gemeldet. Solange von oben nicht das „Okay“ kommt, legt man sich normalerweise nicht fest. Ich finde, eine interessante Alternative ist es, dass sich ein Ministerium anstatt sich auf einen Referentenentwurf festzulegen, Formate ausprobiert, die stärker versuchen, gemeinsam sowas wie diesen Referentenentwurf zu erarbeiten, ohne dass das Ambitionsniveau sofort ausfällt.

Judith Muster: Was ich daran interessant finde, ist, dass ganz viele Ideen, die da drinstehen, 

für bestimmte Fälle gute Ideen sind und für andere Fälle mit Folgeproblemen einherkommen, die man vielleicht nicht vorgesehen hat oder wollte. Was ich jetzt interessant finde an dem, was du sagst Stefan, ist, dass es eigentlich darum geht, bestimmte Interaktionslogiken in solchen Auseinandersetzungen, in diesem Fall Diskursen über Gesetzgebungsverfahren, auszuhebeln. Bestimmte Dinge passieren, wie zum Beispiel das Schnüren von Paketen oder ein kalkulierter Eklat. Dann nimmt man etwas rein, was abgeschossen werden kann, damit anderen nicht auffällt, dass man es durchwinkt. Das sind ja alles Techniken, für die man sich kluge Zeitpunkte überlegt. Ich habe mal gelesen, dass man während der Europameisterschaft, als die Stimmung gut war, versucht hat, schnell etwas durchzubringen. Das sind so kleine Techniken, die alle kennen und alle nutzen, die die tatsächliche Entscheidungsfindung verschleiern. Und alles, was im ersten Teil zu integrativeren Gesetzgebungsverfahren eigentlich steht, ist so gemeint, dass man versucht, Entscheidungsfindung transparenter und besser nachvollziehbar zu machen. Ich glaube, dafür helfen eben nicht Kompaktlösungen, also immer ein offener Referentenentwurf oder immer ein Praxistauglichkeitstest. Dabei hilft, dass man versucht, sehr stark versachlichte Diskurse anzulegen und sehr viel Aufwand da reinsteckt, diese Debatten so zu strukturieren, dass verschiedene Stimmen gut geführt zur Sprache kommen können. Das ist extrem aufwendig und viel schwieriger durchzusetzen, weil man das für jede einzelne Diskurs im Detail planen muss, anstatt zu sagen: Ja, offene Referentenentwürfe.

Stefan Schulz: Was ich interessant finde, ist dieser Gesamtkontext, dass diese Initiative solche Vorschläge macht. Herr Steinberg sagt auf der Bühne in der Bundespressekonferenz, dass der 21. Bundestag der Letzte ist, der nochmal bewusst den Staat von Seiten der Politik aus umbauen kann. Danach ist es freies Kräftespiel. Jetzt schon gibt es keine Zweidrittelmehrheit mehr für verfassungsgebende Mehrheiten, weil man weder die Linke noch die AfD unter einen Hut kriegt. Später weiß man gar nicht, ob das alles außer Rand und Band ist. Und ich glaube auch, die sind so ein bisschen von einer Zeitungslektüre getrieben, dass sie einfach das Heizungsgesetz im Nacken haben. Es war nicht nur ein großer Fauxpas, es liegt jetzt über der ganzen Politik, dass sowas passieren kann. Wenn ich jetzt diesen ersten Abschnitt nehme, da denke ich: Heizungsgesetz bedeutet, wir haben 40 Millionen Haushalte und kommen vielleicht auf 20 Millionen Heizungen. Also wenn man ein Gesetz so plant, eine ganze Energieversorgung für Wärme, eine Rohstoffversorgung umzubauen, dann wäre es ziemlich gut, relativ transparent, relativ früh und nicht zu spät mit eine kommunale Wärmeplanung in die Manege zu werfen, am besten als Text, bevor man irgendwas gemacht hat. Dann hätte man einen offenen Referentenentwurf, der auf ein Eckpunktepapier reagiert, aber sagt, wir haben schon mal einen juristischen Text geschrieben, aber ihr dürft alle noch mitreden, solange ihr Teil der Regierung seid. Es ist nicht nur unser Ministerium, es betrifft euch alle. Danach käme die Praxistauglichkeit, dann das Beteiligungsverfahren. Man baut Musterhäuser und sagt: So sieht das aus, wenn eine Wärmepumpe vor der Tür steht. Man bringt dann noch die ganze Wirtschaft um die Dämmung mit hinein. Wir haben hier einen Vorschlag, der für diese großen Gesetze in eine richtige Richtung geht. 

Nur wenn man sich den Alltag des Bundestags anguckt, vor allem in den Ländern, dann ist Arbeitsteilung angesagt. Da wird Politik als Beruf gemacht, damit nicht alle sich damit befassen müssen. Dann hat man schnell diese Open-Source-Paradoxie. Man sagt, das ist total Open-Source, da kann jeder reingucken, aber es guckt niemand rein, weil, warum sollte da jemals jemand reingucken? Wer sollte einen offenen Referentenentwurf zu „nehmen wir dieses Papier oder jenes für die Verpackung“ machen? Brauchen wir da einen offenen Referentenentwurf? Praxistauglichkeit? Wie viele Experten und wie viele Meinungen, wie viele Sachverständige braucht man? Es ist total abhängig von der Fragestellung, die man eigentlich hat. Vielleicht hätten hier die Autoren spezifizieren sollen. Es stehen immer solche großen Fragen an, aber es sind eben große, aber wenige Fragen, dass man mal eine ganze Heizungslandschaft, eine ganze Flottenlandschaft irgendwie umbaut. Für den Alltag gibt die Politik hier ganz schön vielen Leuten ganz schön viele zusätzliche Arbeitsschritte mit, die dann die Hände hochwerfen und sagen: Sorry, das ist uns zu viel.

Stefan Kühl: Dass diese Referentenentwürfe nicht gelesen werden, da mache ich mir wenig Sorgen, weil Interessensorganisationen, Lobbyorganisationen sind primär dafür zuständig, sich zu solchen Vorschlägen zu verhalten, da sie Interessen ihrer beauftragenden Organisationen durchzusetzen. Es gibt einen Punkt, bei dem man überlegen kann, wie man sowas aufzieht. Die Frage ist, an welcher Stelle bindet man bestimmte Inputs mit ein? Es könnte eine Variante sein, wenigstens punktuelle Einbindung laufen zu lassen, um zum Beispiel sowas wie Erfahrungsaustausch etwas systematischer zu machen. 

Aber das Kernproblem besteht aus meiner Sicht nicht in dieser Offenheit des Referentenentwurfs, sondern darin, dass bei der Erarbeitung von Gesetzesvorlagen mit drei Grundproblemen der deutschen Ministerialverwaltung umgegangen werden muss. Dazu sagen die vier Autoren und Autorinnen überhaupt nichts. Das eine ist das Denken in Zuständigkeiten. Das Faszinierende an Ministerien ist, dass letztlich jede kleinste Thematik aufgeteilt wird. Zuerst, welches Ministerium ist federführend zuständig, dann, welche Abteilung, welches Referat, welcher Referenten, vielleicht sogar noch welche Sachbearbeiterin. Das Prüfen, ob man zuständig ist oder nicht, ist eine der Hauptaufgaben einer deutschen Ministerialbeamtin. 

Das zweite Prinzip, das extrem wichtig in Ministerien ist, ist die Frage von Hierarchie. Also die Vorstellung, was so in diesem Agilitätsdiskurs läuft, also autonomes Handeln. Die Referenten und Referatsleitungen sind extrem kompetente Leute, aber aus bestimmten Gründen in die hierarchische Struktur ihres Ministeriums eingebunden. Deswegen dauern die Prozesse so lange, weil alles, was zwischen den Ministerien verhandelt wird, in der Hierarchie immer wieder abgestimmt werden muss. Das macht es so extrem schwierig, mit Ministerien zu arbeiten, zum Beispiel im Vergleich zu Unternehmen oder auch zu bestimmten Vereinen. 

Das Dritte ist das Prinzip der Mitzeichnung. Das ist ein faszinierender Begriff, der darin besteht, zu sagen, am Ende müssen die verschiedenen Häuser mitgezeichnet haben. Sie sind damit letztlich mit im Boot. Das ist der Druckmechanismus, der dazu führt, dass letztlich so ambitionslose Entwürfe am Ende entstehen und zwar deswegen, weil am Ende jedes Ministerium mit im Haus sein muss. Wenn man dennoch das Problem hat, dass das unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Interessen sind, die diese Häuser jeweils prägen, kann man sich vorstellen, was dabei rauskommt. Als ich das gelesen habe, dachte ich, „nett“ und „schön“, sind interessante Schlagwörter. Das ist beim offenen Referentenentwurf erstmal ein interessantes Konzept. Aber sie adressieren letztlich nicht das Grundproblem der Ministerialverwaltung in Deutschland, was dazu führt, dass genau die geschilderten Probleme entstehen. Das wird an der Stelle nicht angegangen. Dafür gibt es noch keinen Vorschlag von den vier Autoren und Autorinnen.

Judith Muster: Ich würde noch zwei Sachen hinzufügen, die vor allem für die Landesverwaltung gelten, nämlich dass sie die ausführenden Organe dieser Reformen sind. Sie sind gekennzeichnet durch eine extrem eingeschränkte Autonomie, was ihre eigenen Strukturen angeht. Sie können nicht einfach ihre Verwaltungsstrukturen ändern. Das, was Stefan eben als drei Kennzeichen gesagt hat, nicht einfach ändern können. Und da ist die Frage, ob das nicht reformierbarer sein müsste, wenn man tatsächlich etwas bewegen will. Die können nicht einfach Stellenstrukturen oder Entscheidungsprozesse ändern. Das andere, was damit zusammenhängt, ist, dass sie diese spezielle Rechtsgebundenheit haben und immer auf legitime Entscheidungen am Ende abstellen müssen. Die oberste Maßgabe ist die Erstellung rechtlich unangreifbarer Entscheidungen, die sie treffen müssen. Das beides macht sie extrem strukturkonservativ und nicht besonders veränderungsfreundlich.

Stefan Schulz: Da haben wir Angebote im Text. Bevor ich das sage, will ich euch einmal fragen als diejenigen, die über Metaplan Aufträge von einer bestimmten Stelle kriegen und mit anderen in der Organisation zu tun haben. Die Autoren, die hier auf federführend das Papier verantworten, sind Behördenleiter gewesen und zwar hohe politische Behördenleiter, die von oben draufgepflanzt und nicht von unten reingewachsen sind. Die bräuchten also, so wie ich das bei euch höre, selbst erstmal eine Aufklärung darüber, wie das eigene Haus arbeitet. Wenn man mittendrin steckt, dann weiß man gar nicht genau, was die machen mit einem Auftrag. Man kriegt gar nicht mit, wie viel Arbeit dahintersteckt, um da irgendwas beschlussfähig zu haben. Saßen da einfach die falschen Leute auf dem Podium, um uns zu erzählen, wie der Staat funktioniert und wie man ihn verändern müsste?

Stefan Kühl: Das würde ich nicht so sehen, weil extrem kluge Personen in dieser Kommission gewesen sind. Ich würde jedenfalls bei den beiden, die Minister gewesen sind, sofort unterstellen, dass sie wissen, wie Ministerien funktionieren und was ihre Probleme sind. Das sind absolute Kenner ihrer Materie. Bloß ändert das nichts daran, dass sie an ihrer eigenen Organisation leiden.

Also natürlich weiß ein de Maizière aus seiner Tätigkeit im Innenministerium, was Zuständigkeiten sind, weil er den Geschäftsverteilungsplan in seinem Ministerium unterzeichnet hat. Der weiß, wie Hierarchien funktionieren, weil er bei sehr vielen Entscheidungen darauf geachtet hat, dass durch sein Ministerbüro gelaufen ist, was unten im Referat erarbeitet worden ist, weil er in letzter Konsequenz dafür verantwortlich war. Vermutlich hat er häufiger am Abend über das Problem geschimpft, dass bestimmte Kollegen im Kabinett ihre Mitzeichnung nicht gegeben haben. Das heißt, sie wissen, was das eigentliche Problem ist. Aber es ist natürlich extrem schwierig, das im Detail aufzudröseln. Dann ist es leichter, einen offenen Referentenentwurf in den Raum zu stellen oder einen Praxistauglichkeitstest zu fordern, ein Sozial-, Energie- und Klimacheck. Dann soll der nationale Kontrollrat mit reinkommen. Es werden an der Stelle Handlungsempfehlungen gegeben, die von der Flughöhe viel zu hoch sind, um das faktische Problem der Zusammenarbeit in der Ministerialbürokratie anzugehen.

Judith Muster: Es ist ein bisschen ein Verkennen der Eigenlogik von Verwaltung, was hier passiert. Es gibt eine Anekdote aus einem Bundesministerium, wo eine Abteilungsleitung wirklich versucht hat, die Hierarchien aufzulösen, das auch grammatisch hinterlegt hat und allen einzeln erklärt hat. Dann hat sie versucht, mit den Leuten in ein Brainstorming zu gehen und hat selber gebrainstormt. Am Ende haben die Leute das, was die Abteilungsleitung als Brainstorming-Punkte eingebracht hat, umgesetzt, obwohl das noch gar keine fertigen Ideen waren, sondern nur maximal Ideen, Brainstorming. Es hat nicht funktionierte, die Hierarchie rauszunehmen und zu sagen, wir machen erstmal einen lockeren Ideenaustausch. Die Hierarchie im Raum ist genauso, denkt genauso mit wie alle anderen auch.

Jetzt muss man sich überlegen, warum passiert das? Warum werden solche Papiere mit so einer starken Rhetorik vorgebracht? Ich würde sagen, das liegt schon daran, dass man die Reformfähigkeit der Verwaltung mit unterstellen muss, also dass sich etwas verändert. Ich glaube, das ist es, was in dem Papier systematisch verblendet wird. Luhmann hat in einem älteren Text zur Reform des öffentlichen Dienstes so schön gesagt, dass Reform ein Leitwort ist, das Nachfolge religiöser Vorstellungen antritt. Das muss mit transportiert werden. Deswegen ist dieses Springen auf Kompaktlösung so verlockend, weil man sagen muss, dass sich durch einen offenen Referentenentwurf oder das aufschiebende Vetorecht tatsächlich etwas ändert. Das Gefährliche ist, dass man dabei verblendet, dass die Verwaltung als Organisation bestimmte Logiken hat, die man zwar auch ändern kann, aber das ist unendlich mühsam. Es ist von Haus zu Haus, von Ebene zu Ebene unterschiedlich, ein extrem langwieriger Akt und nicht so leicht überprüfbar, was auch kein politisches Kapital beinhaltet.

Stefan Schulz: Organisationen sind Superstar, Verwaltungen ohnehin.

Judith Muster: Extrastar.

Stefan Schulz: Superstar, Extrastar, Staatstar. Stefan, du hast jetzt aber gesagt, da arbeiten trotzdem kluge Leute und das ist auch so. Wenn man im Innenministerium mit den Leuten redet, die leiden tatsächlich daran, dass sie zwar federführend für Datenschutz waren, als ich zu meiner Zeit mit ihnen geredet habe, aber das Justizministerium immer eine Meinung hatte. Die sind nicht an persönlicher kognitiver Leistungsfähigkeit gescheitert, sondern an dem Gerangel, weil sie nie wussten, wann hat der Minister Zeit, um etwas zu machen. Man könnte sagen, am Ende ist es egal, wie die Verwaltung arbeitet, Hauptsache das Ergebnis stimmt. 

Da gibt es zwei Vorschläge im Text, die wir mal kurz aufgreifen. Das eine ist, Abweichungskompetenzen in ein Gesetz reinzuschreiben. Man formuliert gar nicht in voller Länge aus, für welche Realität man welche Gesetze schreibt und wer die Adressaten sind. Wenn welche auftauchen, die davon betroffen sind, können diese Anträge auf Abweichung von diesem Gesetz stellen, weil das im Gesetz vorgesehen ist. 

Das zweite sind Experimentierklauseln. Man schreibt in ein Gesetz rein, dass man sehr wohl weiß, dass die Realität mit ihrer Eigenlogik kommt und bereitet das vor. Das wird natürlich jetzt im Text nicht ausgeführt, aber ich finde soziologisch, wenn man die Frage stellt, bitte leitet uns an, wie wir etwas organisieren könnten. Da steckt einiges drin. Es macht auch ein bisschen Spaß, darüber nachzudenken, weil das den Staat wirklich ein bisschen fluide machen könnte.

Stefan Kühl: Das finden wir ganz gut, oder?

Judith Muster: Ja. Beides finde ich ganz spannende Ideen. Ich mache erstmal diese Experimentierklausel deutlich. Ich glaube, es ist eine schlaue Idee, Dinge in Verwaltungen auszuprobieren, zu lernen und umzulernen oder umzusteuern. Das ist sinnvoll, weil man in Verwaltung dazu tendiert, für neue Probleme alte Lösungen zu holen. Das kann man damit natürlich verhindern, weil man sagt, es ist nicht so gefährlich, eine neue Lösung auszuprobieren, man kann tatsächlich daran lernen. Dann gibt es wieder ein ganz fettes „Aber“ beim neuen Steuerungsmodell, Stadtplanungsbeispiele, Mobilitätsbeispiele, Carsharing, Stadtplanung, bei denen das schon passiert ist. Man hat auch wirklich gesehen, dass das die Variationsbreite an Lösungen erhöht wird und wenn man sich überlegt, wie Experimente ausgewertet in Organisationen werden, glaube ich, dass da der kritische Punkt sein würde. Da müsste man wieder genauer hinschauen und genauer organisieren. Nämlich bei der Frage, wie dann die Deutungshoheit für die Ergebnisse dieses Experimentes gestrickt sind. Also wer sagt, dass das ein gutes oder ein schlechtes Ergebnis war und wie damit weiter umgegangen wird. Es wird selektiert, dass das eine gute oder eine schlechte Idee war. Das finde ich interessant. Das ist wieder ein Beispiel dafür, zu sagen, dass Experimentierklauseln vermutlich für viele Fälle eine gute Idee sind, man aber genauer hinschauen muss. Man schauen muss, wie danach die Deutungshoheit verteilt wird, wer sie sich nimmt oder sich nehmen kann. Ist das diskursiv gesteuert?

Stefan Kühl: Ja, dem stimme ich zu. Ich glaube, dass generell diese Experimentierklausel eine Empfehlung ist, die für viele Veränderungsprozesse sinnvoll ist. Also nicht nur in der Verwaltung oder in Ministerien. Die Erfahrung, die ich jetzt in der Beratung von Unternehmen gemacht habe, ist, dass es in der Regel ein Fehler ist, zu sagen, „wir setzen uns jetzt zwei Monate zusammen, analysieren alles durch und dann erarbeiten wir einen Masterplan, den wir dann über die Organisation ausbreiten“. Dann stellt man plötzlich fest, dass man es an einer Stelle nicht durchdacht hat. Aber man ist gerade mitten im Rollout, deswegen müssen jetzt alle brav mitmachen. Der Vorteil von Experimentierklauseln besteht darin, dass man bestimmte Sachen ausprobieren kann. Dass es fast so eine Art darwinistischen Prozess gibt. Dass das, was ausprobiert wird, sich bewährt und Personen oder Organisationseinheiten anfangen, das zu kopieren und ein Druck entsteht, eine bestimmte Sache anders zu machen. Das ist der Charme aus einer organisationssoziologischen Perspektive mit Experimentierklauseln zu arbeiten. 

Was ich interessant bei der Abweichungskompetenz finde, ist die von oben vorgegebene Empfehlung, ab und zu eine Abweichung zu riskieren und zu dokumentieren. Der Hintergrund davon ist, dass wir es in Organisationen permanent mit Abweichung zu tun haben. Die Vorstellung, dass Verwaltungen statische Organisationen sind, ist völlig falsch, weil permanent Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einer extrem hohen Kreativität dabei sind, Sachen machbar zu gestalten und bestimmte Regeln so zu interpretieren, man könnte auch sagen umzudeuten, dass sie eine Sinnhaftigkeit ergeben. Die radikalste Formulierung, die wir in der Organisationssoziologie dafür benutzen, ist der Begriff der brauchbaren Illegalität, also der Regelabweichung, die dafür da ist, den Sinn einer Regel durchzusetzen, auch wenn er der Regel selbst widerspricht. Das Problem bei brauchbarer Illegalität ist aber, dass die Organisation sie in der Regel nicht mitbekommt oder sie in der Regel nicht besprechbar gemacht wird, weil das alles verboten ist. Das heißt, die Regelabweichungen finden häufig so statt, dass die Spitze der Organisation sich in der Illusion halten kann, dass ihre Regeln geeignet sind. Abweichungskompetenz bedeutet, ich melde mich und sage, liebe Vorgesetzten, lieber Gesetzgeber, ihr habt eine gute Idee, ich verstehe die Intention, ich halte das aber in der vorgegebenen Form für ungeeignet. Ich mache das übrigens anders als es eigentlich dem Gesetzestext oder der Verordnung entspricht, markiere das aber und bin bereit, das durch zu argumentieren. Das ist eine Form von fast formalisierter brauchbarer Illegalität und ist irgendwie ein Oxymoron, weil es sich widerspricht. Aber das ist die dahintersteckende Idee. Ich finde das in der ganzen Allgemeinheit, in der es hier gehalten ist, einen interessanten Ansatzpunkt.

Stefan Schulz: Ja, ich finde das auch wahnsinnig interessant. Wir haben sowieso einen großen Dreh in diesem Text, der sagt, wir müssen von diesem Vorsorgeprinzip weg. Lieber härter bestrafen, aber es erstmal darauf ankommen lassen. Und gleichzeitig haben wir im Publikum, für das das ja alles gedacht ist, immer häufiger heute die Erfahrung, dass sie eigentlich Alltagstechnologien zur Verfügung haben, die ihnen so ein Trial und Error erlauben. Man steht in der Küche, hat ein Küchengerät und probiert mal ein Rezept aus. Wenn es nicht klappt, probiert man es wieder und so weiter und so fort. Oder wir bauen erstmal ein Dummy. Ich lasse mir einen Text inhaltlich von GPT vorstrukturieren und setze mich dann dran und schreibe. Es ist so eine grundsätzliche Herangehensweise an die Welt, in der man mehr experimentiert, bis man auf den Start trifft. Dann ist man da und dann heißt es, sie müssen ihren Ausweis mitbringen, ansonsten kann ich gar nichts. Dann hat man den vergessen und kann man ihn nicht nachreichen? Nein, das kann man nicht mit der Post verschicken. Überall geht es so hart zu und ich finde das interessant, dass man den Verwaltungen sagt, wir brauchen für diese Gesetze, die wir planen, ganz schön viel Intelligenz, aber die ist nicht in-house. Wir müssen sie gemeinsam mit dem Publikum entwickeln. Wie so ein Künstler, der sagt, wir haben jetzt Internet, wir müssen die Sachen nicht mehr irgendwo planen. Dann wird das generalstabsmäßig ausgerollt und man entwickelt es mit dem Publikum, was grundsätzlich ein neues Verhältnis zum Bürger ist, der eben, wie häufig kritisiert, so eine Anspruchshaltung hat und genau weiß, was ihm zusteht. Es ist eine Forderung, experimentieren für beide Seiten. Für die Abweichung muss man einen Antrag schreiben. Man muss in der Lage sein, zu schreiben, was man will. Man muss in der Lage sein, seinen eigenen Willen auszudrücken. 

Stefan, als du das erzählt hast, dachte ich, so laufen doch die juristischen Diskurse. Wir haben doch überall Originalisten, die versuchen, hinter den geschriebenen Text zu kommen. Was wollten die Gründungsfelder eigentlich haben? An uns werden uralte Gesetze angewendet, weil sie nicht dem Wort nach, aber der Sinnhaftigkeit nach, plötzlich dienlich sind. Das finde ich interessant. Wir sind jetzt in einem Zeitalter, wo man GPT ein ganzes Gesetzesbuch gibt und anfängt mit der KI darüber zu diskutieren, was da drinsteht. Es ist richtig, Fragen nach dem Sinnursprung zu stellen.

Ich möchte es sehr zuspitzen. Ich habe eine große Kritik an diesem Text, denn ich möchte das natürlich alles KI-mäßig haben. Aber dass man jetzt auf latenten Sinnstrukturen den Bürger plötzlich ermächtigt, ihm eine objektive Hermeneutik mit irgendwelchen Texten gibt. Dann sagt man sich, das akzeptiere ich so nicht. Das, was das Gesetz will, kann ich auch so und so. Können wir das nicht experimentieren? Vermutlich wird auf beiden Seiten so mehr experimentiert. Die Frage ist halt, wie schreibt man dann jemals wieder Gesetze?

Stefan Kühl: Vielleicht bin ich bescheidener von meinen Ansprüchen her. Ich habe ein konkretes Beispiel, das mich umtreibt. Interessanterweise gibt es keinen eigenen Absatz zu Steuern. 

Stefan Schulz: Sozialstaat, ja, Steuern nicht.

Stefan Kühl: Steuern nicht. Ganz interessant, dass die ganze Frage der Finanzierung des Staates rausfällt. Ich habe eine nette Variante mit meinem Finanzbeamten. Ich bin ja eigentlich Universitätsprofessor und er muss jeden Monat meine Umsatzsteuervoranmeldung machen. Das ist eine hochinteressante Angelegenheit, weil es nicht darum geht, eine reale Steuer zu erheben, sondern darum, anzuzeigen, was voraussichtlich am Ende des Jahres die Steuer sein könnte. Das ist ein Indikator, den das Finanzamt braucht. Und weil ich normalerweise beschäftigt bin und ein Privatleben und Familie habe, komme ich nicht dazu, meine Umsatzsteuervoranmeldung rechtzeitig abzugeben. Dann kriege ich immer ein Mahnschreiben, wo gesagt wird, Herr Kühl, schon wieder Sie. Dann lege ich Widerspruch ein, er wird mir die Strafzahlung erlassen, aber mein Finanzbeamter ist genervter. Ich habe ihm vorgeschlagen, hören Sie, ich überweise Ihnen das, was Sie voraussichtlich als Umsatzsteuer bekommen, zu Beginn des Jahres komplett rüber, sogar das Doppelte davon, mache am Ende eine Abrechnung, wenn Sie mich nicht jedes Mal nerven mit der Umsatzsteuervoranmeldung. Wie reagiert er drauf? Er sagt nicht, das ist eine interessante Abweichungskompetenz, die Sie da vorschlagen, sondern sagt, nein, das geht nicht. An solchen Punkten, denke ich mir, wenn es gelingen würde, diesen Elan des Papers so umzusetzen, dass solche Sachen möglich sind, wo der Staat ja nur profitiert, er kriegt das Geld vorher und entlastet gleichzeitig die Steuerzahler vom Bürokratieaufwand. Auf dem Konkretisierungsniveau muss das am Ende seinen Ausgang finden. Aber stattdessen bin ich mir sicher, die können jedes Jahr so ein Papier raushauen. Dieses Thema der Umsatzsteuervoranmeldung, diese Diskussion, die werde ich bis an mein Lebensende mit meinen Finanzbeamten führen. Sie werden zunehmend genervter werden, weil der Kühl wieder zu spät liefert. Ich werde zunehmend gestresster, weil ich denke, meine Güte, jetzt brauchen sie schon wieder so ein Ding. An der Stelle, glaube ich, ist es notwendig, anzusetzen. Die Vorstellung, dass sowas am Ende über KI laufen kann. Vielleicht ist es so, dass die religiösen Bezüge in Bezug auf Reform auch ein bisschen angereichert werden durch religiöse Bezüge in Bezug auf künstliche Intelligenz. Die Hoffnung, dass das so wie ein magisches Instrument darübergelegt wird und am Ende haben wir einen funktionierenden Start.

Stefan Schulz: Ich denke dabei auch an dich, denn eine monatliche Umsatzsteuervoranmeldung ist natürlich nervig. Wenn du eine Dauerfristverlängerung machst, kannst du es wieder quartalsweise machen, du hast dann immer entsprechend Zeit. Ich denke aber vor allem an die alternde Gesellschaft, die nicht nur alternd, sondern auch immer anspruchsstellender wird. Thomas de Maizière war es, der in der Bundespressekonferenz sagte, wenn sie alleinerziehend sind und noch Eltern mit Pflegestufe haben, dann haben sie es mit 17 verschiedenen Kategorien der Hilfe zu tun, die sie beim Staat beantragen können. Wenn sie dann auf das Kind zu sprechen kommen, müssen sie jeder Behörde sagen, was sie meinen, denn jede Behörde hat eine andere Definition von Kind. Da haben wir genau diese Absurdität. 

Stefan Kühl: Steinbrück war das derjenige, der es gesagt hat, genau, weil das durch die Tagesschau gespielt worden ist, weil das das anschauliche Beispiel aus dem Bericht gewesen ist.

Stefan Schulz: Jetzt wird es wahnsinnig interessant, denn typischerweise sagen wir, so viele unterschiedliche Definitionen von Kind, das ist kafkaesk. Franz Kafka ist eigentlich der beste Organisationserklärer, der uns humoristisch reinholt, bis wir in dieser Arbeitsebene versuchen, irgendwie Verbesserungsvorschläge zu machen. Für genau diese kognitiven Bergwerksarbeiten, sich Meter für Meter vorzuarbeiten, die das bedeutet, da springt KI rein und zwar nicht, weil sie super klug ist, sondern weil sie den Umgang mit den blöden Standardkram mit sehr strukturiert vorliegenden Daten kann. Das funktioniert 1A. Dafür brauchen wir keine neuen Techniksprünge. Da geht es nur um die Produktebene, dass man das richtig anwendbar macht. Da sind wir nämlich schon ganz weit. Ich glaube, die künftigen Fragen für so Beratung, wie macht man das mit dem Staat und dem Einzelne und der Beziehung zum Staat, werden künftig dadurch verändert. Das spielt sich im Text so gar nicht nieder, obwohl es eine Einflugschneise gibt. Später sagen sie, Deutschland soll wettbewerbsmäßig eine große Rolle spielen und dafür brauchen wir den Staat als strategischen Investor. Aber es wird nicht ausgeführt. Diese Verbindung zu den ersten Kapiteln wird nicht geschlagen, obwohl ich finde, die gehört da unbedingt hin. Aber wenn ihr das soziologisch noch auf euch zukommen lassen wollt, reden wir über die zweite große Hürde.

Stefan Kühl: Nein, ich warte bloß, weil wenn ich das Thema Digitalisierung höre, gucke ich immer zuerst Judith an, weil ich zwar Meinung dazu habe, aber mich eher als Dilettant in dem Thema begreife.

Judith Muster: Ja, ich bin zuständig für die schlechten Nachrichten, weil was du jetzt machst, Stefan, ist eine Utopie zu beschreiben, wie es am Ende aussehen könnte. Das ist vielleicht eine schönere als die Utopie offener Referentenentwurf oder Experimentierklausel oder aufschiebendes Vetorecht, aber es ist eine normative Setzung, wie man es gerne hätte. Man muss einfach sagen, wie durchsetzbar ist das in diesen Institutionen, in diesen Organisationen, die wir vor der Brust haben. Was ich jetzt sage, was du beschreibst, wird sehr viele Menschen, sehr viele Stellen ersetzen. Wir wissen, dass eine der größten Anpassungen und Modernisierungshindernisse in Organisationen besetzte Stellen sind, dass sie gerade in Beamtenstrukturen oder Verwaltungen extrem schwer zu verändern sind. Ich mir das mal spaßeshalber für den Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunk überlegt. Das kann man für jede beliebige Institution machen. Man kann sich überlegen, welche Strukturreformen überhaupt möglich sind, wenn man zum Beispiel Bereiche zusammenlegen oder Strukturen zentralisieren und verschlanken will. Das kannst du abgleichen mit den handelnden Personen auf den jetzigen Stellen und deren Verrentung. Das ist faktisch so. So funktioniert leider Reform in solchen Organisationen. Ich finde, das muss man mitbeschreiben, wie das bitte gehen soll.

Stefan Kühl: Ich glaube, die Problemlage besteht darin, dass zu viel Hoffnung auf das Thema KI projiziert wird. Ich habe kaum eine Konferenz im Verwaltungsbereich, wo künstliche Intelligenz nicht extrem prominent vorkommt. In Unternehmen dreht sich fast jede Diskussion in irgendeiner Art und Weise um künstliche Intelligenz. Was ich mir systematisch angewöhnt habe, ist, zu fragen, zeigt mir doch mal bitte die Anwendung, die zum Beispiel diese Effizienzvorteile oder diese Innovationsvorteile bringt. Dann wird in der Regel gesagt, haben wir. Wenn ich dann sage, ich möchte sie aber in der Anwendung sehen, dann ist das in der Regel nicht besonders originell. Ich habe noch keine wirklich bahnbrechende KI-Anwendung gesehen, von der ich sagen würde, jetzt ist wirklich von einer revolutionären neuen Veränderung zu sprechen. Solange ich die nicht gesehen habe und sie mir in der Anwendung gezeigt wird, gehe ich davon aus, dass das Wunschbilder sind, die als Lösung für Probleme begriffen werden, die man sonst nicht in den Griff bekommt. Zum Beispiel das Problem von fehlendem Personal. Das kennen wir seit 50 Jahren. Künstliche Intelligenz hat immer die Funktion gehabt, zu sagen: Wir haben hier Strukturprobleme, aber mit der künstlichen Intelligenz wird alles anders werden. Jetzt sind wir im fünften Zyklus, in dem die künstliche Intelligenz als magisches Mittel propagiert wird. Vermutlich ist in zwei, drei Jahren die Enttäuschung da. Man stellt fest, das Ding wird trotzdem Verwaltung nicht so revolutionieren, wie man sich das ursprünglich erhofft hat.

Stefan Schulz: Ich will ein Beispiel nennen, nur um es auch für die Hörerinnen zu konkretisieren, bevor wir über diesen Hammer-Personal reden. Also meine Vorstellung ist, die Vorschläge sind nicht originell. Und das ist das, was ich meine. Originalität ist nicht gefragt, gefragt sind diese kleinen kognitiven Handarbeiten, die man die ganze Zeit machen muss, derer man sich entledigen kann. Ein ganz konkretes Beispiel: In Deutschland ist die Pflege so organisiert, dass jedes Haus sich selbst managt. Es gibt nicht einen Antrag oder einen Datensatz über einen Selbst, der vom Arzt angereichert wird mit notwendigen medizinischen Informationen. Den hat man liegen und gibt ihn einfach den Häusern und sagt, wir bewerben uns um den nächsten freien Platz, aber jedes Haus verschickt eigene PDFs. Die wollen immer dieselben Informationen, aber jedes PDF ist nach Hauslogik aufgebaut. Da könnte man in den Häusern eine Reform machen, damit alle mit demselben Dokument nach außen gehen oder man könnte von Gesetzes wegen das Standardformular vorschreiben, das man in jedem Haus abgibt mit einer aktuellen Datumsunterschrift. Oder man sagt einfach der KI, das ist mein Datensatz, das ist das Formular, finde selber raus, wo die Adresse hinmuss und wo die ärztliche Information. Füll es einfach aus. Man schafft da eine Schnittstelle, die nicht besonders originell ist und auch nicht besonders viel Intelligenz braucht, die einfach nur dieses Formular ausfüllt. Guck nochmal drüber, ob es richtig gemacht wurde. Einfache Arbeiten, die man typischerweise an Hospitanzen, Praktika und so vergeben kann. Die kleinen Helferlein, die Assistenten. Da gäbe es relativ viele Schnittstellen beim Thema. Ich war hier in Frankfurt zum Beispiel bei der Behörde und habe einen Kinderreisepass für meine Tochter beantragt. Dann wird mir vor Ort gesagt, Sie brauchen hier als Vater für das Kind den Ausweis. Sie müssen uns zeigen, dass Sie der Vater sind. Im Gesetz steht das aber nicht drin, das macht einfach das Haus. Ich könnte mich also Stundenlang durch das Gesetz wühlen und sagen, jetzt bin ich am besten vorbereitet, und dann treffe ich vor Ort auf eine Verwaltungspraxis, die über das Gesetz hinausgeht. Da wünsche ich mir einfach, dass ich einfach mit dem Haus schon mal KI-mäßig kläre, was ich morgen brauche.

Judith Muster: Was ich ganz hübsch finde, ist, dass du quasi die Probleme des Föderalismus und der unterschiedlichen Regelungen durch KI löst und dabei alles bleiben kann, wie es ist. Du baust einen KI-Schirm darum, damit man das besser verwalten kann. Die Idee mag ich.

Stefan Schulz: Das ist wirklich Verwässerung dadurch und man braucht wirklich Atomkraftwerke, die die ganze Zeit diese Rechenoperationen durchrechnen. Es wird auf der anderen Seite zu der Externalisierung der Probleme. 

Wir bleiben ein bisschen bei Digitalisierung und das große Thema Personal wurde untergeschoben. Ich bin sehr gespannt, ob ihr mir folgt in dem Gedanken. Ich halte das für einen ziemlichen Hammer, dass vorgeschlagen wird, wir machen ein neues Ministerium mit einer ganz neuen Aufgabe, nämlich die Digitalisierung des Staates. Dieses Ministerium kriegt gleichzeitig die Hoheit über jede Personalentscheidung und jede Personalplanung aller anderen Bundesministerien. Das ist kurz vor Doge, da kommt jemand rein und sagt, ihr seid alle gefeuert, ich darf das, obwohl ich gar nicht zu diesem Haus gehöre. Ich will es nicht übertreiben, das ist natürlich nicht durch, aber der Vorschlag geht wirklich weit. Ich frage mich, wie man sich das organisatorisch vorstellt, wenn Bundesministerien Anträge stellen müssen auf zu besetzende Stellen. Für die Schaffung dieser Stellen und für die Personalauswahl.

Stefan Kühl: Ich glaube, du liest da ein bisschen zu viel in den Vorschlag rein. Was völlig klar ist, ist, dass sich die einzelnen Ministerien die Frage, wen sie auf bestimmte Stellen setzen, nicht nehmen lassen werden. Die Idee ist erstmal einleuchten, zu sagen, brauchen wir wirklich in jedem Ministerium extrem starke Zentralabteilungen, die das ganze Verwaltungsmanagement machen? Können wir das nicht zusammenziehen? Brauchen wir in jedem Ministerium eine eigene Abteilung? Manchmal sind es mehrere Referate, die nur dafür zuständig sind, sowas wie E-Akten zu entwickeln. Braucht jedes Haus ein eigenes Digitalbudget, mit dem vielfältige Lösungen entstehen, die aber nicht miteinander kompatibel sind? Ich habe mit einigen Kolleginnen und Kollegen im letzten Jahr eine Forschung durchgeführt, wo es darum ging, die Schwierigkeiten der Digitalisierung der Ministerialbürokratie zu analysieren. Es ist faszinierend, weil man feststellen kann, wie wenig die digitalen Verfahren der einzelnen Ministerien aufeinander abgestimmt sind. Das, was die hier vorschlagen, nämlich ein eigenes Ministerium für Digitales und Verwaltung mit einer verantwortlichen IT, mit einem zentralen Digitalbudget und mit eigener Möglichkeit zum Beispiel Vereinheitlichungen in der Art und Weise, wie Personalbeurteilung stattfindet, vorzunehmen, ist die Reaktion drauf. Das ist an sich eine gute Idee, die teile ich auch nach den Ergebnissen der Untersuchung, die wir durchgeführt haben. Dieser Ruf nach einem eigenen Ministerium, finde ich hochgradig irritierend. Also in einer Zeit, in der eigentlich die Abschaffung von einigen Ministerien gefordert wird, wird gesagt, wir haben es hier mit so einem großen Problem zu tun, wir brauchen ein Ministerium für die Ministerien. Ein Ministerium, das nichts anderes macht, als die Kooperation zwischen den Ministerien zu verbessern und vielleicht noch die nachgeordneten Behörden mit reinnimmt. Dafür richten wir ein eigenes Ministerium ein, was immer auch heißt, verknüpft mit einer bestimmten Form der politischen Leitung, die Interesse hat, kurzfristige Ergebnisse zu machen. Was ich nicht verstehe, ist, weswegen der Alternativvorschlag, eine starke Digitalagentur einzurichten, nicht erörtert wird, sondern gesagt wird, wir wollen ein Ministerium dafür haben, aber gleichzeitig wollen wir auch noch eine Digitalagentur haben, ohne dass thematisiert wird, dass sich das widerspricht. Wenn ich ein starkes Ministerium habe, dann gibt es Handlungsschwierigkeiten für die Digitalagentur. Da sehe ich nicht die Sinnhaftigkeit, wie sich dieses Digital- und Transformationsministerium genau gestalten soll. Da wird aus meiner Sicht eine Forderung aufgegriffen, die seit 15 oder 20 Jahren im Raum ist. Wir brauchen für Digitalisierung ein eigenes Ministerium. Wird es mit dem Thema Verwaltung verknüpft, ohne im Einzelnen durchzuspielen, was das eigentlich für die Konstellation der Kooperation der Ministerien miteinander bedeutet.

Stefan Schulz: Ich will mal Originaltext vorlesen, weil du meintest, das könnte auch ein technisch-synergetischer Mechanismus sein, zu sagen, ein Personalbüro für alle, damit es nicht zu viel ist. Der Originaltext lautet: „Dieses neue Ministerium erhält die umfassende Zuständigkeit für Personal. Sie umfasst die Entwicklung ressortübergreifender Personalplanung, zukünftige Bedarfe und Personalabbau und die Entwicklung einer neuen Fehler- und Führungskultur. Die Zuständigkeit erstreckt sich außerdem auf das Dienstrecht. Die Personalkompetenz der Z-Abteilung der Bundesbehörden wird eingeschränkt.“ Dass wir es hier mit einem knappen Text zu tun haben und uns jetzt fragen, was das bedeuten könnte, beginnt die Spannbreite von wir vereinheitlichen das, aber am Ende werden bei uns nur die Anträge abgelagert und in den Akten verwaltet. Hier haben wir es mit einem neuen Ministerium zu tun, bei dem sich digitale Entwicklung gleich in der Personalstrukturierung niederschlagen.

Stefan Kühl: Was ich nachvollziehbar finde, ist, dass es eine bestimmte Vereinheitlichung von Formaten gibt, die im Moment ministeriumsintern sehr unterschiedlich sind. Bei den Personalbeurteilungen war es für mich am augenscheinlichsten, dass diese zwischen den Häusern nicht austauschbar sind, weil die einen mit ABC benoten, die anderen mit Pluszeichen oder mit Noten, die unterschiedlich kombiniert sind. Da zu sagen, wir brauchen einheitliche Personalbeurteilungskriterien, leuchtet ein. Zu überlegen, ob die Personalentwicklung nicht in gewissem Maße zentralisiert werden kann und übergreifende Konzepte aufsetzt werden, auch das leuchtet ein. 

Bei der Personalverwaltung ist die Idee, zu sagen, die Mitarbeiter der Ministerialbürokratie sollen sich als Mitarbeiter des Bundes und nicht eines einzelnen Ministeriums verstehen, um zum Beispiel den Austausch zwischen Häusern zu erleichtern. Auch ist eine sinnvolle Variante. Was aus meiner Sicht auf keinen Fall stattfinden wird, ist, dass die konkrete Besetzung zum Beispiel eine Abteilungs- oder Referatsleitungsstelle von diesem Verwaltungsministerium am Ende entschieden wird. Das wäre ein bisschen wie in der DDR. Die Entscheidung über die Besetzung bestimmter Positionen in den Ministerien musste immer durch die Kaderverwaltung der SED abgesegnet werden. Dieses Ministerium für Digitales und Verwaltung wäre wie eine zentrale Kaderverwaltung, die enorm viel Macht bekommen würde und auf massiven Widerstand selbstverständlich der ganzen Fachminister treffen würde. Das ist, glaube ich, nicht mit angelegt.

Judith Muster: Was ich interessant fand, es gab ja Zentralisierungsinitiativen. Du hast die Digitale Agentur schon angesprochen. Es gab aber auch über das Online-Zugangsgesetz im Prinzip auch eine zentrale Steuerung. Es gab das EFA-Prinzip und die IT-Strategien des Bundes sind alles Zentralisierungsinitiativen, bei denen am Ende rauskam, wenn man sich vom IT-Rat den Abschlussbericht oder den Zwischenbericht anschaut, dass es danach Forderungen nach noch mehr Zentralisierung gibt. Darauf reagiert jetzt dieser Vorschlag. Die Frage, warum ist das so kompliziert, warum hat das nicht funktioniert, wird damit eigentlich nicht bearbeitet. Da würde ich sagen, das muss man nach vorne stellen. Zu sagen, welche Machtkämpfe gab es da, welche Dinge konnten aus welchen Gründen nicht konsolidiert werden, welche Schnittstellen gab es, welche Reibungsverluste hat man. Das ist ja ein organisationales Problem. Die Frage ist, ob das so gelöst werden kann. Das ist für mich ein typisches Beispiel dafür, dass man nicht genau weiß, für welches Problem eigentlich das Digitalministerium die Lösung ist. Das finde ich nicht genau genug beschrieben. Das ist auch nicht die Aufgabe von so einem Papier, aber das lässt sich nicht technisch diskutieren. Also, was ist das Problem?

Stefan Kühl: Also das Grundproblem ist in meiner Wahrnehmung gewesen, dass die Verantwortung für Verwaltung und Digitalisierung innerhalb des Bundes bei einem Staatssekretär im Bundesinnenministerium liegt. Das Bundesinnenministerium, der CIO des Bundes, suggeriert, dass da Durchgriffsmöglichkeiten existieren, die praktisch nicht vorhanden gewesen sind. Historisch ist der Hintergrund, dass das Bundesinnenministerium oder die Innenministerien seit der Weimarer Republik für die Gestaltung der zwischenministerialen Beziehung zuständig gewesen sind. Deswegen hat sich das Bundesinnenministerium in den letzten Jahrzehnten nicht die Kompetenz nehmen lassen, für diese Frage zuständig zu sein. Gleichzeitig hat die Innenministerin natürlich ganz andere Probleme als Verwaltungsdigitalisierung voranzutreiben. Sie kümmert sich um innere Sicherheit. Das heißt, das war ein stiefmütterliches Thema innerhalb des Innenministeriums. Und dann wird gesagt, der Staatssekretär konnte sich letztlich nicht durchsetzen. Er ist in gewisser Art und Weise ein armes Schwein gewesen. Er konnte sich weder in den Bund-Länder-Kommunen-Beziehungen durchsetzen, noch gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen in den anderen Häusern. Er hatte praktisch keine Durchgriffsmöglichkeit. Jetzt ziehen wir eine Hierarchie-Ebene drüber. Diese muss darüber mit an den Kabinettstisch, dass wir einen eigenen Minister, eine eigene Ministerin für Digitales und Verwaltung schaffen. Aber das löst das Problem nicht, weil es letztlich an der Stelle kaum Durchsetzungsmöglichkeiten gibt.

Judith Muster: Das ist die Frage. Man hat schon viel gemacht. Es gab eine Digitalstrategie für Deutschland. Es gab die Datenstrategie. Es gab eine nationale KI-Strategie. Es gab die Registermodernisierung. Man hat schon viele Dinge zentralisiert und trotzdem nicht durchsetzen können. Was ist der Grund, dass man das nicht durchsetzen konnte? Das Digitalministerium, das immer noch abhängig von der Umsetzung in den Häusern ist, kann es nicht selber umsetzen, dieses Problem zu lösen.

Stefan Schulz: Ich will einen verwegenen Gedanken vorstellen, den ich beim Lesen irgendwie ein bisschen bedrückend fand. Zum einen haben wir dieses neue Ministerium, das auch Personalpolitik für die ganze Bundesregierung machen soll. Gleichzeitig gibt es diese Digitalagentur, die sich als GmbH diesen Durchgriffsrechten entzieht. Da werden politische Aufträge verteilt und am Ende machen die das selbstgesteuert als Unternehmen. Das verbunden mit diesen gigantischen Infrastrukturmaßnahmen und diesen Ansprüchen aus dem Kapitel zur Wettbewerbsfähigkeit, dass der Staat als strategischer Investor auftritt. Es gibt zum Beispiel ein neues Buch von dem Autor Sönke Iversen, der für den Handelsplan investigativ arbeitet, der die Tesla-Files enthüllte, Personaldaten bei Tesla. Man konnte so nachvollziehen, wer da arbeitet, zu welchen Gehältern und wie lange. Augenscheinlich war, dass unter Elon Musk die Leute in den größten Fabriken der Welt arbeiten, wie die Gigafactory in Grünheide, wo alles in-house gemacht wird, die aber als ganzes Haus eine Personalfluktuation von bis zu 70% pro Jahr haben. Da ist totale Personalrotation und man weiß nie, wenn Elon Musk jetzt eine große Investitionsentscheidung trifft und irgendwo neue Maschinen kauft, ersetzen die Hundertschaften. Es wird die ganze Fabrik so umgebaut, dass man aus dieser Logik und auch mit dem, was wir jetzt sehen, wo Elon Musk zuständig ist und welche Rechte er sich nimmt, dass diese Digitalisierung auf der einen Seite und Personalplanung auf der anderen Seite doch ein bisschen enger verschränkt ist. Dass hier Inspirationen aus der empirischen Welt laufen, die wir in Deutschland weit über dem Vorstellbaren finden, sich trotzdem so langsam niederschlagen.

Stefan Kühl: Vielleicht traue ich den drei Autoren und der einen Autorin nicht zu, dass sie in solchen Konzepten denken, sondern viel stärker geprägt sind durch ihre Alltagserfahrung, die gerade die beiden Minister gemacht haben. Meine Vermutung ist, dass sie mit dieser Personalkomponente in diesem Teil über digitalen Staat und Verwaltung eine stärkere Identifikation mit der Bundesverwaltung haben wollen. Die Personen tendenziell aus diesen Silos der einzelnen Ministerien rauslösen wollen, eher den Bund als Personalmarke aufbauen, um das mal ganz pathetisch zu sagen. Es ist jetzt nicht so, dass die auf der Ebene der Ministerialdirigenten oder der Referatsleitung oder der Referenten, enorme Personalrekrutierungsprobleme haben, aber sobald man in den IT-Bereich kommt, wo sie mit anderen Organisationen konkurrieren müssen, ist das natürlich eine Schwierigkeit.

Das finde ich erstmal eine interessante Idee. Ich habe vor zwei, drei Jahren für ein Projekt in Uttakarant, also einem Bundesstaat in Indien, gearbeitet, wo mein Hauptansprechpartner jemand aus der höheren Beamtenschaft in Indien und noch ein Überbleibsel der Kolonialzeit gewesen ist. Das sind hochqualifizierte, hyperprofessionalisierte Beamter, alle absolut nicht korrupt, die durch ein extrem starkes Selektionsverfahren gegangen sind und alle zwei, drei Jahre ihre Posten wechseln und damit erstmal eine große Breite haben, aber eben auch nicht in den regionalen Zusammenhängen oder in den Silos eines Ministeriums verkommen. Diese Intention zu sagen, lasst uns mal überlegen, wie wir auf der Ebene von Personal eine stärkere Durchlässigkeit produzieren können. Das ist eigentlich der schwächste Strukturtyp, um irgendwas zu verändern, wir haben vielleicht keine anderen Möglichkeiten oder keine Fantasie, wie das ansonsten funktionieren kann, dass wir es an der Stelle mal gucken. Das ist die Intention, die hinter dieser Idee eines Verwaltungsministeriums besteht. Man versucht, über eine Zentralisierung letztlich einen stärkeren Austausch zwischen den Häusern herzustellen. Der Quereinstieg sind die Leute, die nicht Juristen sind. Das ist dieses ewige Thema des Juristenmonopols in der Ministerialverwaltung oder in der Verwaltung generell. Das wollen sie aufbrechen. Das Thema des Austausches zwischen den Häusern, das wird nicht thematisiert, aber es ist ja ein Zwischenbericht. Vielleicht hört uns einer von den Zuschreibern zu und nimmt das in der nächsten Fassung mit auf. Es ist auch kein Allheilmittel, aber sicherlich eine Möglichkeit, um an der Stelle die Versilosierung von Ministerien ein klein bisschen zu unterlaufen.

Judith Muster: Aber ich finde, es riecht sehr stark nach dem, was man im Moment als Management-Mode bezeichnen könnte, nämlich, dass es gerade im Bereich Digitalisierung ein agileres Mindset braucht, ein vom Nutzer her denken. Man schaut sehr schnell auf Personen und sucht da das Problem. Deswegen wird an der Personalprämisse rumgespielt, weil das irgendwie ein Mindset-Shift braucht. Also ich finde, dass dieses Kapitel verdächtig weniger darauf schaut, warum hat es nicht funktioniert.

Stefan Kühl: Ich lese es vor: „Der Bund fördert eine neue Personalkultur innerhalb der Bundesverwaltung, Personal und Kultur.“ Der Schreiber muss mindestens 150 Euro ins Phrasenschwein packen. Manchmal wundert man sich, wie bestimmte Management-Schlagwörter so einsickern und dann in ein Papier von wirklich hochintelligenten Leien reinrutscht, ohne dass das an irgendeiner Stelle reflektiert wird. Personalkultur, was soll das sein?

Stefan Schulz: Wer weiß. Je nachdem unter welche Bedingungen man entsprechend dem Gemütszustand arbeitet, ist vielleicht schon mit kleinsten Bemühungen einiges gewonnen, dass man sich um irgendwas kümmert, was unter Anführungszeichen „Kultur“ die Lage ein bisschen besser macht.

Stefan Kühl: Wir sind alle drei geprägt durch diesen nicht ganz unbedeutenden deutschen Soziologen namens Niklas Luhmann, dessen Texte wir intensiv studiert haben. Der hat nur ganz wenige Versuche gemacht, praktisch wirksam zu werden. Judith, wir haben uns das in unserem gemeinsamen Seminar von Potsdam und Bielefeld angeguckt: Die Überlegung zur Reform des öffentlichen Dienstes und des Dienstrechtes und ich hatte fast so etwas wie eine persönliche Enttäuschung, dass wenn man Niklas Luhmann losschickt und sagt, reformieren wir mal den öffentlichen Dienst. Er macht das, was die vier Personen jetzt gerade vorhaben, vor 50 Jahren. Das war quasi das Äquivalent dazu. Prominent besetzte Kommission, bloß dass es halt von der Politik noch viel massiver getragen worden ist, als was diese vier da gerade vorhaben. Es hat das alles schon mal gegeben. Niklas Luhmann kommt mit dem Vorschlag raus, dass der Hebel ist schon irgendwie Personal ist. Eigentlich müssen wir an die Personalentwicklung ran, wenn man das jetzt ganz stark zuspitzt. Laufbahnbarriere ist das Instrument, um die Handlungsfähigkeit des Staates Anfang der 1970er Jahre wiederherzustellen. Ich denke, es gibt andere Strukturmerkmale, an denen man arbeiten kann. Die Kommunikations- und Entscheidungswege. Es gibt die Programmstruktur, Zielvorgaben, die Art und Weise, wie wenn-dann-Regeln aufgebaut werden. Und du, Niklas Luhmann, kommst mit Personalentwicklung raus. Das kann doch nicht sein. Der Mann ist, deutlich klüger als wir alle zusammen gewesen, aber es zeigt, wie extrem schwierig es ist, an dieses Thema ranzukommen. Wenn jemand wie Niklas Luhmann bei Personalentwicklung endet, dann sind die Beharrungskräfte dieser Struktur so beachtenswert, dass man sie halt ernst nehmen muss. Man kann nicht einfach drüber hinweggehen und mit einem Begriff wie neuer Personalkultur den Glauben produzieren, dass man hier jetzt einen wichtigen Hebel gefunden hat.

Stefan Schulz: Ich will noch zwei Themen ansprechen, die da drinstecken. Zum einen das Thema Wissenschaft und Bildung, vor allem Wissenschaft. Es sind Vorschläge zum Föderalismus drin. Ich finde unter allem, was wir jetzt besprochen haben, wie schwierig das ist und wie klein die Einflugschneisen sind, überhaupt was zu machen. Bei manchen Themen, die in der Pressekonferenz vorkamen oder im Text stehen, wundert man sich ein bisschen. Warum hat das so ewig gedauert, die Ideen sind so gut, dass man sie eigentlich sofort machen müsste. Wie zum Beispiel, man möchte ein Auto oder den eigenen Wohnsitz ummelden. Da hat man es mit einem Verwaltungsakt zu tun, der ohne Ermessensspielräume ist. Es ist quasi nur eine Informationsweitergabe an den Staat. Das war bisher kommunale Aufgabe. Wir haben aber 10.000 Kommunen, was bedeutet, dass 10.000 Kommunen dieselbe Lösung finden, statt dass man die Kommunen davon entlastet und sagt, das zentrale Melderegister wird vom Bund organisiert, da schickt man seine E-Mail hin, dann wird das registriert und fertig. Das haben wir uns näher angeguckt, gerade die An- und Abmeldung von Autos. Das ist generell das Problem von diesen Vorschlägen, die auf einer extrem hohen Flughöhe laufen. Ein Grund, dass ein digitales Verfahren zur An- und Abmeldung von Autos eingeführt worden ist. Das Interessante ist, dass das von den Gemeinden nur sehr begrenzt unterstützt wird und deswegen der Prozentsatz von Autos, die nach wie vor vorhanden angemeldet werden müssen, hoch ist. Man kann sagen, die Gemeinden und Städte unterlaufen dieses eingeforderte Digitalisierungsvorhaben. Wenn man das näher anschaut, weswegen machen sie das? Das hängt mit Honorierung zusammen. Das ist für Gemeinden und Städte ein relevanter Einnahmefaktor, der in dem Moment, wo das über ein Digitalisierungsformat läuft, nicht mehr die gleichen Einnahmen generiert, wo der Verteilungsschlüssel einander ist. Das ist ein Problem in der Detailplanung gewesen, der dazu geführt hat, dass so eine vergleichsweise einfache, gute Intention, die sich sogar innerhalb einer föderalen Struktur umsetzen lässt, eins der Formen ist, was am weitesten gediehen ist, was an der Stelle aber faktisch unterlaufen wird, sodass die Entlastungserscheinung durch Digitalisierung immer noch vergleichsweise gering ist. Das, finde ich, ist generell ein Problem dieser ganzen Reformdebatten, die wir führen. Sie findet auf einer Flughöhe statt, wo die Detailgenauigkeit am Ende fehlt, zu überlegen, woran scheitert es letztlich. Ich weiß nicht, wie viele Vorhaben da jetzt insgesamt in dem Online-Zugangsgesetz drinstecken. 

Judith Muster: Ich habe gelesen, 93 Prozent sind abgeschlossen.

Stefan Kühl: Faktisch sind es ungefähr 12 bis 15 Prozent, die in irgendeiner Form zu einer Lösung gekommen sind. Aber man ist gezwungen, nach außen die entsprechenden Erfolgsmeldungen zu geben. Bloß der Hintergrund ist, wir tun so, als wenn das einfache ist. Das ist überhaupt nicht einfach. Die haben auch Passwürste drin, wo das so klingt, als wenn das so einfach ist. Nein, es ist verdammt kompliziert. Das braucht an der Stelle Leute mit einer extremen Detailgenauigkeit in der Arbeit und mikropolitische Spieler, die in der Lage sind, solche Sachen durchzubringen. Das funktioniert nicht immer. Alleine die Frage der Vereinheitlichung der Waffenanmeldung. Ich bin nicht Besitzer davon, aber ich habe mir im Rahmen dieser Untersuchung sagen lassen, dass man gezwungen ist, dass wenn man gerne eine Waffe hat, weil man Jäger oder im Schützenverein ist, dass es da bestimmte Anmeldeprozeduren gibt. Die Problemlage besteht aber darin, dass das auf kommunaler Ebene gemacht werden muss. Es gibt keine zentrale Einrichtung, wo es gemacht wird, wo man sagen kann, es ist sinnvoll, weil die am ehesten einschätzen können, ob zum Beispiel jemand plötzlich Probleme hat oder terroristische Anwandlung.

Stefan Schulz: Ja gut, aber da kommen ja wieder Ermessensspielräume rein. Und da will man ja auch den Typen mal sehen, der die Waffe kauft.

Stefan Kühl: Genau, deswegen macht das schon Sinn, dass es kommunal ist. Gleichzeitig ist es aber so, dass, nehmen wir mal Terroristen, um ein pathetisches Beispiel zu nehmen, die einem nicht den Gefallen tun, dass sie nur in ihrer eigenen Kommune tätig werden oder sich auf das Bundesland beschränken, sondern die wechseln gerne mal, weswegen so ein zentrales Waffenregister natürlich einen gewissen Charme hat. Das Problem ist bloß, um ein zentrales Waffenregister zu bekommen, muss letztlich die ganzen lokalen Register vereinheitlicht werden. Das sind auf der Ebene von Kommunen eigene Computerprogramme. Das ist ein unglaublicher Friemelkram, sowas vereinheitlicht zu bekommen. Ich finde, dass diejenigen, die mit diesem Digitalisierungsreform-Enthusiasmus in die Debatte reingehen, einen extremen Respekt vor den Leuten haben müssen, die das in der konkreten operativen Arbeit umsetzen. Das ist so extrem kompliziert. Eine Registervereinheitlichung ist sowas von kompliziert. Dagegen sind die meisten Reformvorhaben in irgendeinem Unternehmen Pipifax. Da habe ich einen starken CEO, der mir entsprechende Deckung für eine Digitalisierung gibt. Dann setze ich das entsprechend durch. Hier habe ich es mit ganz unterschiedlichen Akteuren, mit sehr unterschiedlichen Interessen zu tun und muss darüber eine Digitalisierung laufen lassen.

Judith Muster: Ich finde sehr gut, dass du das so engagiert vorträgst, denn das ist das Plädoyer für genaues Organisieren, was ich die ganze Zeit versucht habe, zu machen. Dass das im Detail ausgehebelt wird und ich glaube, dass wenn man solche Papiere vorlegt, man eigentlich diese Detailfragen nach vorne ziehen muss und sich dann überlegen muss, wie man darauf Lösungen entwickelt und nicht Kompaktlösungen vorträgt. Das ist bei diesem Papier nicht anders als bei anderen, aber führt dazu, dass ich sehr pessimistisch bin, was Umsetzbarkeit angeht.

Stefan Schulz: Ich will noch ein Thema ansprechen, bevor wir zur Wissenschaft kommen, bei dem nicht so sehr das Personal, sondern mehr so die Zwecke eine Rolle spielen. Das ist bei dieser Neustrukturierung das Thema Migration und Sicherheit. Dass das Bundesinnenministerium Migration nur mit Sicherheit verknüpft, weil für Integration andere Häuser zuständig sind, ist ein Problem, von dem ich weiß, dass Thomas de Maizière das ganz oft vorgehalten wurde, um es zumindest kognitiv präsent zu machen. Aber es hat sich strukturell nie niedergeschlagen. Migration ist immer Polizei. Jetzt gibt es diesen Vorschlag, der im Rahmen dessen, was wir besprochen haben, viel zu weitreichend ist, nämlich zu sagen, für Abschiebungen ist nur noch der Bund zuständig und für Integration nur noch die Länder. Wir haben mitgekriegt, dass die einen oder anderen Terrorattentate in Deutschland stattfanden und dann hieß es, das Land Bayern war zuständig für die Abschiebung und dann war Söder in der Bredouille. Man denkt sich ein bisschen: Okay, wenn der Bund die Abschiebung organisiert, passt dieses Konzept, wie man das Bundesinnenministerium aufstellt. Nur den Integrationspart noch weiter weg vom Bund, als jetzt schon im Innenministerium, da haben sie es gar nicht mehr präsent. Jegliche Art von, der Bund orientiert sich an Staatszielen, die in der Verfassung stehen, finde ich, um einen politischen Punkt zu machen, wirklich katastrophal, weil man damit organisationales Bewusstsein komplett aus einer wichtigen Behörde rausnimmt. Wir haben nämlich Fachkräftemangel. Dass man da auf Bundesebene überhaupt an Integration denkt, wird richtig ausgetrieben.

Stefan Kühl: Ich weiß nicht, wie dir das bei der Lektüre dieses Teils gegangen ist. Mir ist das ähnlich gegangen, als ich gesehen habe, Sicherheit und Migration als Überschrift, da habe ich gedacht, was ist das für ein Signal, was da gesetzt werden soll? Ist das intendiert gewesen oder hatten die das Problem, das man manchmal irgendwie Punkte unter einer Überschrift zusammenfügen muss und hat dann nur zwei oder drei Unterüberschriften und packt das zusammen und haut dann man irgendwie so einen Absatz rein. Integration ist auch wichtig und wir brauchen zusätzliche Arbeitskräfte, aber ansonsten ist das eigentlich ein Problem.

Judith Muster: Gegen diese Paketlösung spricht, dass es noch einen eigenen Punkt Sicherheit gibt.

Stefan Kühl: Uns allen ist diese Inkonsistenz aufgefallen und in der Berichterstattung über diesen Bericht, habe ich keinen einzigen Artikel gefunden, wo das in irgendeiner Form thematisiert worden ist. Da ist dieser Enthusiasmus angesichts der Reforminitiative, dass diese ganzen Inkonsistenzen, die an der Stelle entstehen, überhaupt nicht thematisiert werden. Vielleicht trägt unser Podcast ein bisschen dazu bei, dass das im Endbericht auseinandergezogen wird als Punkt. Das wäre ein großer Gewinn. Die Frage von Flüchtlingen, Migration ist ein so wichtiger Punkt, gerade was die Verwaltungsregularien angeht. Das Bundesamt, das dafür zuständig ist, da kann man drei, vier, fünf Punkte zu sagen und braucht es eben nicht sofort unter dem Sicherheitsaspekt zu diskutieren. Vermutlich hast du recht, Stefan, das ist sicherlich auch die Sozialisation als Innenminister, die dazu beiträgt, dass es zu so einer Verkopplung kommt. Wir sind alle durch unsere lokalen Rationalitäten geprägt und vielleicht, Judith, wenn du fünf, sechs Jahre Innenministerin gewesen wärst, wäre dir auch so ein Lapsus unterlaufen.

Judith Muster: Es zeigt, wie stark sich die Organisationsstrukturen in solchen Papieren niederschlagen, aber es ist trotzdem ein berechtigter Kritikpunkt.

Stefan Schulz: Die Wissenschaft spielt auch eine Rolle in dem Text, denn nicht nur möchte man auf die Wirtschaft zugehen und als strategischer Investor auftreten, sondern interessanterweise spielt die Wissenschaft auch innerhalb einer Staatsreform eine Rolle. Du findest die wahrscheinlich nicht alle schlecht, Stefan, die da drinstehen. Gerade beim Thema Drittmittel.

Stefan Kühl: Ich habe mir Freude getan, vor fünf, sechs Monaten selbst mal in so eine Kommission reinzugehen und zwar in die Kommission „Bürokratieabbau“ der Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina. Da hat der damals tätige Präsident, der sich über die bürokratischen Blockaden in der Wissenschaft echauffiert hat, als eine seiner letzten Handlungen so eine Kommission aufgesetzt und ich habe mich breitschlagen lassen, Mitglied dieser Kommission zu werden. Die brauchten Organisationssoziologen, Organisationsexperten. Ich habe mir überlegt, gelingt es in solchen Kommissionen eigentlich, Duftnoten zu setzen? Kriege ich meine wissenschaftspolitischen Vorstellungen untergebracht? Zweitens wollte ich begreifen, wie Kommissionen funktionieren. Es gibt leider überhaupt keinerlei Soziologie der Kommission. Wir wissen eigentlich nicht, was in diesen Kommissionen stattfindet. Wissenschaftler sind zwar permanent Mitglied dieser Kommission, sie beforschen aber nicht, wie Kommissionen funktionieren. Ich habe gedacht: Okay, es ist vielleicht keine systematische Forschung, aber wenigstens habe ich Anschauungsempirie, die ich dann verwenden kann. In dieser Kommission der Leopoldina, in der unter anderem auch einer der Autoren gewesen ist, der Voskuhle war da offiziell Mitglied, obwohl er mit in einer anderen Kommission mehr beteiligt gewesen ist, gab es so eine Koalition, die dazu geführt hat, einen Diskurs zu etablieren, für den ich sehr viel Sympathie habe, nämlich die Verwettbewerblichung von Wissenschaft, dass dieses Aufschreiben, das Drumbewerben und Begutachten ein Bürokratietreiber ist. Nicht zu sagen, das ist Geldverschwendung oder das ist Neoliberalismus, sondern genau umgekehrt zu sagen, Verwettbewerblichung im Rahmen einer staatlichen Struktur führt zu Bürokratisierungseffekten, die insgesamt Ineffizienzen bedeuten. Die Koalition mit einem Verfassungsrechtler, einem ehemaligen Verfassungsrichter, der in dieser Kommission gewesen ist, und der Tatsache, dass ein Großteil der Vertreter der Kommission aus sehr gut durchfinanzierten Großforschungseinrichtungen kam, hat dazu geführt, dass wir einen Passus durchgesetzt hatten, der lautet, der Wettbewerb um Drittmittel zu aufwendig geworden ist und zu viele Ressourcen bindet. Dieser Gedanke findet sich eins zu eins in diesem Paper. Das heißt, es gibt an der Stelle direkte Auswirkungen einer Kommission, die sich mit einem Spezialthema beschäftigt, auf solche übergreifenden Reformvorhaben. An der Stelle habe ich überhaupt nichts auszusetzen. Die vier Autoren haben an der Stelle recht.

Stefan Schulz: Das kam immer mal wieder auf, auch beim Thema Digitalisierung. Es gibt schon in Dresden eine Erklärung von sehr vielen Leuten, die viele kluge Vorschläge gemacht haben, die dann immer wieder da münden. Du hast auch in der FAZ über wie arbeitet eine Kommission und wie wird ein Text geschrieben, Gedanken gemacht. Lass uns nochmal ein bisschen soziologisch abgeklärter über die ganze Herangehensweise sprechen, denn ich glaube, man muss kein Soziologe sein, um diesen Spruch mit dem Arbeitskreis irgendwie lustig und auch sehr realistisch zu finden. Jetzt hast du selber so eine Kommissionserfahrung. Hier liegt wieder ein Kommissionstext, bei dem wir so ungefähr erahnen können, wie der Text zusammengebaut wurde. Ist das grundsätzlich jetzt auf Metaebene ein Weg für die Zukunft oder sollte man mal Trial-and-Error ein Experiment machen. Da kann man mal einen Antrag auf Abweichung stellen, sollte man nicht dieses ganze Kommissionswesen nochmal überdenken? Da ist die Frage, wer sollte darüber diskutieren und in welcher Form, ohne gleichzeitig wieder eine Kommission zu bilden. Aber wie kommt man aus dieser Schlinge raus?

Stefan Kühl: Es gibt bestimmte Tendenzen, die parallel zu Strategieformulierungen auf der Ebene von Bundesregierung sind. Wir hatten uns im Rahmen der Forschung über die Digitalpolitik der Bundesministerien unter anderem angeschaut, wie sowas entsteht, eine KI-Strategie der Bundesregierung oder eine Digitalstrategie der Bundesregierung. Das Spannende ist gewesen, dass während dieser Einigung auf kleinste gemeinsame Nenner in der Gesetzgebung, es bei der Formulierung von Strategien eher eine Tendenz gibt, sowas wie größter gemeinsamer Nenner. Alles wird quasi zusammengemischt und zusammengezogen. Jeder kommt mit seinen Spezialinteressen in ein Papier rein. Auf Konsistenzen wird kein Wert gelegt. Es werden sehr viele allgemeine Wertformulierungen drübergelegt. Am Ende findet sich irgendjemand in seinen Spezialinteressen doch wieder. Bei der Digitalstrategie oder bei der KI-Strategie sind das alle Bundesministerien mit ihren Spezialinteressen gewesen, auch die jeweiligen Parteien mit ihren Spezialinteressen fanden sich wieder und jeder konnte so seinen Lieblingspunkt finden. Beim Lesen dieses Papers hatte ich den gleichen Eindruck. Hinten sind die Expertinnen und Experten genannt, die in den Arbeitsgruppen zugearbeitet haben. Ich habe mir mal die Freude gemacht, einzelne Absätze den jeweiligen Experten und Expertinnen mit ihren dahinterstehenden Organisationen zuzuordnen. Das funktioniert in vielen Bereichen. Man kann merken, wie der Normenkontrollrat, einen Vertreter einer bestimmten Idee da reingesetzt hat. Dann gibt es einen sehr geschätzten Kollegen von mir aus dem Bereich der Sicherheitspolitik von der Universität Potsdam, der sich zur Reform der Bundeswehr Gedanken macht. Ich kann eins zu eins seine Formulierung in diesem Paper wiederfinden. Es gibt an der Stelle so eine Tendenz des wilden Sammelns. In der DDR hieß die Sendung früher ein Kesselbuntes, wo alles Mögliche an Show-Elementen zusammengerührt wird und für jeden etwas dabei. So liest sich so ein Paper. Man kann natürlich sagen: Hör zu, das ist kein wissenschaftlicher Text, hab nicht die Konsistenzanforderungen. Das ist auch keine politische Rede eines Abgeordneten oder einer Abgeordneten, sondern eine Handlungsempfehlung. Die Funktion besteht darin, nochmal die Dramatik deutlich zu machen. Aber ich habe den Traum nach etwas konsistenteren Papieren solcher Kommissionen, stringenter durchargumentiert, mit einer größeren Präzision in der Detailgenauigkeit. Vielleicht bin ich ein Träumer, aber diese Illusion habe ich nicht aufgegeben. Ich würde mich extrem freuen, wenn eine Kommission mit einem durchgearbeiteten Vorschlag kommen würde.

Judith Muster: Es ist ja ein Zwischenbericht. Das heißt, es gibt noch eine Chance. Trotzdem gibt es an vielen Stellen im Papier die Tendenz, auf sehr hohem Konsensniveau wertehaft zu diskutieren. Ein Beispiel ist Personalkultur. Das ist die große Stilblüte. Auch sonst gibt es an vielen Stellen so Momente, bei denen man das Gefühl hat, das ist eine Wertekommunikation.

Stefan Kühl: Schulterschluss zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich bin mir hundertprozentig sicher, ich muss die Kollegen, diese vier Autoren, in Schutz nehmen. Diese Formulierung kann nicht von denen stammen. Das ist nur erklärbar aus der Zusammenarbeit an einem Text, der dazu führt, dass man am Ende Formulierungen braucht. Jeder einzelne der vier Autoren schreibt deutlich besser, deutlich konsistentere Papiere als das, was vorgelegt ist. Ich hatte nach der Verarbeitung der eigenen Kommissionserfahrung gesagt, vielleicht ist nicht sogar die Variante besser, es einer einzelnen Person zu übergeben. Ich halte zum Beispiel von de Maizière richtig viel. Der hat ein richtig gutes Buch geschrieben über Regieren. Es liest sich richtig gut. Sich hinzustellen und zu sagen, der soll aufgrund seiner Erfahrung aufschreiben, ohne dass er Zensurmechanismen hat, ohne dass er sich mit irgendwelchen Experten zwangsmäßig auseinandersetzen muss und ohne große Aufteilung in Arbeitsgruppen. Er kann sich punktuell mit Leuten unterhalten, aber er soll einen konsistenten Vorschlag vorlegen, wie er einen handlungsfähigen Staat produzieren würde. Für Voßkuhle, der ehemalige Verfassungsrichter, jetzigen Kollegen aus der Rechtswissenschaft, trifft das Gleiche zu. Ich glaube, die Konsistenz wäre deutlich größer. Danach kann man überlegen, ob man Personen findet, die bereit sind, ihren Namen für das, was diese Einzelpersonen sich ausdenken, herzugeben. Aber es hätte den Vorteil, dass die Konsistenzen und vermutlich auch die Detailgenauigkeit größer wären.

Stefan Schulz: Ich weiß nicht genau, wie ich meine Kritik formulieren soll, denn es ist schwierig, aus diesem Kommissionsgedanken und diesem demokratischen Prinzip: Alle werfen was in den Ring und dann bleibt irgendwas hängen. Ich finde, es gibt so einen empirischen Druck und ich würde sagen, dieser Tenor bei der Bundeskanzlerin-Konferenz, das ist der letzte Versuch. Wenn wir es jetzt nicht geplant und gewollt machen, passiert es danach durch entsprechende Mehrheiten im Bundestag, weil wir einen empirischen Druck durch dieses amerikanische Beispiel haben. Da ist ein Autor, Elon Musk, der mit seiner Erfahrung aus einem völlig fremden Gebiet plötzlich sagt, ich mache das jetzt so und so und holt sich diese Legitimation. Wir werden vielleicht irgendwann erfahren, wie diese Zusammenarbeit zwischen Trump und Musk eigentlich funktioniert. Auf welcher Basis. Das scheint kein Konsensprinzip zwischen den beiden zu sein oder ideologische Übereinstimmung, irgendwas ist ja da noch im Argen. Man sieht, was in Amerika läuft, und ich finde, wenn man diesen Text liest, der ist zwar aufgeteilt in 30 große Themenblöcke in sieben Gliederungspunkten. Wir haben schon ein paar rote Fäden herausgearbeitet, Digitalisierung und Personal so eng miteinander zu verknüpfen oder dem Bund von manchen sehr strittigen Themen. Wir wissen, Migration hat die Bundestagswahl dominiert und jetzt soll das auf Bundesebene gar kein Thema mehr spielen. Also es gibt so ein paar rote Linien, die irgendwie bedenklich sind und die, finde ich, überdeutlich da drinstecken, die aber in dieser Konsensmaschinerie der Manufaktur des Textes einfach zerrieben wurden. Klar würde es nicht reichen, wenn wir Publizisten wie Schirmerer hätten, die solche Texte lesen und drei Wochen später einen roten Faden da aufdröseln und das im Vergleich zu Musks Amerika plausibel machen. In irgendeine Richtung muss es gehen, weil einfach auf den Endbericht dieser Kommission warten, der kommt irgendwann im Juli, wir wollen aber schon eine Bundesregierung. Da sind schon diese Zeitläufe verstrichen. Ob dann noch große Veränderungen, wie sie geplant oder vorgeschlagen werden, gemacht werden, ist unklar. Ich sehe es insgesamt in einer komischen Zwischenwelt thematisch, aber problematisch würde ich folgen. Sehr viele Bundestagswahlen sind es nicht mehr, um überhaupt eine Aufrechterhaltung dieses Systems zu haben. Vielleicht habe ich deswegen immer so eine Hoffnung in so eine Art KI-Digitalisierung, die uns diese kognitiven Mühsale erarbeiten, die uns alle keinen Spaß machen. Also wenn Bürokratie hauptsächlich das ist, was niemandem Spaß macht, dann liegt da eine Chance. Aber das ist keine prinzipielle Chance für irgendwas Großes, Neues, Gutes, Wahres, Schönes.

Stefan Kühl: Aber Stefan, du bist nicht der nächste Elon Musk oder der nächste deutsche Elon Musk.

Stefan Schulz: Ich habe nicht so einen Zug zur praktischen Intelligenz, aber die Gefahr ist, wenn jemand auftaucht, der nicht nur Bücher schreibt, sondern die Welt mit Technologie verändert. Man liest dieses Buch von Alex Karp, dem Palantir-Chef, der im Grunde sagt, das, was Hitler gemacht hat, war schon ganz okay, aber musste das mit dem Holocaust sein? Heute haben wir ja Technologie. Das sind die Angebote, die wir haben und die sind mir viel zu nah an gelebter Staatspraxis, während wir in Deutschland immer nochmal einen Vorschlag haben und nichts geht vorwärts, eigentlich baut sich nur Spannung auf.

Judith Muster: Aber Bürokratie ist das, was man bekommt, wie Luhmann so schön sagt, wenn man Organisationen in Anschlag bringt, um Prinzipien abzustützen, abzusichern. Das geht mit dieser Bürokratie-Debatte unter, dass Bürokratie eine Funktion hat, nämlich Prinzipien abzusichern. Das, was in unserem Fall demokratische Prinzipien sind, das, was wir in den USA gerade beobachten, ist, dass genau die Bürokratien destabilisiert werden, die Prinzipien absichern, die Trump und Musk nicht gefallen. Man tut unter dem Schlagwort der Entbürokratisierung im Prinzip, der Verschlankung, und am Ende werden hintenrum andere Bürokratien aufgebaut, die zum Beispiel sicherstellen, dass man das Wort Frau nicht mehr verwendet. Das muss irgendwie durchgesetzt werden. Also ist nicht Bürokratie an sich schlecht. Bürokratie hat eine Funktion. Die Frage ist, welche Dysfunktionalitäten haben unsere Bürokratien über die Alterung ausdifferenziert und wie kann man da ran gehen? Da kann man nur ran, wenn man sehr detaillierte Reformen plant und es nicht über Kompaktlösung macht. Aber um Bürokratie selber kommen wir nicht herum, wenn wir demokratische Prinzipien weiter sicherstellen wollen. Insofern ist es Lösung und Problem gleichzeitig.

Stefan Kühl: Ich finde es eine interessante Idee, die aus meiner Sicht die Argumentation vor so einem Text tragen könnte, die aber schon in der öffentlichen Darstellung als eine der Formel nach außen getragen worden ist, aber für die verschiedenen Handlungsfelder nicht durchdekliniert wird, die Idee, zu sagen, es läuft unter dem Label „Vertrauensvorschuss“, was ich ein bisschen zu pathetisch finde. Da würde ich auch sagen, wieder 150 Euro ins Phrasenschwein. Aber die Grundidee, zu sagen, wir brauchen eine spürbare Entlastung von Berichts- und Nachweispflichten und zwar durch eine Umstellung des Prinzips. Auf der einen Seite fordern wir weniger schriftliche Berichte ein, aber erhöhen die Sanktionen bei Gesetzesverstößen. Wenn man das provokant sagen würde, ist das ein Lob des Verbots mit entsprechender Sanktionierung und Verzicht auf alle Formen von indirekter Steuerung. Eigene Berichtswege selbst in Lernprozesse kommen, wie bestimmte gesetzliche oder staatliche Ziele umgesetzt werden können. Das geht, weil man handelt sich nur den Bürokratievorwurf ein. Stattdessen setzt man wie klassisch, früher auf Gesetze und die Wirkung von Gesetzen, die entsprechend durchgesetzt werden müssen. Ich vermute, das ist die Idee eines der Autoren, der in diesem Teil vorkommt, wo ich denke, das mal durch zu deklinieren, fände ich interessant. Was bedeutet das zum Beispiel für Bund-Länder-Kommunen-Kooperation, wenn man so Gedanken hat? Das wäre eine Idee, wie man diese Kommissionsberichte handlungswirksamer machen kann, dass man Leitgedanken nimmt, von mir aus auch eine Provokation oder etwa Ungewöhnliches. Das versucht man an den Handlungsfeldern durch zu deklinieren, anstatt aus verschiedensten Richtungen Ideen zusammengetragen werden.

Stefan Schulz: Das finde ich eigentlich gut. Wir haben da jetzt ein Angebot, das eine konstruktive Wende einleiten könnten. Judith, du sagst, man bräuchte mal wieder ein Lob der Bürokratie. Da würde ich sagen, ja genau, denn am Ende sind es 700 Parlamentarier, 70.000 Staatsbeamte und 70 Millionen Menschen. Dieses Verhältnis der beiden, diese Beziehung dieser Entitäten, die ich gerade genannt habe, die läuft nun mal über Bürokratie. Da wird bewusst ausgeblendet, wer konkret der Einzelfall ist. Es wird einfach der Bürger adressiert, aber so, dass es auch ein bisschen hinhaut und nicht nur alle frustriert sind. Aber man kommt, egal wie man es gestaltet, um Bürokratie nicht herum. Wenn man als Bürger Ansprüche haben möchte, braucht man einen Adressaten und dieser Weg ist die Bürokratie. 

Stefan, ich habe deinen Text zum Thema Verbot in der FAZ natürlich gelesen. Ich habe erst gedacht, müsste man das nicht nochmal auf Einzelfälle runterbrechen, aber nein, jetzt wo du es ausgeführt hast. Nicht zu sagen, du betreibst ein Restaurant, dann halte die Küche sauber, schreib auf, wann du welchen Topf reinigt hast, gib uns diesen Bericht und wir dir glauben, dass du nicht den Gast vergiftet hast. Nein, wenn du ein Restaurant betreibst, ist uns egal, wie du das machst, aber du darfst deinen Kunden nicht vergiften. Wenn du das nicht hinkriegst, wirst du bestraft. Nicht nur Vorsorge und Nachsorge, sondern wirklich in so ganz penible Ziele. Programmierung einzugehen und zu sagen, auf der Autobahn fahren wir uns nicht tot. Wenn du 220 fährst, wird das vor Gericht geklärt. Dafür brauchen wir nicht viel Text, es wird einfach gesagt, alle anderen sind halb so schnell gefahren wie du, der gesunde Menschenverstand sagt dann Strafe. Das erfordert allerdings einen neuen Umgang mit der Auslegung juristischer Texte in solchen harten Fällen. Wir hätten weniger Verwaltungsbürokratie und mehr Strafbürokratie. Da müsste man überlegen, was das bedeutet. Eine zielprogrammierte Bürokratie, aber als Monografie bitte, nicht wie hier drei Vorträge, zu lesen auf 200 Seiten.

Stefan Kühl: Beziehungsweise das durch zu deklinieren. Eine Reaktion auf dieses Lob des Verbotes, was glaube ich die Intention dieser stärkeren Sanktionierung in dem Paper ist, war von einem Kollegen aus der Rechtswissenschaft, der sich mit dem Digital Service Act auseinandersetzt. Das ist die EU-Richtlinie, mit der große Online-Plattformen reguliert werden sollen. Sein Argument war, zu sagen, da wird die ganze Zeit von der EU und in der Durchsetzung ins nationale Recht von indirekten Regulierungsmethoden ausgegangen. Da sollen Compliance und Berichtspflichten und Beschwerde-Regularien eingerichtet werden, weil sich weder die EU noch die Nationalstaaten trauen, einfach Verbote auszusprechen und die durch entsprechende Sanktionen durchzusetzen. Man hat häufig eine Zurückhaltung, weil man den eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten des Gesetzes nicht mehr vertraut und geht deswegen auf so indirekte Steuerungsformen, die noch modern daherkommen. Ich kenne die Debatte über die Durchsetzungsschwierigkeiten, was Verbotsgesetze angeht. Das erleben wir alltäglich, ich brauche nur bei mir auf die Straße zu gucken, Tempo 30, da hält sich niemand dran. Es gibt diese Problemlage der Durchsetzung von bestimmten Gesetzen, aber inzwischen habe ich fast das Gefühl, dass es auch in der Rechtswissenschaft notwendig ist, die Stärke eines Verbotsgesetzes mal wieder in den Raum zu bringen und zwar unter dem Gesichtspunkt der Bürokratiereduzierung, der Herstellung von Handlungsfähigkeit. Das ist das Irrsinnige. Auf der einen Seite fordern die Interessensverbände mit lauter Stimme einen Verzicht auf Verbote, weil sie wissen, dass das ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten reduziert, dann kriegen sie diese ganzen indirekten Verzichte, Handlungsanweisungen, die müssen dann Compliance-Anforderungen, Schulung ihrer Mitarbeiter, Nachweispflichten, Berichte, egal ob man jetzt Lieferkettengesetze oder irgendetwas anderes nimmt. Also das ist letztlich diese Form von indirekter Steuerung, die sie bekommen, weil die direkten Verbote ihnen zu scharf sind. Dann nutzen sie das, um sich über zu viel Bürokratie zu beschweren. Da würde ich mich hinstellen und sagen: Okay, liebe Interessensorganisationen, die sich die ganze Zeit über Bürokratie beschweren, wir können gut nachvollziehen, dass ihr das überhaupt nicht reguliert haben wollt, weil das für euch ein Kostenfaktor ist und euch stört, aber wir wollen eine Regulierung an der Stelle. Ihr könnt euch entscheiden: Ihr kriegt ein Verbot oder eine indirekte Steuerung. In dem Moment, wo ihr sagt, wir wollen die indirekte Steuerung, ist es nicht mehr adäquat, ein oder zwei Jahre später zu sagen, wir müssen so viele Berichtspflichten machen. Dann müsst ihr es kombinieren mit der Forderung nach einem klaren Verbot und der entsprechend harten Sanktionierung.

Stefan Schulz: Dem fließe ich mich an, das finde ich sehr gut. Zumindest um es mal kognitiv so weit zu treiben, dass man mal wirklich viel Text dazu mit Anschauungsmaterial lesen kann.

Judith Muster: Es fehlt übrigens diese Umkehrung von einer Konditionalprogrammierung auf eine Zweckprogrammierung. Ich beobachte auch in den Verwaltungsreformen, die ich gerade selber aus unterschiedlichen Rollen beobachte, dass es im Prinzip immer darum geht, aus einer sehr konditionalen Logik für größere Transformationen, zum Beispiel Automatisierung mit Effizienzgewinnen oder demografischen Wandel sowas aufzufangen und abzufedern. Es geht immer darum, die Logik umzudrehen und das als Organisation hinzubekommen, wenn man immer Akten nach einer klaren Wenn-Dann-Logik bearbeitet, hat hin zu einer Zweckorientierung zu kommen. Das ist auf jeden Fall eine interessante Analogie.

Stefan Schulz: Dann belassen wir es hierbei und sagen, wenn im Sommer dieser finale Bericht kommt, wirst du, Stefan, deine Sensorik anschmeißen und besonders auf die Textstücke von Andreas Voskuhle achten, denn es ist am ehesten von ihm zu erwarten, uns federführend den verbietenden, juristisch zielorientierten Staat auszuformulieren.

Stefan Kühl: Stefan, du achtest darauf, dass die Teile Sicherheit und Migration auseinandergezogen sind. Judith, worauf achtest du?

Judith Muster: Ich achte darauf, dass es ein genaues Nachdenken über die Umsetzbarkeit in den umsetzenden Organisationen gibt. Das war ja mein Dauerplädoyer heute. Und ich glaube auch, dass das tatsächlich erfolgreich ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert