Re-Education, angewandte Sozialpsychologie und Gruppendynamik in der frühen Bundesrepublik
von Oliver König (Psychosozial-Verlag 2025)
Eine Rezension von Stefan Kühl
Der US-amerikanische Psychiater Richard M. Brickner beschreibt als typische Merkmale einen ausgeprägten Verfolgungswahn, einen pathologischen Hang zum Größenwahn, ein übertriebenes Machtstreben und eine Tendenz, die eigene Geschichte so zu verfälschen, dass die Anwendung von exzessiver Gewalt gerechtfertigt erscheint. Faschistische Staaten versetzten, so Brickner, ihre Bevölkerung in eine Art kollektive Paranoia, um ein aggressives Verhalten sowohl gegen innere als auch äußere Feinde zu legitimieren. In einem faschistischen Staat sei der Paranoide zwingend auf ein Gegenüber angewiesen, von dem er sich bedroht fühle und den es zu bezwingen gelte.[1]
Diese faschistischen Tendenzen gäbe es, so die Diagnose des Psychiaters in den frühen 1940er Jahren, in einer Reihe von Staaten, aber in keinem Staat seien diese so ausgeprägt wie im nationalsozialistischen Deutschland. Typisch für die US-amerikanische Psychiatrie und Psychologie während des Zweiten Weltkrieges konzentrierten sich die gesellschaftspolitischen Analysen auf den NS-Staat, beobachteten aber besorgt die weit verbreitete Begeisterung in den USA für eine autoritäre Führung in Kombination mit einem ausgeprägten Rassismus. So ist es kein Zufall, dass die unter der Leitung von Theodor W. Adorno entstandene Studie zur Erklärung der breiten Gefolgschaft im NS-Staat auf einer Befragung weißer, nicht jüdischer Bürger der US-amerikanischen Mittelklasse basierte.[2]
Brickner diskutiert in seinem Buch „Ist Deutschland unheilbar?“ drei Optionen zur Verhinderung einer erneuten aggressiven deutschen Angriffspolitik. Als erste Methode erwägt er die „Methode von Versailles“ – eine weitgehende Unterwerfung des besiegten Deutschlands unter eine Besatzungsmacht, die aber nach dem Ersten Weltkrieg schon einmal schiefgegangen sei. Als zweite die komplette „Vernichtung Deutschlands“, die aber mit den „demokratischen Prinzipien“ der USA nur schwerlich vereinbar sei, und drittens erhebliche „wissenschaftliche Anstrengungen“, um die „paranoiden Tendenzen in Deutschland“ konsequent einzudämmen.[3] In dieser von Brickner favorisierten letzten Option – eine Art „Genesung Deutschlands mittels wissenschaftlicher Rationalität“ – müssten sich die Besatzungsbehörden wie bei der Behandlung eines paranoiden Patienten mit den gesunden Teilen der Gesellschaft verbünden und so eine umfassende „Umerziehung“ – eine „Re-Education“ – der Bevölkerung vornehmen.
Der Sozialpsychologe Oliver König zeigt in der ersten umfassenden Studie zur Geschichte der Gruppendynamik in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, wie schnell die Bemühungen der US-amerikanischen Besatzungskräfte zur „Re-Education“ der deutschen Bevölkerung scheiterten, diese aber aufgrund des Austausches zwischen US-amerikanischen und deutschen Wissenschaftlern gleichzeitig den Nährboden für die Entstehung einer gruppendynamischen Bewegung in der Bundesrepublik legten. Weil den US-amerikanischen Wissenschaftlern, die Besatzungsbehörden berieten, klar war, dass eine Veränderungseinstellung in der Bevölkerung nicht über Propaganda erzeugt werden könnte, wurde früh die Hoffnung auf gruppendynamische Prozesse als Mittel zur Veränderung der durch den Nationalsozialismus geprägten deutschen Gesellschaft gesetzt und einer Reihe von deutschen Wissenschaftlern und Praktikern die Teilnahme an gruppendynamischen Trainings ermöglicht.
Der Begriff der „Gruppe“ war bereits in der US-amerikanischen Wissenschaft des frühen zwanzigsten Jahrhunderts immer schon mehr als eine soziologische Kategorie. Die „Gruppe“ erschien in den USA immer auch als Form der sozialen Intervention, mit denen das Arbeitsklima und die Leistungsfähigkeit in den Betrieben verbessert, die Diskriminierung von Minderheiten reduziert, die Lernfähigkeit in Schulen erhöht und die Einübung demokratischer Praktiken praktiziert werden konnten.[4] Die Faszination des Gruppenbegriffs besteht darin, dass er einerseits als „Motor sozialer Modernisierung“ erscheint, andererseits dabei sich aber an alten Bildern von Gemeinschaft bedient und diese aus einer vormodernen Welt in die Gegenwart transportiert.[5]
Am Beispiel von einzelnen Vorreitern der Gruppendynamik orientierten Fallvignetten zeigt Oliver König, wie gruppendynamische Trainings in den 1970er Jahren eine enorme Popularität entwickelten, weil sie nicht nur dem Einzelnen Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung zusicherten, sondern auch eine Demokratisierung der Gesellschaft versprachen. Gruppendynamik war in diesem „therapeutischen Jahrzehnt“ nie nur nach innen auf das Selbst ausgerichtet, sondern immer auch auf das große gesellschaftliche Ganze.[6] Weitgehend unbemerkt von der gruppendynamischen Szene in der Bundesrepublik bildeten sich in der DDR Vorstellungen einer marxistischen Sozialpsychologie aus, die sich in ihren Grundüberlegungen einer gleichzeitigen Veränderung des Einzelnen und der Gesellschaft nicht grundsätzlich von der US-amerikanischen Variante unterschied.
Aber schon in den Umerziehungsversuchen der US-amerikanischen Besatzungsbehörden wird das zentrale Paradox eines auf Demokratisierung ausgerichteten „social engineerings“ deutlich, das auch die gruppendynamische Praxis prägte. Oberflächlich wird den Teilnehmern durch die konsequente Rücknahme der Trainer in gruppendynamischen Trainings ermöglicht, den Rahmen selbst zu gestalten, implizit wird jedoch erwartet, dass es durch die permanente Reflexion in der Gruppe nicht nur zu einer effizienteren Arbeitsweise, sondern auch zu einer demokratischen Umgangsweise in der Gruppe kommt. Es werden in den Trainings Freiräume zur Verfügung gestellt, um die von außen gesetzten Ziele zu diskutieren, ohne diese allerdings grundsätzlich infrage stellen zu können.[7]
Letztlich ist die Gruppendynamik an diesem Anspruch, alles sein zu wollen, gescheitert – sowohl als Therapie für Normale als auch als Instrument zur Demokratisierung der Gesellschaft, sowohl als Maßnahme zur Erhöhung der Zufriedenheit von Mitarbeitern sowie auch als Mittel zur Effizienzsteigerung von Organisationen, sowohl als soziale Praxis zum Erlernen von Kooperation als auch als angewandte Sozialwissenschaft. Als wissenschaftliche Kategorie spielt der Begriff der Gruppe keine Rolle mehr, weil zu Unterschiedliches darunter gefasst wurde. In der Gruppentherapie werden zwar Elemente der Gruppendynamik verwendet, sie gilt aber lediglich als eines unter vielen Interaktionssettings, mit denen Psychologen und Psychiater arbeiten können. Die Hoffnungen über das Arbeiten in Gruppen die Gesellschaft zu verändern, flackert zwar in politischen Aktionsgruppen, religiösen Gebetskreisen und in Selbsthilfegruppen immer wieder auf, von einem Königsweg, sich selbst und andere dadurch zu befreien, würden aber die wenigsten der noch verbliebenen Gruppendynamiker sprechen.
Aber der präzise Blick Oliver Königs auf die aus dem Versuch der Re-Education in der Nachkriegszeit entstandenen Geschichte der Gruppendynamik in Deutschland ist aufschlussreich. Seit einigen Jahren kursiert in rechtsextremen Kreisen eine deutsche Übersetzung des Buches von Richard Brickner durch den Historiker Wolfgang Utschig. In seinen Anmerkungen verharmlost Utschig den Holocaust an den europäischen Juden, indem er auf einen vermeintlichen „Völkermord an den Deutschen“ durch die deutschen Besatzungsbehörden verweist. „Was Hitler aus immer noch eigentlich unbekanntem Anlass den Juden“ angetan hätte, sei – das würde Brickners Buch zeigen – „in den angelsächsischen Ländern auch bezüglich der Deutschen geplant gewesen“ Allen Überlegungen zur Re-Education hätte es, so Utschig, nach Kriegsende einen „Völkermord an den Deutschen“ gegeben, bei dem mehr Menschen um Lebens gekommen seien als Juden während der NS-Zeit ermordet wurden. Hier zeigt sich, wie die Überlegungen US-amerikanischer Wissenschaftler zu einer „Re-Education“ der deutschen Bevölkerung für rechtsextreme Propaganda benutzt wird. Sie sind aber auch reichhaltiges Anschauungsmaterial dafür, so das Fazit von Oliver König, wie lebendig paranoides Verschwörungsdenken heutzutage noch ist.[8]
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschien von ihm „Führung und Gefolgschaft. Management im Nationalsozialismus und in der Demokratie“ (Suhrkamp 2025).
[1] Richard M. Brickner: Is Germany Incurable? Philadelphia 1943, 158ff. Hier referiert nach Oliver König: Experimente in Demokratie. Re-Education, angewandte Sozialpsychologie und Gruppendynamik in der frühen Bundesrepublik. Gießen 2025, S. 27.
[2] Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson, R. Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality. New York 1950. Der Sozialpsychologe R. Nevitt Sanford amtierte als Co-Leiter des 1943 begonnenen Projektes. Siehe dazu O. König: Experimente in Demokratie (wie Anm. 1), S. 33.
[3] R. M. Brickner: Is Germany Incurable? (wie Anm. 1), S. 297. Übersetzt von O. König: Experimente in Demokratie (wie Anm. 1), S. 28.
[4] O. König: Experimente in Demokratie (wie Anm. 1), S. 10.
[5] Ebd., 73f.
[6] Ebd., S. 231.
[7] So auch dazu auch die Kritik von William Graebner: The Small Group and Democratic Social Engineering, 1900-1950. In: Journal of Social Issues 42 (1986), S. 137–154. Siehe dazu König 2025 179.
[8] Wolfgang Utschig: Ist Deutschland unheilbar? Kommentierte Übersetzung von Richard M. Brickner „Is Germany uncrable?“. Nittendorf-Undorf 2016, S. 289. Zitiert nach O. König: Experimente in Demokratie (wie Anm. 1), S. 26.
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