
Als die Mauer fiel, schien die Geschichte offen. Doch die Wiedervereinigung wurde schnell zu einer Gewöhnungssache: selbstverständlich im Alltag, umstritten in ihren Kosten und sozialen Folgen, entzaubert in ihrer Symbolik. Auch 35 Jahre später stellt sich die Frage, wie ein solches Ausnahmeereignis im kollektiven Gedächtnis lebendig bleiben kann.
Noch einmal fünf Jahre weiter – und die DDR ist solange vorüber, wie sie einst bestand. Ausgerechnet der 40. Geburtstag wurde ihr Anfang vom Ende. In meiner Schulzeit, Mitte der 1990er Jahre, war die Einheit der beiden deutschen Staaten bereits merkwürdig entrückt. Sie war „da“, selbstverständlich, in Wetterkarten und Wahlergebnissen, in Arbeitslosenstatistiken und Grenzschildern. Und doch hatte sie etwas Abgeschlossenes – als sei sie nicht mehr das große Ereignis von neulich, sondern abgelegte Geschichte, eine politische Maßnahme, deren Folgekosten man trug, ohne (was die westliche Seite betraf) sie selbst hautnah erlebt zu haben.
Aufgewachsen im Westen, war meine erste bewusste Begegnung mit der Einheit keine Feier der Gemeinsamkeit, sondern ein leiser, mitunter fast verschwiegener Dissens. Skepsis, Vorbehalte, unterschwellige Ressentiments – das waren verbreitete Töne, in denen über die neuen Bundesländer (auch) gesprochen wurde. Meist von jenen, die keinen persönlichen Bezug nach Ostdeutschland hatten. Die Verstimmung oder Ablehnung nährte sich wahlweise aus der Überzeugung, nun für die Misswirtschaft eines eigentlich anderen Landes zahlen zu müssen – oder aus der Feststellung, Ostdeutsche seien eben keine Westdeutschen, sondern halbe Ausländer im eigenen, nun „gemeinsam gewordenen“ Land. Beide Lesarten der Distanz gingen nicht selten Hand in Hand. Die Reserviertheit hatte viele Grautöne. Es gab sie in offensiver oder subtiler Variante.
Vom Sonderfall zur Verwaltungssache
Gleichzeitig war da eine seltsame Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Ganzen. Man hatte sich mit den sozialen Transfer- und Folgekosten eingerichtet. Die Einigung, obwohl erst wenige Jahre her, wirkte insofern wie eine staatlich verordnete Tatsache, nicht wie ein ergreifend erlebter Umbruch. Die historische Singularität des Vorgangs war – vielleicht gerade durch ihre administrative Überformung, aber auch durch einfaches Abfinden mit den Problemen der längst nicht abgeschlossenen deutsch-deutschen (Re-)Integration – ins allmähliche Vergessen gedrängt. Das Außerordentliche war zum Gewöhnlichen geworden. Darin lag seine Entzauberung. Durchbrochen nur vom alljährlichen Einigkeitstag am 3. Oktober. Zeremoniell von Amts wegen. Nicht ohne Brüche, Unbehagen und Kritik. Schon die Form der Feier gibt stets neu zu reden.
35 Jahre später hat sich die Entzauberung vertieft. Die Namen Honecker, Modrow, Krenz – einst Schlüsselfiguren eines stürzenden Systems – wirken zunehmend museal, archiviert im kollektiven Gedächtnis, besonders im Westen. Die Wendezeit ist für viele Nachgeborene kaum mehr als ein Kapitel im Schulbuch. Dabei bleibt der Umbruch von 1989/90 ein historisches Unikum: ein Staatsübergang (ja, was war das eigentlich genau?) in dieser Geschwindigkeit, Friedlichkeit und – das auch noch! – Planmäßigkeit ist ohne Beispiel. Und doch wurde er rasch normalisiert, eingebettet in die Routinen bundesrepublikanischer Ordnung. Vielleicht ging manches allzu schnell. Hätte eine Konföderation, ein längerer Wandel, manch spätere Last gemildert? Darüber werden noch unsere Nachfahren spekulieren. Auf jede noch so klare Antwort gibt es eine entschiedene Gegenmeinung. Gleichwohl: Müssen selten günstige Möglichkeitsfenster nicht rasch genutzt werden? „Wenn die geschichtliche Stunde es zulässt“, wie Helmut Kohl durchaus treffend formulierte. Deutschland einig Vaterland – Deutschland eilig Vaterland!
Ruin statt Reform: System ohne Beweglichkeit
Dass dieser Wandel möglich war, grenzt an eine historische Anomalie. Nicht der Fall der DDR an sich, wohl aber sein Modus: der innere Kollaps eines autoritären Systems ohne unmittelbare äußere Intervention, das in wenigen Monaten von der Diktatur zur demokratischen Ordnung überging – eine Art Selbstauflösung im Zeitraffer. Die tieferen Ursachen dafür lagen in einem Jahrzehnt der Erosion: wirtschaftlich, institutionell, mental. Die überschuldete DDR war 1989 ökonomisch de facto nah an der Zahlungsunfähigkeit, ihre Industrie ineffizient, die Infrastruktur marode, unter den Werktätigen war Unzufriedenheit und Demotivation verbreitet. Schon 1983 stand die DDR bekanntlich vor der Pleite – und wurde dann mit BRD-Milliardenkredit gerettet. Ein Wirtschaftsgutachten, das die in schwere Bedrängnis geratene Staatsführung Ende 1989 noch in Auftrag gab, ging allein für den Stopp der Verschuldung von Einsparzwängen aus, die 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 20–30 Prozent gehabt hätten. Das Land werde damit „unregierbar“, folgert das Papier des ökonomischen Chefplaners der DDR, Gerhard Schürer. Dazu kam die schwere ideologische Verkrustung und Trägheit der Elite, ein geschlossener Machtapparat, der sich schrittweise selbst nicht mehr – der Information nach nicht und der Einschätzung und Bewältigung der Situation nach nicht – verstand.
Zugleich hatte sich das immer weiter angewachsene Ministerium für Staatssicherheit zum Staat im Staat verselbständigt. Es hatte seine Machtfülle, Überwachungsakribie und Repression in einem Maße gesteigert, das den Widerstand sukzessive nährte. Die DDR existierte, weil sie ihre Bürger einsperrte. Als sie diese Kontrolle verlor, verlor sie ihre „Staatssicherheit“ in buchstäblicher Form. Egon Krenz bekannte bei seinem Amtsantritt, man habe die Lage des Landes längere Zeit nicht richtig eingeschätzt. Diese untertrieben kommunizierte Einsicht des Kurzzeit-Staatsratsvorsitzenden und Krisenverwalters war spät – und entlarvend.
In meiner eigenen Beschäftigung mit Reformen und Transformation habe ich mich der Frage gewidmet, wie Systeme Veränderung „realisieren“ – im doppelten Wortsinn: als Wahrnehmung und als Verwirklichung. Organisierte Systeme mit ihren Führungsstrukturen müssen wichtige informations- und ressourcenrelevante Entwicklungen in ihrer Umwelt erkennen und auslesen – aber sie müssen sie vor allem auch innerhalb ihrer eigenen Logik bewältigen, also produktiv in angemessene Anpassungen verwandeln können. Die Führung der DDR war dazu nicht imstande. Personell nicht, in ihren direktiv überbauten Kommunikationswegen nicht, in der Planung ihrer Zukunft nicht. Denn sie hatte sich über Jahrzehnte in eine kognitiv verengte Programmierung manövriert, die Umweltreize entweder ignorierte oder repressiv abwehrte. Flexibilität wurde als Bedrohung gedeutet. Reformfähigkeit war aus Eigenschutz gehemmt.
Doch selbst eine frühere Öffnung – eine „Perestroika“ der DDR – hätte das System kaum gerettet, eher noch hinausgezögert. Die bloße Nähe zur wohlhabenden, freiheitlichen Bundesrepublik war eine permanente Versuchung für die Bevölkerung – eine ewige Gegenfolie, der das eigene System nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Die Mauer war der symbolische und materielle Ausdruck dieses Defizits: ein antikonsumistischer Schutzwall, der das politisch und ökonomisch Unzureichende gegen das Begehren der eigenen Bürger abzuriegeln versuchte. Wer ihn überwand, wurde bestraft – mit dem Tod, wenn nötig. Das System verzehrte das Leben um seines eigenen Erhalts willen.
Moskau zieht den Stecker
Der finale Bruch kam 1989. Massenflucht, Massendemonstrationen, ein aufweichendes Grenzregime – das waren die sichtbaren Symptome. Doch es bedurfte zugleich einer institutionellen Desintegration: Der Rückzug des Politbüros, die Schwächung der Staatspartei, der provisorische Umbau der Verfassung – sie öffneten das System für eine neue Ordnung. Der alte Staat wurde entkernt, seine Exekutive desorientiert, die Legitimation brüchig. Und dies alles geschah binnen weniger Monate. Je genauer man sich in Dokumenten und Reportagen die Umstände und Umbrüche jener Wendezeit vor Augen führt, desto mehr staunt man. Auch heute noch.
Dass dieser Zusammenbruch mit dem Fall der Mauer so unblutig verlief, war nicht nur der inneren Erosion geschuldet. Er wurde möglich, weil ein zentraler externer Stabilitätsanker entfiel: die Sowjetunion. Moskau war über Jahrzehnte die Rückversicherung des ostdeutschen Regimes gewesen – politisch, militärisch, ökonomisch. Doch mit Gorbatschows Reformpolitik veränderte sich das Machtgefüge in Osteuropa grundlegend. Die Breschnew-Doktrin – also das Prinzip der Einmischung in bedrohte sozialistische Staaten – war faktisch aufgehoben. Die DDR verlor ihre außenpolitische Rückendeckung. Und schlimmer noch: Die sowjetische Führung entwickelte kein Interesse mehr an ihrem Fortbestand. Gorbatschow selbst signalisierte, dass er gegen einen deutschen Einigungsprozess unter westlicher Gestaltung keine Einsprüche erheben werde. Damit war sozusagen der Stecker gezogen und die DDR allein – ihr Machtverlust beschlossene Sache. Freilich würde auch die Sowjetunion später schließlich selbst zerfallen. Wie hätte sie in dieser sich abzeichnenden Lage die DDR noch retten sollen?
Ein Staat in seiner Selbstüberwindung
Im Rückblick erscheint das Politbüro der SED wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. De jure ein Kollegialorgan, de facto ein hermetischer Machtzirkel, in dem Linientreue über Urteilskraft und Disziplin über Reflexion standen. Die sozialistische Sinnstiftung gründete auf der Gewissheit, die gesellschaftliche Ordnung des Landes unentwegt zum Besten zu entwickeln. Und sie führte dazu, dass die Republik über ihre Verhältnisse lebte. Was kaum anders zu bewerkstelligen war, würde man soziale Unruhen nicht riskieren wollen. In dieser Erstarrung liegt eine eigentümliche Ironie: Gerade weil dieses Gremium sich als unfehlbare Instanz verstand, wurde es zur Brutstätte seines eigenen Endes.
Die Mitglieder überschauten Kompetenzen und Aktivitäten teils untereinander nicht, übten sich teils auch in Verschleierung und Verinselung. Allerlei Bereicherung und Willkür taten da und dort ihr Übriges. Die Fokussierung auf Honecker als Überfigur, dem alles recht zu machen war, und der soziale Wohltaten als Verschuldung zur Wahrung der Stabilität der Republik verstand, ließ wenig Raum für Diskussion und Revision. Wie Ulbricht einst durch Honecker entmachtet wurde, so wurde Honecker von Krenz abgelöst – ein stiller Putsch im Innern, der den äußeren Zusammenbruch jedoch nicht mehr verhindern konnte. Denn der Sozialismus ostdeutscher Prägung dachte Reform stets in der Logik der Stabilisierung, nie der Öffnung. Am Ende stürzte das System nicht, weil es von außen angegriffen wurde – sondern weil es in sich selbst keine Anschlüsse seiner Fortschreibung mehr fand.
Die deutsche Einheit war kein Meisterwerk strategischer Planung, sondern das seltene Zusammenfallen innerer Erosion und günstiger Gelegenheit. Aber selbst der Systemkollaps forderte System: Der Verlust der Grenze, die Entleerung des Staats, die Lähmung der Exekutive, der Kollaps der Institutionen, Erneuerung von Verfassung und Parlament, Wahlen und Machtwechsel. Das enorme Tempo brachte hohe Durchorganisierung. Eine bemerkenswerte Singularität. Dass es so friedlich über die Bühne ging, bleibt, wie oft richtig gesagt wurde, ein historischer Glücksfall – und doch wirkt sie heute, trotz all ungelöster Probleme, die bis in die Gegenwart reichen, fast selbstverständlich. Vielleicht liegt gerade darin die eigentliche Herausforderung: ein Ereignis von solcher Einmaligkeit vor der Vergessenheit des Alltäglichen zu bewahren. Denn ohne das Bewussts seiner Fragilität verfehlt die Einheit ihre zweite Aufgabe – nicht nur ein Faktum der Vergangenheit zu sein, sondern ein lebendiges Projekt der Gegenwart.
Gerade deshalb ist der Einheitsfeiertag mehr als ein Kalendereintrag. Als die rot-grüne Bundesregierung 2004 versuchte, ihn aus Kostengründen künftig auf den ersten Sonntag im Oktober zu verlegen, traf sie auf den Widerstand des Bundespräsidenten Köhler. Bundeskanzler Schröder verzichtete sodann, den Plan voranzutreiten. Der Feiertag wäre auf den Rang eines gewöhnlichen Wochenendes reduziert worden. Der 3. Oktober erinnert aber daran, dass der Einheitstag nicht nur eine Verwaltungsgröße, sondern auch ein Moment des Innehaltens und – vielleicht auch mehrdeutig – des Anstoßens ist. Ein Tag, dessen Wert sich jedenfalls nicht nur in einer Haushaltssumme bemessen lässt – wie die Wende und ihre Folgen ebenso nicht.
Marcel Schütz ist Professor für Organisation an der Northern Business School in Hamburg. Er befasst sich mit organisatorischen Veränderungen, krisen- und störungshaften Entwicklungen in Entscheidungsstrukturen.
Empfehlungen zum Ansehen und zur Vertiefung – mit einigen weniger bekannten Details der Wendegeschichte:
Palast der Gespenster – Der letzte Jahrestag der DDR (MDR 2019). Die Dokumentation rekonstruiert das pompöse 40-Jahr-Jubiläum im Oktober 1989. Der Republikgeburtstag. Er sollte die Macht des Arbeiter- und Bauernstaates demonstrieren. Doch er wird zum Vorboten für das, was nur Tage und Wochen später folgt: Der Kollaps der Staatsführung und der Fall der Mauer mit dem Ende der DDR. Der Film lässt diese dramatischen Stunden noch einmal in Aussagen von Beteiligten und Beobachtern, von Demonstranten sowie Staatsgetreuen lebendig werden.
Wer zu spät kommt – Das Politbüro erlebt die deutsche Revolution (WDR 1990). Dieses legendäre Fernsehspiel unter Moderation von Hans Joachim Friedrichs bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen der DDR-Führung in ihrem letzten Jahr. Mit Protokollen, Archivaufnahmen und internen Stimmen dokumentiert der Film, wie ein hermetisch verschlossener Machtzirkel von den Ereignissen der Revolution überrollt wurde. Die Stärke der Dokumentation liegt darin, die innere Erstarrung des Politbüros sichtbar zu machen. Stimmgewaltige Schauspieler – bekannte Synchronsprecher – repräsentieren die Mitglieder des Gremiums.
Gespräch über Deutschland (WDR 1990). Vor genau 35 Jahren, kurz vor dem 1. Einheitstag, führen Bundeskanzler Kohl und Altkanzler Brandt in Adenauers Amtszimmer ein legendäres Gespräch zur Wiedervereinigung. Da liegt noch der Geist einer „neuen Republik“ in der Luft. – Ein Dialog mit viel Substanz. Vor wenigen Tagen wurde er auf YouTube nochmals hochgeladen.
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