Rezension zu
Hinterleitner, Markus (2025): Blaming Bureaucracy. Reckoning with a Problematic Political Activity. Oxford: Oxford University Press.
Kurz vor der Bundestagswahl versprach Friedrich Merz auf dem Deutschlandtag der Jungen Union, dass er das „Monster Bürokratie“ zähmen werde. Als Bundeskanzler werde er „wirklich, endlich“ Schluss machen mit der „überbordenden Bürokratie“ in Deutschland. Mit seiner Wahl, so das Versprechen vor seiner jubelnden Anhängerschaft, werde er als eine seiner ersten Amtshandlungen ein bundesweites „Bürokratie-Moratorium“ verfügen. Sofort nach der Regierungsübernahme werde er einen „Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst“ verkünden, das „Unwesen der Beauftragten der Bundesregierung“ abschaffen und „keine neuen Gesetze“ zulassen, die noch weitere Bürokratie bringen würden.[1]
Friedrich Merz steht in seiner heftigen Kritik an der Bürokratie und seiner Forderung nach einer radikalen Entbürokratisierung nicht allein. Im Gegenteil: Schon ein Blick auf die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt, dass sich Parteien von der radikalen Linken über die Sozial- und Christdemokraten in der Mitte bis hin zur extremen Rechten in Fragen der Außen-, Wirtschafts-, Verkehrs-, Umwelt-, Familien- oder Innenpolitik grundlegend unterschiedlicher Meinung sind, sich aber schnell auf eine Kritik an der Bürokratisierung des Staates, die Verdammung eines in der öffentlichen Verwaltung verbreiteten Bürokratismus und eine Verurteilung der Regelungswut von Beamten einigen können.
Dabei wird der Bürokratie nicht selten auch die Schuld für Sachen zugeschoben, für die sie beim besten Willen nicht verantwortlich ist. Es gibt sehr unterschiedliche Treiber für Bürokratie – Politiker, die ihren Erfolg als Minister nicht selten in der Anzahl verabschiedeter Gesetze messen, Interessenorganisationen, die auf Ausnahmeregelungen in Verordnungen drängen und damit die Komplexität staatlicher Regelungen explodieren lassen, die Zustimmung von Politikern zu internationalen Verträgen, die dann mühsam in Verwaltungsprozesse gegossen werden müssen oder die über Massenmedien gespielten Forderungen von Bürgern, dass der Staat sich endlich diesem oder jenem Problem annehmen sollte. Für viele Probleme, die einer überbordenden Bürokratie angelastet werden, gibt es andere Verantwortliche als die vermeintlich regelungswütigen Bürokraten in den Verwaltungen.
Warum wird aber die staatliche Verwaltung so häufig als Sündenbock für bürokratische Exzesse ausgeguckt? In einem gerade erschienenen Buch zeigt Schweizer Politikwissenschaftler Markus Hinterleitner, dass Bürokratien häufig nicht deswegen kritisiert werden, weil sie zur Überregulierung neigten, nicht ausreichend Leistung erbrächten oder weil sie unfreundlich zu Bürgern seien. Vielmehr böten sie sich als ideale Opfer für Schuldzuweisungen jeder Art an – und zwar unabhängig davon, ob sie für diese verantwortlich sind oder nicht.[2] Weil politische Entscheidungen der Regierung über Verordnungen, Verwaltungsverfahren und Verfügungen operationalisieren, wird die öffentliche Verwaltung mit ihren bürokratischen Prozessen für alle sichtbar.[3] Deswegen ist es bei Kritik in der Öffentlichkeit gerade für Politiker am leichtesten, auf die bürokratische Umsetzung durch die Verwaltungen zu verweisen.[4] Aufgrund der Transparenzanforderungen an Verwaltungen seien sie dabei gezwungen, die Bürokratie nicht von überzogener Kritik zu strapazieren, sondern verschärfen sie oft noch, indem sie Kritikern zusätzliches Futter für ihre politisch motivierten Behauptungen liefern.[5]
Dazu käme, so Hinterleitner, dass die Beamten in der öffentlichen Verwaltung, anders als gewählte Politiker, ein Legitimationsproblem haben. Im Gegensatz zu Politikern, die sich regelmäßig zur Wahl stellen müssten, könnten sich Beamte ihrer Positionen sicher sein und seien deswegen der Öffentlichkeit weniger rechenschaftspflichtig.[6] Dies würde zu dem Eindruck einer weitgehend „freilaufenden Bürokratie“ führen, die nur an ihrem eigenen Selbsterhalt interessiert sei und kein Gefühl für die Bedürfnisse der Bevölkerung habe.[7]
Die Bürokratie sei, so der in Lausanne lehrende Politologe, den Vorwürfen weitgehend schutzlos ausgeliefert. Politiker seien zwar bei der Umsetzung ihrer Vorhaben auf die Verwaltung angewiesen, wüssten aber, dass ein Lob der Bürokratie bei Wählern nicht gut ankäme. Weil sie selbst der Weisungsbefugnis einer politischen Leitung unterlägen, hätten Beamte kaum eine Möglichkeit, sich gegen Vorwürfe von außen zu wehren. Zwar gäbe es immer mal wieder Spitzenbeamte, die sich auch ohne Rücksprache mit der politischen Leitungsebene bei Vorwürfen einer Überregulierung schützend vor ihren Apparat stellten. Die Erwartung von Politikern sei aber eher, so Hinterleitner in seinem knapp gehaltenen Buch, dass die Bürokratie schweigend als Blitzableiter für politische Probleme herzuhalten habe. In Demokratien scheint es fast zur impliziten Stellenbeschreibung von Beamten zu gehören, als Sündenbock für die Kritik an Regeln standzuhalten, die sie lediglich im Namen der Politik umsetzen.
Die Strategie, Kritik auf leicht verfügbare Sündenböcke abzuleiten, ist für die Politik in vielen Situationen funktional. Gerade Politiker in Regierungsverantwortung sind in demokratischen Staaten so vielfältigen Angriffen ausgesetzt, dass es fast zwangsläufig Kanälen bedarf, in die sie wenigsten einen Teil dieser Kritik ableiten können. Die Bürokratie der Europäischen Union, die mit ihrer Regelungswut die Nationalstaaten drangsalierte, die Beamten in den Ministerien, die mehr Interesse an der Schaffung immer neuer Stellen als an der schnellen Lösung von Problemen hätten oder die Verwaltung in durchführenden Behörden, die sich immer neue Tricks ausdächten, mit denen sie die Bürger malträtierten.
Aber diese Strategie der Nutzung der Bürokratie als Sündenbock ist nicht ohne Risiko. Wenn Politiker dieses Spiel übertreiben, drohen sie nicht nur die Loyalität „ihres“ Apparats zu verlieren, sondern sie tragen auch zur Delegitimierung einer der zentralen Säulen eines demokratischen Rechtsstaates bei. Die Gefahr ist, dass die Verwaltung durch die andauernde Bürokratiekritik irgendwann so geschwächt ist, dass sie ihre Aufgabe – die Umsetzung staatlicher Regeln – nicht mehr vernünftig verwirklichen kann. Eine Bürokratie, die aufgrund eines dauernden verbalen Beschusses und einem Entzug von Ressourcen nur noch begrenzt in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erledigen, würde dann lediglich die Demokratieverdrossenheit weiter steigern.[8]
Die von Hinterleitner überzeugend herausgearbeiteten Überlegungen zur Bürokratie als idealem Sündenbock der Politik ermöglichen es, einen neuen Blick auf die vielfältigen von der Politik angestoßenen Entbürokratisierungsmaßnahmen zu werfen. Unter der Überschrift der Staatsmodernisierung wird zurzeit eine Entbürokratisierungsbürokratie ins Laufen gebracht inklusive der detaillierten Messung des Bürokratieerfüllungsaufwandes, einer Erstattung von Auskunftspflichten von Unternehmen durch den Staat, der Erarbeitung von immer neuen Bürokratieentlastungsgesetzen und der Schaffung von neuen Stellen für den Bürokratieabbau. Fast könnte man angesichts dieser von der staatlichen Verwaltung bürokratisch organisierten Entbürokratisierung ihre stille Rache dafür vermuten, dass sie immer wieder als Sündenbock für Probleme herhalten muss, für die sie eigentlich nichts kann.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zum Thema erschien von ihm zuletzt „Brauchbare Illegalität. Zum Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus 2020).
[1] Siehe Friedrich Merz: Rede beim Deutschlandtag der Jungen Union 2024 2024, Minute 19-21.
[2] Damit Schuld entsteht, müssen zwei Dinge zusammenkommen: ein „gefühlter Verlust“ und „gefühlte Verantwortung“. In diesem Sinne ist Schuldzuweisung „der Akt der Zuschreibung von etwas, das als schlecht oder falsch angesehen wird, an eine Person oder Einrichtung“. Markus Hinterleitner: Blaming Bureaucracy. Reckoning with a Problematic Political Activity. Oxford 2025, S. 14.
[3] Ebd., S. 32.
[4] Tatsächlich sei die Bürokratiebeschuldigung, so Hinterleitner, oft ziemlich abstrakt und stelle die Bürokratie in sehr allgemeiner, oft stereotyper Weise dar (mit Verweis auf Jessy Hendriks, Koen Damhuis, Sjors Overman: From Performance to Morality: How Politicians Frame Bureaucracy, its Organizations, and Public Sector Employees. In: Public Administration Review 85 (2025), S. 846–861.). Das Bild der Bürokratie, das von Bürokratie-Beschuldigern gezeichnet werde, um einem kontroversen Thema einen Sinn zu geben, habe daher wenig Ähnlichkeit mit der Verwaltungsrealität. Siehe M. Hinterleitner: Blaming Bureaucracy (wie Anm. 2), 17f.
[5] Siehe zur Frage der Transparenz der öffentlichen Verwaltungen auch prominent Christopher Hood: Accountability and Transparency: Siamese Twins, Matching Parts, Awkward Couple? In: West European Politics 33 (2010), 5, S. 989–1009. Siehe dazu ausführlich M. Hinterleitner: Blaming Bureaucracy (wie Anm. 2), 37f.
[6] Zum Sonderfall des politischen Beamten siehe neuerdings aufschlussreich Tristan Wißgott: Parlamentarische Demokratie und deutsches Berufsbeamtentum. In: Der Staat 64 (2025), S. 399–440.
[7] Interessanterweise unterscheiden sich in der Struktur des Arguments keynesianistische und neoliberale Ökonomen kaum. Siehe die Warnung von John Kenneth Galbraith, dass Verwaltungseliten innerhalb von Unternehmensbürokratien – die Technostruktur – ihren eigenen Interessen Vorrang vor den übergeordneten Zielen geben. John Kenneth Galbraith: The New Industrial State. Boston 1967. Siehe im Kontrast aus einer neoliberalen Perspektive in Bezug auf die öffentliche Verwaltung William A. Niskanen: Bureaucracy and Representativ Government. Atherton Aldine 1971. Dazu M. Hinterleitner: Blaming Bureaucracy (wie Anm. 2), S. 26.
[8] Siehe dazu ausführlicher M. Hinterleitner: Blaming Bureaucracy (wie Anm. 2), 9f.

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