Am Beispiel des Atommülllagers Asse II in Niedersachsen lässt sich gegenwärtig beobachten, wie Lösungen zum Problem werden können. Christoph Seidler von DER SPIEGEL berichtet, dass hier etwa 130.000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktivem Abfall in einem ehemaligen Bergwerk lagern, das Gestein jedoch zunehmend porös werde, so dass Einsturzgefahr bestehe. Folgt man der Darstellung, ist das Einsickern von Salzwasser bereits seit Ende der 1980er Jahre bekannt. Es gilt als Ursache dafür, dass man es in Asse zunehmend mit marodem Gemäuer zu tun hat. Und dann ist da noch diese dubiose radioaktive Lauge …
Bemerkenswert ist der Fall, weil Asse II in den 1960er und 1970er als „Testlabor“ geplant und eingesetzt wurde: um Atomabfälle „versuchsweise endzulagern“, wie in einem Infokasten zu lesen ist, mit dem DER SPIEGEL seine Berichterstattung ergänzt. „Versuchsweise Endlagern“: dieser Begriff kennzeichnet wohl in kaum zu übertreffender Weise die paradoxe Situation, mit der sich nun Anlagenbetreiber und politische Regulierer konfrontiert sehen. Denn: wenn die Endlagerung ein Versuch bleibt, ist sie keine Endlagerung. Versuche, Tests, Experimente u.ä. führen bereits das mögliche Scheitern des begonnenen Vorgangs mit. Umso erstaunlicher erscheint es, dass man in Asse dennoch für die Ewigkeit geplant hat.
Abstrakter formuliert lässt sich die Situation dadurch kennzeichnen, dass die Lösung zum Problem geworden ist – und zwar die Lösung für ein Problem, das selbst einmal Lösung war: die Atomenergie.
Wie lässt sich nun das Problem fassen, mit dem wir es in Asse zu tun haben? Man ist geneigt, das Ganze als Umwelt- und Gesundheitsproblem aufzufassen – wie z.B. im Rahmen der „Remlinger Erklärung“ von Ortsansässigen und Aktivisten, die sich gegen eine Flutung des Stollens wenden. Diese Flutung (ohne dann noch Zugriff auf den Müll zu haben) wurde zwischenzeitlich als neue Lösung angeboten, um der Lage Herr zu werden.
Man kann aber auch den Eindruck gewinnen, dass in Bezug auf Asse ganz andere Probleme verhandelt werden. Aufschluss gibt möglicherweise ein Vergleichsfall aus den USA von 1981, den Lee Clarke aus sozialwissenschaftlicher Perspektive untersucht hat („Acceptable Risk„, University of California Press, 1989). Es handelt sich um einen Brand in einem Verwaltungsgebäude in Binghamton/ New York, im Zuge dessen das mehrstöckige Hochhaus und angrenzende Flächen mit dem Gift PCB kontaminiert wurden. Clarke beschreibt, dass sich in Anschluss an dieses Ereignis notwendigerweise Entscheidungsbedarfe ergeben haben, um Fragen zu klären wie „was ist genau passiert?“, „was wurde freigesetzt?“, „in welcher Dosis?“, „wer kümmert sich um die Opfer?“. Dazu muss man wissen, dass man zu diesem Zeitpunkt noch wenig Erfahrungen mit den gesundheitsgefährdenden Wirkungen von PCB hatte.
Es dauerte allerdings mehrere Monate, bis sich ein „action set“ herauskristallisierte, das einen konkreten Aktionsplan vorlegte, wie z.B. die kontaminierten Personen zu behandeln seien. Zuvor war das ganze Setting durch konkurrierende Problemdefinitionen, konkurriende Lösungsangebote und nicht zuletzt durch konkurrierende Organisationen und Politikebenen gekennzeichnet – von Clarke in Anschluss an ein organisationssoziologisches Konzept als „garbage can“ bezeichnet (vgl. Cohen u.a., „A Garbage Can Model of Organizational Choice“, Administrative Science Quarterly 17(1), 1972). Seine These ist, dass es so lange gedauert hat, bis man eine Lösung vorlegte, weil die Verantwortlichkeiten zwischen den Beteiligten nicht geklärt waren. Gerade politische Entscheidungsträger erwiesen sich als risikoavers in der Weise, als dass sie keine Verantwortung für eine Problembearbeitung übernehmen wollten, bei der unklar war, ob sie überhaupt dem Problem entsprach. „Ihr“ eigentliches Problem sahen sie gleichwohl nicht so sehr darin, dass Menschen zu Schaden gekommen waren, sondern in der Möglichkeit, für die „falsche“ Problemlösung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Nicht zuletzt deswegen reagierte man allem in der Weise, das Ereignis möglichst genau zu untersuchen, um die Informationsgrundlage für „richtiges Entscheiden“ auszuweiten. Zeitverluste waren die Folge. Oder eben Zeitgewinne – es kommt auf die Perspektive an.
In Bezug auf Asse scheint der Fall ähnlich gelagert zu sein. Zwar wurde im Zuge verstärkter Berichterstattung ein politischer Krisengipfel einberufen. Allerdings konnten sich die formal verantwortlichen Ressorts aus Niedersachsen und auf Bundesebene augenscheinlich nicht einigen, wie nun weiter zu verfahren sei. So wurde zunächst einmal eine Task-Force gegründet, die während des Sommers Vorschläge erarbeiten soll. Auf die „versuchsweise Problemlösung“ darf man gespannt sein.
Luhmann, Niklas 2002: Die Politik der Gesellschaft. Franfurt am Main, S. 220-243.
Luhmann, Niklas 2004: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen. 4. Auflage. Wiesbaden.
Jo, die Semantik von End- und Zwischenlagerung müsste man auch mal auf ihren Hintergrund hin abklopfen – die „versuchsweise Endlagerung“ ist dann das i-Tüpfelchen.
AsseII ist doch aber gerade kein Lösungsproblem. Denn das Lösungsproblem entsteht ja dadurch, dass eine Lösung in die Welt gesetzt wurde und an ihr (aus welchen Gründen auch immer) festgehalten werden muss. Dieses Festhalten an der Lösung verursacht dann Probleme, Lösungsprobleme, die bewältigt werden müssen, aber die Lösung selbst nicht in Frage stellen.
AsseII ist ja gerade keine Lösung und war nie als solche deklariert worden. Folgeprobleme entstehen dann, weil die tentative Lösung immer wieder kontingent gesetzt werden kann. Das Problem von AsseII kann man wohl eher mit der Unterscheidung von talk und action bearbeiten. Denn gerade der talk der verantwortlichen Organisationen („nur versuchshalber“, „auf Probe“) macht es möglich, dass die Lagerung auf Endzeit gestellt werden kann. Das Argument ließe sich in dieser Richtung weiter ausbauen, denke ich.
So kann man auch Fakten schaffen. Alle politischen Beschlüsse, das Zeugs wieder raus zu holen werden an der Machbarkeit scheitern…