Gezahlt wird mit prekärer Aufmerksamkeit. Über Methoden, Gewinne und Verluste der eigenen Selbstvergewisserung
Überall wird nach Meinungen gesucht. Ob man den Supermarkt, die Universität, das Kirchengemeindehaus, das Museum oder das Bürgerbüro seiner Stadt betritt, irgendwo findet sich immer ein verstaubter Kummerkasten, ein zu langer Fragebogen oder ein unlesbares Gästebuch. Aber schon lange geht es hier nicht mehr nur um mitmachen und gewinnen, sondern sozial viel folgenreicher: um Achtung, Missachtung und Verachtung.
Früher kannte man Abstimmungsprozesse fast ausnahmslos vom letzten Wahlgang. Heute ist jeder Tag ein Wahltag. Nicht nur die Marktforschungsinstitute veröffentlichen fast täglich neue Stimmungsbilder und Produktbarometer. Im Netz wimmelt es von Befragungstools über den Rücktritt von Politikern, über den neuesten Hit, das coolste Outfit oder die günstigste Krankenversicherung. Während Wahl- und Parteienforschung regelmäßig über sinkende Wählerquoten und wachsende Politikverdrossenheit klagen, kann von Meinungsverdrossenheit keine Rede sein.
Von der öffentlichen Meinung
In interaktiv mitbestimmbaren Massenmedien wird es dabei schwer, private und öffentliche Meinung zu trennen. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit hat sich gewandelt. Es ist nicht (mehr) das aus der Privatsphäre hervorgetretende, belesene und wohlgeborene Herrenpublikum, das sich in den Kaffeehäusern, Salons und Tischgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts wahrheits- und vernunftbegabt im potentiell verallgemeinerungsfähigen Diskurs übt, denn: öffentlich bekundete Meinungen von selbsternannten Eliten müssen nicht unbedingt kritischer, intellektueller oder demokratischer sein als andere. Es lässt sich nicht ohne Weiteres von einer Meinung auf die soziale Herkunft schließen.
In den Massenmedien ist dagegen der Name Programm. Sie suchen nach Masse und nicht nach Klasse. Die Klick-, Einschalt- oder Hörerquote zählt und nicht die Qualität der Meinung. Woran sollte sich diese in einer pluralisierten Gesellschaft, die sich von ihren moralischen Fesseln gelöst hat, auch messen lassen? Der Preis für diese Freiheit ist der Verlust wohlgemeinter und wohlgepflegter Werte und Unterscheidungen, wie einst die zwischen Laien- und Expertenmeinungen. Und warum sollte die Diskussion im Salon moralisch gehaltvoller oder politisch verträglicher sein, als die Gespräche im Wirtshaus, beim Telefon-Joker oder im Internetforum? Es gibt gebildete Rassisten und und dumme Pazifisten.
„Sie sind der Meinung das war…“
Je nach Verbreitungsmedium treten neue Kanäle zum Einfangen der Echtzeit-Responsiveness auf. Verlage lassen in ihrem jeweiligen Erscheinungsturnus Bücher rezensieren, Zeitungen drucken täglich Leserbriefe und Radiosender kann man stündlich anrufen. Wer im Fernsehen von der passiven Publikumsrolle in die aktive Leistungsrolle schlüpfen möchte, braucht Sympathie, Attraktivität, und/oder andere medientaugliche Gesangs- Moderations- und Tanz-Qualifikationen, die auch hier unermüdlich aufs Neue getestet und bewertet werden. Am Neujahrstag twittert Schlenzalot: Plan für 2012: Weltfrieden und eine Castingshow für Twitterer.
Werten und Bewerten
Auch online ist Meinung allerorts gefragt. Ob Plattform, Forum oder Blog, stets ist man aufgefordert zu verlinken, zu empfehlen und zu kommentieren. Eine Invasion von Share Buttons, Leserbriefen und Hörzeiten soll helfen die versteckten Präferenzen und Vorlieben der Audienz aufzuspüren. An diesen unsichereren Orten geht es tendenziell zu wie an den Spitzen von Organisationen, die zu allem eine Meinung haben, aber von nichts eine Ahnung. So ist in modernen Massenmedien alles, was sich irgendwie als Meinung qualifiziert – was einen irgendwie anschlussfähigen Beitrag abgibt – begehrt, weil scheinbar wünschens-, wissens- und vermarktungswert. Ständig sollen wir unseren Senf abgeben und ständig scheren auch wir uns um das gemein(t)e Geschwätz anderer Leute. Ganz selbstverständlich fragen wir nach den Bewertungen Dritter über Kunden oder Hersteller und suchen nach den Fixsternen am standardisierten Verbaucher-Himmel names TÜV, Waren- oder Ökotest. Und geht es weniger um klassische Kauf- als um hohe Kreditentscheidungen, orientiert man sich am finsteren Firmament der Finanzmärkte, wo ein unverrückbares 3er-Gestirn von Bonitätswächtern neue Buchstabenkombinationen aufblitzen lässt, um wieder eine unabhängige Meinung unter vielen anzubieten.
Meinung dient der Vermarktung
Meinung abzugeben wird technisch immer einfacher. Der Facebook I like-Button und die Google-Verplussung sind das Tor zu einem milliardenschweren Ad Tracking. Die Selbst- und Fremdkommentierungen von Bild-, Text, und Video-Nachrichten werden dank algorithmischer Kategorisierungen dabei zu Selbstverstärkern unerkannter Wünsche und Trends. Allein dass jede Suche und jeder Seitenaufruf im Netz von Google anonym mitgeschrieben wird, erlaubt bereits ganz neue Möglichkeiten bei der Einpreisung von Online-Anzeigen. Auch wenn einer kausalen Gleichschaltung zwischen Werbeinformation und Warenkauf viele kognitive Grenzen gesetzt sind, ihre Auswahl und Darstellung auf der Seitenleiste beeinflusst dennoch irgendwie ganz ungeniert, unautorisiert und unerforscht das, was wir zu meinen scheinen (werden). Und sei es nicht zuletzt als Ärger über eben diese unintelligente Form der Meinungsvermarktung.
Meinungsmärkte handeln zugleich mit Aufmerksamkeit
Technisch sind Meinungen zwar leicht vermittelbar, aber kognitiv und kommunikativ haben sie ihren doppelten Preis: Jeder Klick und jeder Kommentar wird zur festen Währung auf Meinungsmärkten. Im Vergleich zu anderen Konsumgütern wird Meinung in Aufmerksamkeit gemessen. Sie lässt sich ständig losgelöst vom ursprünglichen Produzenten wieder verlinken und verwerten, und dies entlang einer ständig verlängerbaren (Er)-Schöpfungskette. Texte, Videos und Bilder lassen sich millionenfach anklicken, endlos und sinnlos kommentieren. Gerade wer seine Meinung schriftlich preisgibt, wird dann auch kritisierbarer als in mündlicher Kommunikation. Was in Seminaren oder Meetings noch schnell bestritten oder revidiert werden konnte (eben weil keiner mitschreibt oder auf record drückt), kann im digitalisierten Text beim Wort genommen werden. Meinungsmärkte sind deshalb riskant. Sie verlangen von den Beteiligten ein delikates Aushandeln von Selbst- und Fremderwartungen, dem sie sich immer wieder stellen müssen – wenn es denn nicht gelöscht oder anders verhindert wird.
Asoziale Netzwerke
Wie in geselliger Interaktion ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut, das sich sozial, zeitlich und sachlich ungleich verteilt. Wer, wann, und mit wem kommuniziert, kann im Netz jedoch ungleich leichter limitiert, organisiert und vertagt werden. Zutrittsbarrieren lassen sich auf Facebook, LinkedIn & Google+ über die Profil- und Kontoeinstellungen festlegen, die Onlinepresse kann eAbos vergeben und generell ist überall, wo User-Content generiert und genutzt wird, eine Anmelde-Schranke zwischengeschaltet. Während Unterhaltungen schnell wieder in einzelne Zwischengespräche zerfallen, wenn sie kein simultanes Aufmerksamkeitszentrum halten können, kann Aufmerksamkeit im Internet sukessiv auf- und abgebaut werden. Sie kann im Netz damit nicht nur technisch einfacher gesteuert werden, sie ist dort auch einfacher beobachtbar.
Share-Buttons, Statusnachrichten und threads machen Aufmerksamkeit für Meinungen zudem vergleichbar, weil sie messbar und unterscheidbar werden. Klickraten gerinnen zu Themen, die dem öffentlichen Gedächtnis zur Verfügung stehen, da sie ihm helfen zwischen erinnern und vergessen zu unterscheiden. Aber wer auf diesen Märkten keine hohen Werte für seine Meinungen erzielt, gerät dann auch leicht ins Abseits. Denn wer nicht kommentiert, wer nicht retweetet oder empfiehlt, straft seine Autoren mit Nichtbeachtung: Stell Dir vor Du postest eine Nachricht, und keiner liest sie. Stell Dir vor, Du stellst Dateien ins Netz und keiner nutzt sie. Der Entzug und die Gewährung von Aufmerksamkeit hängen dabei eng zusammen mit Fragen der Achtung und Missachtung.
Meinungsinvasion als Ausdruck gesteigerter massenmedialer Konkurrenz
Wenn die Erwartung auf Anschluss und Aufmerksamkeit enttäuscht wird, kann ihre Richtung umschlagen. Ignoranz wird dann zu einem wirksamen Mittel, um andere mit Verachtung zu strafen. Wo es die Möglichkeit zur Meinungskommunikation gibt, da wird Ihr Ausbleiben prekär, denn wer nicht dafür stimmt – sei es per Mausklick, Email, sms oder Telefon – von dem wird das Gegenteil angenommen – sei es gegen die Form oder gegen den Inhalt. Eine unbegründete und unbestimmte Dislike-Information läuft dann ständig implizit mit. Diese Unbestimmtheit kann unerträgliche Erwartungserwartungen provozieren: Wieso ist keiner im Chat? Wieso meldet sich keiner? Wieso wird nicht kommentiert? Öffentliche Meinungskommunikation macht sich dabei immer sichtbarer von der Bewertung Dritter abhängig. Meinungen treten dabei in Wettbewerb um Achtung und Missachtung. Der neurotische Suchzwang nach interaktiven Dritten in den unterschiedlichsten Massenmedien ist damit zugleich auch Spiegel verstärkter Konkurrenz um aufmerksame Beobachter. Und wo sich diese bündeln, da ist auch die ersehnte Relevanz, von der einsame Nutzer, verbissene Unternehmensrivalen und ungekrönte Blogger träumen.
(Bild: Anja Lochner)