Stefan Kühls These, dass dschihadistische Bewegungen, die sich „verorganisieren“, verwundbarer werden, leuchtet auf den ersten Blick ein. Was aber geht verloren, wenn man sich einseitig auf Nebenfolgen der „Verorganisierung“ des IS konzentriert?[1]
Stefan Kühls These der „Verorganisierung“ von dschihadistischen Bewegungen zielt zuerst auf den Effekt der Adressierbarkeit. Der IS wird als Organisation wahrnehmbar; einerseits, weil er über ein Territorium herrscht und staatliche Funktionen erfüllt, andererseits, weil einst im Untergrund agierende Aktivisten sich nun zu einer Organisation bekennen oder in diese aufgenommen werden können, das heißt: Mitglieder werden. Der Terror, so die These, bekommt durch die „Verorganisierung“ eine Adresse. Der IS wird bekämpfbarer.
Die Argumentation Kühls legt nahe, den Begriff der Adresse wenn nicht als Handlungsanweisung so doch als Beruhigung zu lesen. Entgegen der weitläufigen Meinung, dass der Terror sich schleichend, unbemerkt und unkontrollierbar inmitten von Gesellschaften ausbreitet, plädiert Kühl für eine organisationssoziologisch nüchterne Betrachtung: Die „Verorganisierung“ dschihadistischer Bewegungen bedeutet nicht zwangsläufig eine „Effizienzsteigerung“ des Terrors. Vielmehr habe diese für den IS Nebenfolgen, die dann wiederum die Organisation selbst gefährden (könnten). In dieser Beobachtung liegt unzweifelhaft die Stärke des Kühlschen Arguments.[2]
Wo liegen aber seine blinden Flecken?
Nehmen wir den Begriff der Adressierbarkeit ernst, dann stellt sich die Frage: Adressierbar für wen? Kühls implizite Antwort darauf lautet: Für diejenigen, die den IS bekämpfen wollen. Aber dies ist ja nur eine der möglichen Antworten. Der „verorganisierte“ IS wird beispielsweise auch als Adresse wahrnehmbar für die Massenmedien. Nicht zuletzt – und das ist der für meine Argumentation entscheidende Punkt – wird der IS für alle diejenigen zur ersten Adresse, die sich vom radikalen Projekt eines Gottesstaates angezogen fühlen bzw. sich diesem bereits verschrieben haben. Darunter fallen nun ganz unterschiedliche Akteure. Die Spannbreite reicht von Jugendlichen aus der Mittelschicht über ideologisch gefestigte Einzelakteure (lonely-wolf-Phänomen) bis hin zu anderen, bereits existierenden terroristischen Gruppen (zukünftige Kooperationspartner oder Konkurrenzgruppierungen).
Binden wir diese Beobachtung an einen zweiten Effekt der „Verorganisierung“ zurück, den Kühl in seinem Beitrag anführt. Dieser bezieht sich nicht auf das Verhältnis zwischen der Organisation und ihrer Umwelt, sondern auf ein organisationsinternes Problem: die Motivation der Mitglieder einer Organisation. Organisationssoziologisch formuliert lassen sich Teilnahmemotivation und Leistungsmotivation unterscheiden, wobei – und das ist hier zentral – keinesfalls von der Eintrittsmotivation auf die Teilnahmemotivation geschlossen werden kann.[3] Weniger abstrakt ausgedrückt: Wer sich dafür entscheidet, dem IS beizutreten, führt noch nicht automatisch auch Attentate oder Massenerschießungen durch. Für terroristische Bewegungen, so die Unterstellung, ist dieses Problem zweitrangig, da ihre Aktivisten überzeugt sind. Sie identifizieren sich so stark mit der Sache, dass sich die Bewegung keine Gedanken über zusätzliche Motivationen machen muss. Dies ändert sich, so Kühl, wenn sich Bewegungen „verorganisieren“. Kühl argumentiert, dass eine Nebenfolge der „Verorganisierung“ sei, dass der „ursprünglich attraktive“ Zweck, über den die Bewegung ihre Aktivisten motivieren konnte, an Attraktivität verliert. Am Beispiel des IS könne diese Entwicklung nachvollzogen werden: So treten etwa in Propagandavideos neben der Motivation über den Zweck auch andere Motivationsmittel in Erscheinung wie etwa Wohnraum, Bezahlung oder die Ermöglichung der Ausübung exzessiver Gewalt.
Überraschend ist nun, dass Kühl – als Organisationssoziologe in der Traditionslinie Luhmanns – doch eigentlich die theoretische Grundannahme vertritt, dass Organisationen auch dann funktionieren, wenn die Zweckidentifikation ihrer Mitglieder nachlässt oder sogar völlig ausbleibt. (Staatliche) Gewaltorganisationen, so arbeitet Kühl in seiner Monographie „Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“[4] in bestechender Weise heraus, verfügen über ein breites Arsenal an Mechanismen, um Mitglieder zu Handlungen zu motivieren. Das Beunruhigende, so Kühl über die Folgebereitschaft von Organisationsmitglieder, ist doch genau dieser Punkt: Um Massenerschießungen, Folter oder Deportationen durchzuführen, braucht es keine ideologische Überzeugung. Organisationen sorgen auch auf anderen Wegen (siehe oben) für Folgebereitschaft.
Was heiß das konsequenterweise für die These der „Verorganisierung“ des IS?
In dem Moment, in dem terroristische Bewegungen sich „verorganisieren“, gewinnen sie ja auch Möglichkeiten, ihre Mitglieder anders als über den „ursprünglich attraktiven“ Zweck zu motivieren hinzu! Kühl widerspricht seiner theoretischen Grundüberzeugung also an einem ganz zentralen Punkt gewissermaßen selbst. Während er in seiner Arbeit über „Ganz normale Organisationen“ gerade betont, dass Zweckidentifikation als Motivationsmittel zu hoch gehängt wird, argumentiert er am Beispiel der „Verorganisierung“ des IS, dass es für die zur Organisation werdende Bewegung ein Problem darstellt, wenn die Zweckidentifikation wegfällt. Die (einst) überzeugten Aktivisten, so könnte man überspitzt formulieren, werden „ganz normale“ Organisationsmitglieder. Die „Besonderheit“, IS-Kämpfer zu sein, geht dahin.
Das bisher Gesagte macht zwei Probleme der Kühlschen Argumentation deutlich, wovon eines eher politisch-strategischer und das andere eher theorieimmanenter Art ist. Zum Politisch-Strategischen: Nur der „verorganisierte“ IS konnte zur ersten Adresse für Dschihadisten aus aller Welt werden und besitzt alle Möglichkeiten, die erste Adresse zu bleiben. Und dies gerade weil er seinen (potentiellen) Mitgliedern ermöglicht, aus ganz verschiedenen Motiven beizutreten. Erst durch die „Verorganisierung“ – so die Gegenthese – ist der IS in der Lage, von tatsächlicher Zweckidentifikation zu abstrahieren und eine breite Palette von Motivationsmitteln bereitzustellen.
Folgt man diesem Argument, verschiebt sich der Fokus der politischen Auseinandersetzung. Provokant formuliert: Kühls These der „Verorganisierung“ unterschätzt die Radikalität des Projekts „Islamischer Staat“. Es wird der gleiche politische Fehler wiederholt, der schon bei der Entstehung des IS beobachtbar war: Durch die Fokussierung auf die Bewegungskomponente wurde völlig übersehen, dass der IS von Beginn an mehr war als eine fundamentalistische Bewegung. Unter seiner Fahne versammelten und versammeln sich ganz heterogene Akteure. Seine „ursprüngliche Attraktivität“ hat er seitdem nicht verloren. Im Gegenteil.
Um einen Einwand vorwegzunehmen: Natürlich fokussiert Stefan Kühls Beitrag zuallererst die dschihadistischen Bewegungen Europas und nicht die quasi-staatliche Organisation des IS in Teilen Syriens und dem Irak. Und für die Aktivisten/Mitglieder der dschihadistischen Bewegung(en) in Europa trifft sicherlich zu, dass sie im Zuge der „Verorganisierung“ adressierbar und damit bekämpfbarer werden. Aber – darauf habe ich bereits hingewiesen – die „Verorganisierung“ macht den IS gerade auch in Europa für (potentielle) Mitglieder adressierbar. Der IS unterhält – so wird zumindest berichtet – Rekrutierungsbüros, organisiert Indoktrination, betreibt Sozialarbeit in Gefängnissen und auf der Straße. Und schließlich: Der (potentielle) Beitritt zum IS ist ja immer verbunden mit dem Ziel, für die Errichtung eines Kalifats zu kämpfen – in Syrien und dem Irak, in Europa, weltweit. Kurz gesagt: Seinem Selbstverständnis nach ist der IS (so schwierig er als Gesamtphänomen auch zu erfassen sein mag) weder Bewegung noch Organisation.
Dies führt direkt zu einem theorieimmanenten Problem organisationssoziologischer Analyse, auf das an dieser Stelle nur abschließend hingewiesen werden soll (in der Hoffnung, dass dieser Gesichtspunkt in weiteren Diskussionen aufgegriffen wird): Inwieweit taugen Unterscheidungen wie Bewegung/Organisation, Aktivist/Mitglied, Person/Rolle oder Begriffe wie Zweckidentifikation eigentlich, um eine – wenn auch extrem radikalisierte – Variante der Organisierung des gesellschaftlichen Lebens in den Blick zu nehmen, die „uns“ und „unserer“ Theoriebildung bisher sehr fremd geblieben ist: den politischen Islam.
[Bild: quapan]
[1] Ich danke den Mitgliedern der Forschungsgruppe Organisation und Dynamik extensiver Gewalt (ORDEX) an der Universität Bielefeld Thomas Hoebel, Dominic Ionescu, Tabea Koepp und Chris Schattka für die Kommentierung einer früheren Fassung dieses Textes.
[2] Gerade die massenmediale Thematisierung des IS bedient einseitig die Vorstellung, dass eine „Verorganisierung“ dschihadistischer Bewegungen zwangsläufig eine „Effizienzsteigerung“ des Terrors bedeutet. Gedacht sei hier bspw. an Begriffe wie „generalstabsmäßig“ oder „Kommandoaktion“, mithilfe derer die jüngsten Anschläge in Paris eingeordnet wurden.
[3] Siehe zur Unterscheidung von Teilnahme- und Leistungsmotivation Niklas Luhmann, Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 104-108; instruktiv für die Frage von Handlungsmotivationen in Zwangsorganisationen Stefan Kühl, Zwangsorganisationen, in: Maja Apelt, Veronika Tacke (Hrsg.), Handbuch Organisationstypen Wiesbaden 2012; für einen ersten Überblick zu Handlungsmotivationen Stefan Kühl, Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 37-45.
[4] Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014.
Sie gehen in ihrem Text davon aus, dass Stefan Kühl seine These, dass durch eine stärkere Organisation der islamische Staat adressierbar wird, nur auf Europa bezogen hat. Während ich denke, dass seine These in Bezug auf Syrien und Irak durchaus plausibel ist, habe ich jedoch meine Zweifel, ob man das auch für Europa behaupten kann. Im Text ist von Sozialarbeit in Gefängnissen und auf der Straße die Rede, von organisierter Indoktrination und Rekrutierungsbüros. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der IS ein Verein oder eine politische Partei wäre, wie jede andere auch – also eine normale Organisation.
Diese Sichtweise ignoriert aus meiner Sicht die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Organisation IS in Europa operieren muss. Diese Rahmenbedingungen verhindern es doch, dass der IS wie jede andere Organisation adressierbar wird und gezwungen ist in den Untergrund zu gehen, was ja gerade heißt Adressierbarkeit zumindest für die Strafverfolgung und Terrorabwehr zu vermeiden. Hier fangen, aus kriminologischer Sicht, die Organisationsprobleme für den IS in Europa erst an: Adressierbarkeit bzw. Auffindbarkeit für Sympathisanten und fehlende Adressierbarkeit für die Behörden. Unter dieser Bedingung werden Indoktrination, Rekrutierung, Sozialarbeit und die Planung von Terroranschlägen zu organisatorischen Herausforderungen.
Diese Überlegungen machen für mich deutlich, dass die Unterscheidung von Bewegung und Organisation unglücklich gewählt ist, denn sie verdeckt den Umstand, dass es vielmehr um verschiedene Formen der Organisation geht. Die Feststellung, dass sich der IS organisiert, bezeichnet nur das Offensichtliche. Sie gilt für Europa und Irak/Syrien gleichermaßen. Der wichtige Unterschied zwischen Europa und Irak/Syrien zeigt sich am Wie der Organisation. In Irak und Syrien kann es der IS ja durchaus riskieren sich als Organisation adressierbar zu machen, weil er (noch) nicht den unmittelbaren Zugriff europäischer Staaten fürchten muss.
[…] 22 Tobias Hauffe, Die erste Adresse des Terrors – Anmerkungen zu Stefan Kühls These der „Verorganisierung“ dschihadistischer Bewegungen, sozialtheoristen.de/2015/11/30/die-erste-adresse-des-terrors-anmerkungen-zu-stefan-kuehls-these-der-…. […]