Der Bielefelder Organisationssoziologe Stefan Kühl bringt in einem Essay über die Entwicklung des „Islamischen Staates“ (IS) die durchaus plausible These ins Spiel, dieser durchlaufe einen Prozess der „Verorganisierung“, im Zuge dessen er sich von einer sozialen Bewegung hin zu einer (staatlichen) Organisation entwickle oder bereits entwickelt habe. Dies allein wäre nicht weiter problematisch, wenn der Autor damit nicht eine gewagte Prognose verbinden würde: Nämlich jene, dass der IS damit nicht nur leichter zu bekämpfen ist, weil er nun eine „Adresse“ hat, sondern dass er dadurch auch für seine Mitglieder weniger attraktiv werden würde. Der sozialpsychologisch reflektierte Leser fragt sich: Woher weiß der Autor das?
Zunächst ein durch und durch organisationssoziologischer Einwand, welcher für seinen Adressaten aber auch nicht neu sein dürfte: Im Sinne einer Beobachtung der Beobachter ist es für die oben aufgeworfene Frage nicht wichtig, ob Soziologen den IS noch als soziale Bewegung begreifen oder nicht – wichtig ist, ob seine Anhänger dies tun. Organisationen haben bekanntlich vielfältige semantische Instrumentarien, um sowohl nach innen als auch nach außen einen „talk“ (vgl. Brunsson 1989) aufzubauen, der von ihrer Struktur bzw. ihrer „action“ hoch entkoppelt sein mag, der ihnen aber dennoch gegenüber ihrer Umwelt Legitimation verschafft. Sicher: Entkopplung ist riskant. Nicht zuletzt im Rahmen des neo-institutionalistischen Forschungsprogramms der sog. Stanford School ist eine Vielzahl von Fällen bekannt geworden, in denen Entkopplungen offensichtlich wurden und die schöne Wirkung der Selbstdarstellung nur allzu schnell dahin war.
Es ist aber die Frage zu stellen, ob es denn so schwer ist, sich – trotz organisationaler Systemstruktur – den Mantel einer sozialen Bewegung zu verschaffen, wenn selbiges schon lange vor dem IS auch schon ganz anderen, soziologisch klar als solchen identifizierbaren politischen Organisationen geglückt ist: Man denke etwa an die Schrift „Staat, Bewegung, Volk: Die Dreigliederung der politischen Einheit“ von Carl Schmitt (1935), welche dem Nationalsozialismus eine staatsrechtliche Legitimationsgrundlage verschaffen sollte. Der NSDAP ist es über viele Jahre – auch über den Kriegsbeginn 1939 hinaus – durchaus gelungen, sich der deutschen Bevölkerung eben nicht nur als bloße Partei, sondern als Bewegung zu verkaufen. Es ist nicht ersichtlich, wieso es nicht auch der IS verstehen sollte, sich eine ähnliche „innere Verkleidung“ zu schaffen und eben dadurch den Nimbus der sozialen Bewegung zu wahren, zumal der andauernde Kriegszustand – mit bekanntlich äußerst vielfältigen Gegnern – es ermöglicht, über die dadurch institutionalisierte Freund-Feind-Leitdifferenz die interne Integrations- und äußere Rekrutierungsfähigkeit noch zu erhöhen. Man kann sich damit also nicht einfach nur als Bewegung geben, sondern sogar als Protestbewegung!
Dies leitet über von der organisationssoziologischen zur sozialpsychologischen Perspektive. Denn wenn wir fragen wollen, ob und wie gut es Organisationen gelingt, alte Mitglieder zu behalten und neue zu rekrutieren, dann reicht es nicht aus, nur die Organisation und ihr Auftreten (s. o.) in den Blick zu nehmen, sondern dann müssen wir uns auch trauen, uns ihrer Umwelt zuzuwenden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass wir hier nun einen interdisziplinären Akt vollziehen, die organisationssoziologische Brille durch die sozialpsychologische Lupe ergänzen und fragen: Was bringt eigentlich Personen dazu, sich extremistischen und terroristischen Organisationen anzuschließen bzw. überhaupt Extremist zu werden?
Eine Grundkonstante gibt es, die alle drei „großen“ politischen Extremismen – den linken, den rechten und den islamistischen – vereint: Die Unterscheidung von Freund und Feind, eine radikal binäre Denkweise, im Zuge derer die soziale Umwelt „sortiert“ wird in moralistische Kategorien, in „Gut“ und „Böse“, wobei letzteres nicht wie ein normaler politischer Gegner abgelehnt wird, sondern ein Feind ist, der früher oder später zu eliminieren ist. Eine Denkweise, die dem psychischen System die Bequemlichkeit einer umfassend wirkenden Komplexitätsreduktion ermöglicht, indem sie – totalitär nicht nur auf gesellschaftlicher, sondern eben auch auf Interaktionsebene – alle Lebensbereiche einer Person erfasst.
Nicht zuletzt im Rahmen der sozialpsychologischen Forschung zu den Radikalisierungsprozessen von späteren RAF-Mitgliedern konnte diese Entwicklung nachgezeichnet werden: Interaktion wurde politisiert. Und dies eben nicht nur da, wo es zu erwarten ist – sprich: in politischen Gruppierungen – sondern eben auch in ganz anderen Interaktionssystemen: Im Hörsaal, der zu jener Zeit, zumindest in den sozialwissenschaftlichen Fächern, ebenso politisiert war, am Essenstisch in der links orientierten WG oder im Freundeskreis (vgl. Horn 1982).
Mit anderen Worten: Die politische Leitdifferenz wurde auf Interaktionsebene „totalitär“. Sie dominierte alle anderen: Freunde wurden danach ausgesucht, ob sie politisch auf der „richtigen“ Seite standen, ebenso Mitbewohner in der Wohngemeinschaft oder Lern- und Diskussionsgruppen in der Uni. Die gesamte soziale Umwelt wird also nur noch daraufhin beobachtet, ob sie der politischen Sache dient oder nicht – jede andere Unterscheidung (wie etwa: Ist er oder sie ein guter Zuhörer, ist er oder sie klug, reich, unterhaltsam, kultiviert usw. usf.) rückte in den Hintergrund. Dies wiederum bestärkte die Wirkungsmacht der politischen Leitunterscheidung, in Teilen dann eben bis hin zum Gang in den Untergrund, wo schließlich, bedingt durch die Abschottung, sich fatal auswirkende Groupthink-Prozesse (vgl. Janis 1972) nicht lange auf sich warten lassen – das System kann ja nicht mehr oder kaum noch irritiert werden.
Doch abgesehen von der Tatsache, dass eine Bewegung, die sich „verorganisiert“, wie dies beim IS der Fall ist, dieser Entwicklung ja eben gerade vorbeugt – indem sie eigene Subsysteme der Umweltbeobachtung schafft wie bspw. Nachrichtendienste, Medien etc. – und abseits davon, dass sie in ihrem eigenen Territorium eben nicht im „Untergrund“ ist, sondern sogar kollektiv bindend entscheidet: Dadurch, dass sie – nicht anders als die NSDAP früher und Hamas und Hisbollah heute – in so vielen Lebensbereichen ihrer Anhänger (Mitglieder) präsent ist, dürfte ihr auch die „totalitäre“ Vermittlung ihrer Freund-Feind-Leitdifferenz weiterhin gut gelingen. Dies nicht zuletzt bestärkt durch die sich fortsetzende, ja sogar intensivierende militärische Auseinandersetzung, die durch ihre vielfältigen Fronten – IS vs. „der Westen“, IS vs. Assad-Regime / Iran / Russland – eine Vielzahl an Feindbildern bietet, die im Rahmen des totalitären Codes intern und mit hoch integrativer Wirkung kommuniziert werden können.
Dies wird umso plausibler, wenn wir nun zusätzlich zur sozialpsychologischen Lupe, die in den letzten Abschnitten die organisationssoziologische Brille ergänzt hat, das individualpsychologische Mikroskop hinzuziehen. Denn Konfliktsysteme kriegerischer Art – insbesondere, wenn sie wie hier in „doppelter Form“ auftreten (s. o.) – entfalten bekanntlich gravierende Effekte auf psychische Systeme: Sie schaffen Teufelskreise, indem Personen durch selbst erlebte Gewalt traumatisiert und dadurch radikalisiert werden, da die aus den – insbesondere in der hier im Mittelpunkt stehenden Weltregion – massenhaft auftretenden Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) resultierenden psychischen Instabilitäten tiefgreifende emotionale Folgen nach sich ziehen. Sie begünstigen über vielfältige Teilaspekte – Empfindungen wie Hass oder auch der Drang zur Kompensation von Ohnmachtsgefühlen und Kontrollverlust – ihrerseits wieder die Gewalt von morgen, zumal oftmals auch keine Strukturen psychosozialer Dienstleistungen bestehen, die helfen könnten, diese Gewalterlebnisse und Traumata zu verarbeiten. Sie werden somit gewissermaßen mitgeschleppt und wachsen oft unerkannt heran zu inneren Dämonen, die irgendwann erbarmungslos zuschlagen können.
Dass Deprivation und Kontrollverlust in verschiedenen Lebensbereichen – was im Krieg wie gesagt klar zu erwarten ist – das Risiko erhöhen, sich politisch zu radikalisieren, ist sogar für das von Kriegsgeschehen derzeit verschonte Deutschland nachgewiesen, wo Sozialpsychologen zeigen konnten, dass derartige psychische Phänomene mit rechtsextremen, ethnozentrischen und verschwörungstheoretischen Einstellungen korrelieren (vgl. Fritsche / Deppe / Decker 2013: 167 ff.).
Dehnt man dieses Ergebnis als These auch auf andere Extremismen aus, so ist damit erklärt, was an der bereits oben beschriebenen Komplexitäts- und Kontingenzreduktion durch einen totalitären politischen Code, der alle Lebensbereiche erfasst, in diesen Fällen so attraktiv ist: Sie schafft die lang ersehnte Kontrollillusion, gibt dem Betroffenen das Gefühl, die Welt „durchschaut“ zu haben, womit die private Unsicherheit, das private Unglück, Ängste etc. wenigstens in Teilen kompensiert werden können. Es braucht wenig Fantasie, sich vorzustellen, wie attraktiv dies dann erst auf durch Gewalterfahrungen (womöglich bereits in früheren Kriegen frühkindlich) traumatisierte junge Menschen wirken kann, die noch weitaus mehr zu kompensieren haben als ein „nur“ arbeitsloser, geschiedener Ostdeutscher.
Gerade der Verorganisierungsprozess des IS könnte hier dann die Rolle eines „psychosozialen Auffangbeckens“ einnehmen: Denn es wird dadurch ja eben nicht nur die bisherige Bewegung organisiert, sondern auch das soziale Leben ihrer Anhänger bzw. Mitglieder. Wo Organisation, wo Hierarchie ist, da ist Berechenbarkeit und Kontingenzreduktion. Die Verorganisierung des IS schafft dann auch eine Verorganisierung seiner politischen Leitdifferenz, wodurch scheinbare weltanschauliche Klarheit und Berechenbarkeit vermittelt wird: „Dir geht es schlecht? Du hast Familienmitglieder und Freunde durch den Krieg verloren? Wir sagen dir, wer schuld ist, und was du tun musst, um sie zu rächen!“.
Das „doppelte Konfliktsystem“, in dem der IS operiert, macht diesen zwar zur Organisation, aber es erlaubt ihm gerade dadurch eben auch, seine Integrationsmechanismen zu professionalisieren und auszubauen, womöglich gar psychosoziale Dienstleistungen anzubieten, die mit der Vermittlung radikal-islamistischer Ideologie im Sinne einer fundamentalistischen „Seelsorge“ verknüpft werden. All dies dürfte dem IS nicht nur seine interne Integrationsfähigkeit in Bezug auf bereits vorhandene Mitglieder erleichtern, sondern sogar auch neue Möglichkeiten der Rekrutierung neuer Mitglieder eröffnen. Der totalitäre Anspruch des IS verstärkt diese Entwicklung sogar noch. Der israelisch-palästinensische Nahost-Konflikt, in dem die Hamas eben nicht nur politische Gewalt ausübt, sondern auch soziale Strukturen bereitstellt und dadurch integriert und rekrutiert, führt uns diese Prozesse seit Jahrzehnten vor Augen.
Es sollte deutlich geworden sein, dass eine fundierte Prognose hinsichtlich der Frage, wie es mit dem „Islamischen Staat“ – abseits militärischer Entwicklungen – weitergehen wird, eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Perspektive braucht, die sich nicht auf die organisationssoziologische Brille beschränkt. Dies gilt umso mehr, als dass in diesem Artikel abseits der Meso-Ebene nur die Mikro-Ebene thematisiert, die gesellschaftliche Makro-Ebene jedoch weitestgehend ausgespart wurde – obwohl auch diese insbesondere politische Entwicklungen bereithalten dürfte, die für die aufgeworfene Frage von großer Bedeutung sind. Dass der IS als Organisation für seine Mitglieder weniger attraktiv wird, dürfte jedoch eine allzu optimistische These sein, die wichtige psychosoziale Prozesse ausblendet.
Literatur:
Brunsson, Nils (1989). The Organization of Hypocrisy. Chichester: Wiley.
Fritsche, Immo / Deppe, Janine / Decker, Oliver (2013). Außer Kontrolle? Ethnozentrische Reaktionen und gruppenbasierte Kontrolle. In: Oliver Decker / Johannes Kiess / Elmar Brähler (Hrsg.): Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Horn, Michael (1982). Sozialpsychologie des Terrorismus. Frankfurt a. M. / New York: Campus.
Janis, Irving (1972). Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-Policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton Mifflin.
Schmitt, Carl (1935). Staat, Bewegung, Volk: Die Dreigliederung der politischen Einheit. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt.