„Der Artikel 50 ist so wunderbar formuliert, wie ihn Europa überhaupt nur formulieren kann“ (zitiert nach Brössler/Kirchner 2016) ließ Angela Merkel am Ende des zweiten Tages des Treffens des Europäischen Rates nach dem so genannten ‚Brexit‘ verlauten. Diese Aussage mag etwas überraschen, denn seit dem britischen Referendum kreisen die Diskussionen um die Folgen für die Europäische Union (EU) vor allem um zwei Fragen: Wann reicht die Regierung Großbritanniens ihr Austrittsgesuch bei der EU ein und was passiert in den darauf folgenden Austrittsverhandlungen eigentlich genau?
Insbesondere die zweite Frage kann aus einer organisationssoziologischen Perspektive gewinnbringend betrachtet werden. Hierbei soll weder über Inhalte, noch über Verfahren der bevorstehenden Austrittsverhandlungen spekuliert werden. Vielmehr ist es die Unsicherheit über das bevorstehende Verfahren selbst, die erklärungsbedürftig scheint und die, so meine These, für die Organisation EU als funktional angesehen werden kann.
Der vielzitierte Artikel 50 (1) des EU-Vertrags, der im Zuge des Vertrags von Lissabon 2007 in das Vertragswerk aufgenommen wurde, besagt, dass „[j]eder Mitgliedsstaat […] im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen [kann], aus der Union auszutreten“ (EU-Vertrag 2012). Hierfür ist, wie durch die aktuellen Diskussionen bekannt sein dürfte, die Absichtserklärung zum Austritt durch den jeweiligen Mitgliedsstaat notwendig. Anschließend soll ein Abkommen zum Austritt ausgehandelt werden, in dem nach Artikel 50 (2) auch die „künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt [werden]“ (ebd.). Interessant ist zudem, dass, sofern die Verhandlungen nicht zum Abschluss kommen, nach Artikel 50 (3) der Austritt des Mitgliedsstaates nach zwei Jahren effektiv in Kraft tritt und dass diese Zwei-Jahresfrist verlängert werden kann, sofern der Europäische Rat und der betroffene Mitgliedsstaat zustimmen (vgl. ebd.).
Diese Regelungen bedeuten für den Fall eines Austritts, wie aktuell zu beobachten ist, vor allem eins: ein hohes Maß an Unsicherheit. Dies betrifft zum einen die konkreten Aushandlungsverfahren als auch die Inhalte eines Austrittsabkommens. Zudem wird der Austritt, sofern die Verhandlungen nicht abgeschlossen sind, erst nach zwei Jahren vollzogen, wobei im Einvernehmen mit der Regierung des ausscheidenden Mitgliedsstaates der effektive Austritt zusätzlich hinausgezögert werden kann.
An diese Beobachtung schließt sich die Frage an, warum Austritte von Mitgliedsstaaten aus der EU eigentlich nicht konkreter geregelt sind und einen derart großen Handlungsspielraum erlauben. Eine Erklärung ist, dass eigentlich niemand damit rechnet, dass Staaten tatsächlich austreten wollen und die Vertragsklausel eher pro forma in den EU-Vertrag aufgenommen wurde. Eine organisationssoziologische Perspektive erlaubt hingegen noch einen anderen Erklärungsansatz: die Funktionalität von Unsicherheit.
Die Europäische Union als Meta-Organisation
Göran Ahrne und Nils Brunsson haben ein Konzept entwickelt, dass zur Beschreibung eines besonderen Typus von Organisationen dienen soll: Immer dann, wenn die Mitglieder von Organisationen nicht Personen, sondern andere Organisationen sind, so die These von Ahrne und Brunsson, handelt es sich um Meta-Organisationen, deren Charakteristika von denen individualbasierter Organisationen abweichen (vgl. Ahrne/Brunsson 2008: 57). Ein zentraler Unterschied liegt hierbei in der höheren Abhängigkeit der Meta-Organisation gegenüber ihren Mitgliedern. So ist es für Meta-Organisationen, die in der Regel einen relativ konkreten Adressatenkreis haben, deutlich wichtiger, wer ihre Mitglieder sind, als das beispielsweise in Unternehmen der Fall ist (vgl. ebd.: 85). Während es nicht unbedingt entscheidend ist, welche Person die Stelle des Buchhalters ausfüllt, können die Vereinten Nationen (UN) Uganda als Mitglied nicht eins zu eins kompensieren: „The identity of the meta-organization is dependent upon the identity of its members“ (ebd.).
Hieraus lässt sich ein Grundproblem von Meta-Organisationen ableiten, dass diese von anderen Organisationstypen unterscheidet: Der Austritt von Mitgliedern wird zu einem zentralen Problem. Die EU kann nicht einfach einen anderen Staat anstelle Großbritanniens aufnehmen, ohne damit den Charakter der EU selbst zu verändern. Insbesondere prestigeträchtige und starke Mitglieder bzw. im Falle der EU einflussreiche, wirtschaftlich bedeutende Staaten sind es daher, die für die Meta-Organisation von zentraler Bedeutung sind. Dies gilt vor allem auch hinsichtlich ihrer Attraktivität für Nicht-Mitglieder (vgl. ebd.: 87f.).
Zur Funktionalität von Unsicherheit in Austrittsverfahren
Eine Möglichkeit dieses Problem anzugehen besteht darin, Austritte in den formalen Organisationsregeln schlichtweg nicht vorzusehen. So weist beispielsweise die Charta der UN keine Regelungen für eine freiwillige Beendigung der Mitgliedschaft auf[1]. Aus einer funktionalistischen Perspektive betrachtet wird deutlich, warum dieses Fehlen eines formalen Austrittsverfahrens für die UN durchaus hilfreich sein kann – es werden Handlungsspielräume eröffnet; so geschehen beim bisher einzigen Versuch eines Mitgliedsstaates, aus der UN auszutreten. 1965 verkündete Indonesien seinen Austritt aus den Vereinten Nationen, nur um ein Jahr später seinen Platz in der Generalversammlung wieder einzunehmen. Entscheidend ist hierbei, dass Indonesien nicht etwa neu in die Organisation eingetreten ist. Stattdessen ist es der UN gemeinsam mit Indonesien gelungen, den Austritt im Rahmen ihrer Handlungsspielräume zu einer ruhenden Mitgliedschaft umzudeuten[2].
Auch die EU hatte bis zu den Verträgen von Lissabon von 2007 auf eine Austrittsklausel verzichtet. Vor dem Hintergrund der Besonderheit von Meta-Organisationen stellt sich hier die Frage, warum sich die Organisation dennoch dazu entschieden hat, einen, wenn auch verhältnismäßig unbestimmten, formalen Austritt zu etablieren. Die Antwort könnte mit einer These zusammenhängen, die Niklas Luhmann hinsichtlich der Einfachheit von Organisationsaustritten formuliert hat und die davon ausgeht, „daß soziale Systeme, die den Austritt erleichtern, zugleich in der Formalisierung von Erwartungen weiter gehen können“ (Luhmann 1964: 44).
Die EU hat, so könnte man argumentieren, ihre zunehmende Formalisierung in Form der Verträge von Lissabon durch die Erleichterung des Organisationsaustritts ‚erkauft‘. Gleichzeitig zeigt sich an der Ausgestaltung von Artikel 50, dass die Formalisierung des Austritts selbst gering ausfällt und der konkrete weitere Ablauf unbestimmt bleibt. Dies, so meine These, hängt mit den Eigenschaften der EU als Meta-Organisation zusammen, die, weil sie Austritte verhindern muss, ein hohes Maß an Unsicherheit und Handlungsspielräumen hinsichtlich möglicher Austritte aufrechterhält[3]. Diese Unsicherheit ist funktional, weil sie kaum Vorhersagen über den Ablauf und die Inhalte von Austrittsverhandlungen zulässt und jeden Austritt als Einzelfall mit eigenen (Aus-)Handlungsspielräumen behandeln kann.
Dies kann nicht nur dazu dienen, Austritte zu verhindern, sondern der Organisation gleichzeitig die Möglichkeit eröffnen, Austrittsverhandlungen nicht zur Blaupause für Nachahmer werden zu lassen. Stattdessen kann durch das bewusste Vermeiden formaler Regelungen jedes Verfahren als Einzelfall betrachtet und damit der Fortbestand von Unsicherheit hinsichtlich potentieller weiterer Austrittsverfahren gewährleistet werden. Die rudimentäre Regelung von Austritten ist dementsprechend keine organisatorische Fehlleistung, sondern sie erfüllt eine bestimmte Funktion, indem sie ein Mittel für die EU darstellt, potentielle Austritte mit einem hohen Maß an Unsicherheit für den jeweiligen Mitgliedsstaat zu belasten und Handlungsspielräume für Sonderbehandlungen zu eröffnen.
Aus Sicht der Organisation EU ist Artikel 50 daher funktional und damit tatsächlich „wunderbar formuliert“.
(Bild: threefishsleeping Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0)
Literatur
Ahrne, Göran/Brunsson, Nils (2008). Meta-organizations. Cheltenham: Edward Elgar.
Brössler, Daniel/Kirchner, Thomas (2016). Merkel: „Vertragsänderungen sind nicht das Gebot der Stunde“. Online abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-gipfel-merkel-vertragsaenderungen-sind-nicht-das-gebot-der-stunde-1.3055851 (zuletzt abgerufen am 29.06.2016).
EU-Vertrag (2012). Vertrag über die Europäische Union. Konsolidierte Fassung. In: Amtsblatt der Europäischen Union vom 26.10.2012. Online abrufbar unter: https://www.bundeswahlleiter.de/de/europawahlen/downloads/rechtsgrundlagen/EUV.pdf (zuletzt abgerufen am 28.06.2016).
Luhmann, Niklas (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker und Humblot.
Schwelb, Egon (1967). Withdrawal from the United Nations. The Indonesian Intermezzo. In: The American Journal of International Law 61 (3), S.661-672.
Zeidler, Frank (1990). Der Austritt und Ausschluß von Mitgliedern aus den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Frankfurt a. M. (u.a.): Lang.
[1] Zwar wird in den Rechtswissenschaften betont, dass Austritte aus völkerrechtlicher Perspektive dennoch möglich seien (für einen Überblick vgl. Zeidler 1990: 12f.), in der Formalstruktur der UN schlägt sich dies allerdings nicht nieder.
[2] Auf die konkreten Aushandlungen, die diese nachträgliche Umdeutung möglich gemacht haben, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden (für einen Überblick über die Geschehnisse vgl. Schwelb 1967).
[3] Ganz im Gegensatz zum Eintritt neuer Mitglieder. Da Meta-Organisationen ihren Mitgliedern die Möglichkeit eröffnen, Umwelt in Organisation umzuwandeln (vgl. Ahrne/Brunsson 2008: 56), besteht die Attraktivität von Meta-Organisationen insbesondere auch darin, Unsicherheit durch Eintritt zu reduzieren.
[…] Der Text geht zurück auf einen Beitrag für das Kolloquium Organisations- forschung an der Soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld am 1. Juli 2016. Ebenfalls aus diesem Zusammenhang hervorgegangen ist eine Analyse von Finn-Rasmus Bull zur Funktionalität des Austrittsartikels im EU-Vertrag. […]