Es gibt keine Ursache für die aktuelle Finanzkrise. Es gibt auf jeden Fall eine Finanzkrise, die sich zur weltweiten Wirtschaftskrise ausdehnt und es gibt gut ebenso angebbare Gründe für das Zusammenbrechen des Finanzsystems, seien es unfassbar große Lügen oder unfassbar große Gier. Aber es gibt keine Ursache für den Kollaps. Und damit gibt es auch keine Lösung für das Problem. Begreiflich wird dieser Umstand erst, wenn man die aktuelle Finanzkrise vor dem Hintergrund des Technologiedefizits des Wirtschaftssystems betrachtet.
Der Begriff des Technologiedefizits wurde von Niklas Luhman und Karl E. Schorr entwickelt, um die Unmöglichkeit planbarer Einwirkung auf menschliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse durch erzieherische Maßnahmen darzustellen. Der Begriff wird daher meist in der Pädagogik, bzw in der Analyse des Erziehungssystems verwendet, obwohl ihm ein – wie für die Systemtheorie typisch – allgemeiner Gedankengang vorausgeht, der alle sozialen Systeme betrifft und bestens auf den Zusammenbruch der Finanzmärkte angewendet werden kann.
Bezogen auf produzierende Organisation bedeutet Technologie, dass verschiedene Verfahren zusammenwirken, um Materialien mit definierbaren Fehlerquellen und vorhersagbaren Wirkungen von einem Zustand in einen anderen umzuformen. Die vorhandene Technologie bestimmt dann die Sicherheit, mit der gesagt werden kann, ob und unter welchen Bedingungen sich der Erfolg einstellt.
Money-processing-Organisations, die keine Produkte im materiellen Sinne, sondern Geld, also soziale Konstrukte verändern wollen, stehen vor dem Problem, dass die wesentlichen Komponenten, die für die Benennung einer Technologie nötig sind, nicht identifiziert werden können. Grund hierfür ist die massenhaft auftretende Selbstreferenz sozialer Systeme. Es ist weder für Beteiligte, noch für Außenstehende möglich, zu sagen, welche zeitlichen Eigenschaften das Geld als Kommunikationsmedium hat, welche Wirkungen welche Folgen haben, noch wie die am Prozess direkt und mittelbar Beteiligten Organisationen auf die Eigendynamik des Finanzmarkts reagieren. Dass man eine Blackbox nicht berechnen kann, ist zwar offensichtlich, aber nichtsdestotrotz wird sich der Mythos der Volkswirtschaftlehre weiter mit zweifelhaftem Ruhm bekleckern dürfen.
Das Problem des Technologiedefizits des Finanzsystems bezieht sich auf drei Ebenen:
- Zeitdimension (Kausalität, bzw. zeitlich-lineare, gesetzmäßige Ordnungsfähigkeit),
- Sachdimension (Rationalität nach Maßgabe des Zweck-Mittel-Schemas) und
- Sozialdimension (Sozialität, die Selbstrefrenz des Individuums einbeziehend).
Nimmt man dies Konzept zur Grundlage der Analyse der aktuellen Finanzkrise, verändert sich die Perspektive grundlegend. So wird auf der Ebene der Sozialdimension nicht mehr von einer Bank-zu-Bank-Tranfer-Problematik ausgegangen, sondern von einer sozialstrukturellen Analyse der Komplexität von Finanztransaktionssytemen. Dabei kommen dann vor allem die Grenzen ihres Wahrnehmungs- und Handlungsvermögens in den Blickpunkt. So gesehen, wird die Finanzspekualtion auf Grund massenhaft auftretender Selbstreferenz unübersichtlich, zumal die Position des Bankers, dem in der Regel die Übersichtsfähigkeit zugerechnet wird, selbst im System involviert ist. Alle Finanzplanung und alle Plandurchführung stehen vor dem Problem multipler Selbstreferenz. Das den Erwartungen häufig widersprechende Auf und Ab der Börsen zeigt dies deutlich.
Ich möchte an dieser Stelle besonders die mit der Zeitdimension verbundene Kausalität hervorheben, weil in der aktuellen Debatte vor allem zeitliche Erwartungen und damit verbundene Maßnahmen und Forderungen im Vordergrund stehen. Es gibt jedoch keine objektiven Kausalgesetze sozialer Kommunikation. Demnach gibt es auch keine Ursachen für beobachtbare Wirkungen und vor allem gibt es keine objektiven Lösungen für die vorhandenen Probleme. Vielmehr muss danach gefragt werden, auf Grund welcher Vorstellungen von Kausalität die Aktuere des Finanzsystems und des Politiksystems handeln. Die tatsächliche Komplexität von kausalen Zusammenhängen ist nämlich immer so hoch, dass man sie nur in reduzierter Form erfassen und verarbeiten kann. Diese Simplifizierungen werden Kausalpläne genannt.
Allen Kausalplänen ist jedoch gemein, dass sie in dem Sinne falsch sind, dass sie nie die gesamte Komplexität abbilden. Da es für Sozialsysteme keine objektiven, bzw. natürlichen Kausalpläne gibt, ist es immer die (empirische) Frage, welche Kausalpläne in Gebrauch sind und welche Rechtfertigungszurechnungen dafür verwendet werden. Die Grundlage jeder Technologie besteht somit aus falschen Kausalplänen. Und geanu das ist der Grund, weshalb ich von einem Technologiedefizit des Wirtschaftsystems spreche. Ob es richtig ist, die Banken zu verstaatlichen? Ob die Gesetze des freien Markts die Wunden heilen mögen? Ob die Manager eine neue Ethik brauchen? Ob der Staat endlich wieder mit starker Hand über das Finanzsystem regieren sollte? Wer könnte es wissen? Selbst wenn es noch schlimmer wird oder es alles wieder nach eitel-Sonnenschein aussieht, wird niemand objektiv sagen können, woran es liegt (ebenso, aber abstrakter und allgemein, erklärt es Hendrik). Ganze Disziplinen und Funktionssysteme werden sich zwar an dieser Frage abarbeiten (ich denke hier vor allem an die (Wirtschafts-)Wissenschaft, die Politik, die hier ein vortreffliches Wahlkampfthema findet, und die Massenmedien). Es wird vergeblich sein. Soziologisch interessant sind dann allerdings noch zwei Fragen:
- Wie kann eine wirtschaftliche Organisation handlungsfähig bleiben, ohne sich auf die Sicherheit einer Technologie verlassen zu können? Stefan gab hier schon einige Anregungen.
- Was lassen die (als dominant inszenierten) Kausalpläne zur „Rettung des Finansystems“ für Schlüsse auf die Gesellschaft zu?
Literatur: Niklas Luhmann, Karl E. Schorr (1982): Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In: ders.: Zwischen Technologie und Selbstferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt: Suhrkamp. S. 11-40.
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