Gedanken zur Systemtheorie II: Konstruktivismus

Die Systemtheorie flaggt sich selbst als eine Theorie aus, die den Konstruktivismus als „Erkenntnisprogramm“ (Luhmann) nutzt. Gemeint ist damit nicht die relativ eingängige Aussage, dass alles konstruiert ist bzw., dass es keine Realität gibt. Diese Aussage würde ja letztendlich auch auf die Paradoxie hinführen, dass selbst die Konstruktion noch einmal konstruiert ist- spielt man dies weiter durch, würde folglich jede Form der Konstruktion im infiniten Regress enden. Und negiert man dies, um an einer  „Exklusiv“- Konstruktion festzuhalten, würde man ja letztendlich wieder auf ein ontologisches Weltbild referieren, in dem die Konstruktion quasi „ist“- und nicht mehr von der Realität zu unterscheiden wäre. Die Konstruktion aber ist nicht einfach in der Welt, sondern muss rückgebunden werden an ein System. Nur Systeme konstruieren, wenn man so sagen darf. Aber was genau bedeutet konstruieren?

Offensichtlich scheint es nicht darum zu gehen, dass alles, was ist, sich (quasi ontologisch) über die Negation seines „Ichs“  in der Welt konstituiert, so als ob der Tisch den „Nicht- Tisch“ bräuchte, um existent zu sein. Folgt man Luhmann, so muss man wohl sagen, dass Negationen nur in Systemen vorkommen, die auf der Basis von Kommunikation respektive Bewusstsein operieren.

Nehmen wir also hier die Präsumtion mit, dass alle Erkenntnis (von Realität) an Systeme gebunden ist und dass die Aussage, dass alles konstruiert sei, uns in die Schwierigkeit eines praktisch nicht enden wollenden Regresses führt. Aus diesem Grund schlägt die Systemtheorie einen anderen Weg ein.

In einem ersten Schritt muss man fragen, wer wie man erkennen kann. Die Antwort auf das „wer“ haben wir bereits gegeben: Nur Systeme können erkennen: aber wie?

Die Antwort muss hier lauten, dass Systeme durch ihre selbstreferentielle Schließung in der Lage sind, die Umwelt unter spezifischen Differenzen abzutasten und daraus Erkenntnisse zu produzieren. Erst die selbstreferentielle Abkopplung von der Umwelt und die damit einhergehende Möglichkeit der Steigerung von Komplexität (= Relationierung von Relationen) ermöglicht also Erkennen und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, trotz zwangsläufig auftretender Paradoxien, rekursiv weiter zu operieren. Wohlgemerkt: Abkopplung von der Umwelt bedeutet nicht: Solipsismus, sondern durch Geschlossenheit ermöglichte Offenheit. Abtasten bedeutet hier dementsprechend natürlich nichts anderes als: „beobachten“- also bezeichnen und unterscheiden. Jede Beobachtung erzeugt also systemintern Negationen- der Tisch wird bezeichnet und nicht das Auto. Hier wird bereits deutlich, dass die Negation keinerlei Korrelat in der Umwelt findet- in dieser gibt es eben den Nicht- Tisch als Auto nicht.

Lässt man an dieser Stelle sich aufdrängende Fragen wie z. B die, wie eine allgemein akzeptierte Realität konstruiert wird, aus Platzgründen (zwangsläufig) beiseite, so wird deutlich, dass Erkenntnis ebenfalls eine paradoxale Operation ist: Jedes Erkennen (also jegliches „Abtasten“ der Umwelt mit systemintern konstruierten Differenzen) ist nur dadurch möglich, dass erst Nicht- Sehen Sehen ermöglicht (von Förster). Will man dies wiederum beobachten, braucht man Zeit um die beobachtungsleitenden Differenzen zu wechseln. Im Modus der Gleichzeitigkeit ist die Paradoxie von keinem Beobachter (1. Ordnung) aufzudecken.

Auch hier scheint sich also wieder zu bewahrheiten, dass Systeme ihre Fundierung in sich selber mit Paradoxien bezahlen müssen, die sie nur rekursiv weiter verwenden, nicht aber auflösen können. Die Paradoxie des blinden Flecks ist also „Weltgarantie“ (Luhmann).

Veröffentlicht von Henrik Dosdall

denkt, dass Luhmann recht hatte und liest die Soziologie dementsprechend. Schwerpunkte sind Systemtheorie und Epistemologie.

6 Kommentare

  1. […] niemand objektiv sagen können, woran es liegt (ebenso, aber abstrakter und allgemein, erklärt es Hendrik). Ganze Disziplinen und Funktionssysteme werden sich zwar an dieser Frage abarbeiten (ich denke […]

  2. autopoiet sagt:

    Zwei kurze Anmerkungen:

    „[…] Lässt man an dieser Stelle sich aufdrängende Fragen wie z. B die, wie eine allgemein akzeptierte Realität konstruiert wird, aus Platzgründen (zwangsläufig) beiseite […]“

    In dieser Stelle fällt mir im John Searle ein. Der ist ja nun kein Systemtheoretiker und geht auch von ganz anderen Prämissen als Luhmann aus, es kommt aber doch zu beeindruckenden Überschneidungen hinsichtlich ihrer Ergebnisse: „Social objects are always […] constituted by social acts; and, in a sense, the object is just the continuous possibility of the activity.“ (John Searle, The Construction of Social Reality, London u.a. 1995, S. 36.) Ein Buch übrigens, das die Konstruktion sozialer Wirklichkeit (z.B. für Geld, Heirat, Nationalstaaten und andere Konstrukte) außerordentlich scharfsinnig beschreibt, wenn auch mit einem Ansatz, der Systemtheoretikern zunächst ungewöhnlich erscheint.

    „[…] Offensichtlich scheint es nicht darum zu gehen, dass alles, was ist, sich (quasi ontologisch) über die Negation seines „Ichs“ in der Welt konstituiert, so als ob der Tisch den „Nicht- Tisch“ bräuchte, um existent zu sein. […] edes Erkennen […] ist nur dadurch möglich, dass erst Nicht- Sehen Sehen ermöglicht (von Förster).“

    Heinz von Foerster spielt (ja auch mit dem Titel „Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen“) auf die chinesischen Schriftzeichen des Dao De Jing von Lao-Zi an, die Spencer-Brown seinen „Laws of Form“ voranstellt. Tisch und Nicht-Tisch, Sehen und Nicht-Sehen gehen Hand in Hand: Für Spencer-Brown impliziert das Treffen einer Unterscheidung eine Anzeige, ihre Einheit ist die Beobachtung. Es kommt zu einer Asymmetrie zwischen Unterschiedenem und Nicht-Unterschiedenem, ohne Asymmetrie keine Anschlussfähigkeit. Es bliebe nur „unmarked space“.
    Der re-entry, der Wiedereintritt der Unterscheidung in die Unterscheidung, die Beobachtung der Beobachtung, verflüssigt dann die Paradoxie.

  3. Stefan Schulz sagt:

    Ja, dein Artikel ist ungefähr ziemlich genau das, was Japp heute in seinem Eingangsstatement zum Konstruktivismus dargebracht hat. Da bist du ja ab nächste Woche auch, ne..? Bin schon gespannt was wir alles so bereden werden. ;-)

    Das die Geschloßenheit eines Systems erst (Umwelt)Konstruktion ermöglicht war denke ich Japps Hauptpunkt. Mir drängte sich heute die Frage auf, wie sich eigentlich der Konstruktivismus als erkenntnistheoretischer Unterbau und die grundlegende Unterscheidung von Semantik und Sozialstruktur miteinander vertragen können. Konstruktivismus spielt sich ja eigentlich nur auf der Ebene von Semantik ab… Ich bin sehr gespannt.

  4. Henrik Dosdall sagt:

    @Autopoiet:

    Searls, muss ich zugeben, habe ich noch nicht gelesen. Aber das, was du zitierst, klingt erst einmal nicht uninteressant. Ist sicherlich ne Lektüre wert.

    Zu Spencer- Brown/ H.V.F:

    Sichedrlich hat Spencer Brown nen starken Bezug zur fernöstlichen Philosophie (oder Kultur)… Das WU oder so ähnlich war es, glaube ich- zumindest ist das mein Lesestand.

    Aber dennoch gibt es da eine wichtige Differenz aus meiner Sicht: Der Konstruktivismus verneint ja die Existenz einer Außenwelt nicht. Aus diesem Grund spricht Spencer-Brown ja auch von „distinction“ (handelnd) und nicht „difference“ (quasi ontologisch vorhanden). Und ziemlich exakt diesen Unterschied lese ich bei Luhmanns Interpretation des Konstruktivismus heraus: Eine Außenwelt existiert natürlich, aber sie ist nur im Setzen einer Distinktion quasi gleichzeitig vorhanden. „Realität ist das, was man nicht erkennt, wenn man erkennt“. Der blinde Fleck MUSS also gesetzt sein- sonst ist erkennen nicht möglich. Oder anders: Die Unterscheidung selber kann nicht (gleichzeitig) unterschieden werden. Und das ist eben, aus meiner Sicht, nicht synchron möglich. Deswegen, denke ich, kann man nicht davon sprechen, dass der re-entry diese Paradoxie auflöst. Und kann es auch nicht, eben weil die Distinktion systemimmanent ist und nicht in der Welt vorhanden.

    Letztlich denke ich aber, unter Bezugnahme auf Spencer Brown, dass alles einen re-entry vorraussetzt. Also auch die Beobachtung erster Ordnung. Ich denke, man kann an dieser Stelle zurecht fragen, ob es den „unmarked state“ wirklich gibt, oder ob nicht jede Beobachtung IMMER einen re-entry vorraussetzt. Das „Referieren“, dass die Systemtheorie an dieser Stelle vorschlägt, scheint mit hier nicht ausreichend zu sein- allerdings kann man wohl zurecht fragen, ob man diese Komlikation immer mitführen muss.

  5. Henrik Dosdall sagt:

    @ Stefan:

    Ja, ich konnte heute leider wg Arbeit nicht, aber ich verspreche mir von dem Seminar auch ne ganze Menge. Werde auf jeden Fall ab kommender Woche da sein und dann bin ich auch wirklich mal gespannt, was dabei so herauskommt. Der Seminarplan verheißt ja erstmal nur gutes…

  6. autopoiet sagt:

    Der Konstruktivismus verneint ja die Existenz einer Außenwelt nicht.

    Das ist der entscheidende Punkt und trennt den sog. „Vulgärkonstruktivismus“ (wie er vorallem in Kommunikation mit Pädagogen, leider auch bei manchen Soziologen, auftritt) von den Ideen der Foersters, Glasersfelds oder Luhmanns da draussen. Und halt auch von Searle.

    und das ist eben, aus meiner Sicht, nicht synchron möglich.

    Richtig. Es ist nur mit Blick auf den Zeithorizont möglich. Die Unterscheidung der Unterscheidung ist nie synchron, kann es gar nicht sein, denn die beobachtete Unterscheidung muss stattgefunden haben/stattfinden.

    kann man nicht davon sprechen, dass der re-entry diese Paradoxie auflöst.

    Auflösen kann er sie nicht. Aber verharmlosen. Flüssig machen. In der Zeit auflösen. Oszillation.

    man kann an dieser Stelle zurecht fragen, ob es den “unmarked state” wirklich gibt

    Streng genommen können wir ihn nicht beschreiben. Eigentlich nicht einmal vorstellen. Da sind wir aber schon wieder bedenklich nahe bei Meditation und fernöstlicher Philosophie. Ich habe bis heute leider einen intuitiven Fluchtreflex vor sowas. Aber ich arbeite daran…

    Gute Nacht.

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