Barack Obama hielt Dienstagnacht die beste politische Rede, die ich jemals hörte. Er krönte damit einen unfassbar gelungenen und unglaublich erfolgreichen Wahlkampf. Viele mir gleichaltrige schätzten die Rede und den Wahlkampf ähnlich ein. Allein, die unter-dreißigjährigen wählten ihn mit 66% zum neuen Präsidenten. (Diese Durchschnittszahl trifft auch auf Staaten wie Ohio oder Florida einzeln zu. Selbst in Texas gewann er in dieser Altersgruppe mit 54%.)
Die amerikanische Freude führt in Europa aber, wie so vieles, zu Mahnungen und Befürchtungen. Zu euphorisch sei die Stimmung, zu groß die anstehenden Probleme – ein Mann allein wird die Welt nicht retten können. Vor allem in den deutschen Medien kann man dies heute lesen und hören.
All diesen vorrangig deutschen Bedenkenträgern lässt sich aber mit drei Argumenten der Wind aus den Segeln nehmen. 1. Wir verstehen Amerika sowieso nicht. 2. All das, was jetzt passiert, ist nichts Neues. 3. Der Wahlkampf war perfekt, warum nicht auch die Präsidentschaft?
1. Wenn wir von Europa und besonders von Deutschland aus nach Amerika schauen, können wir vieles nicht nachvollziehen, weil wir zwei amerikanische Grundprinzipien nicht verstehen. Das ist erstens der fundamentale Pragmatismus und zweitens das komplizierte Verhältnis von Politik und Religion.
In Amerika gibt es einen Hang zur Erdung. Gefühlsduseleien und Schöndenkerei ist Amerikanern schlicht fremd. Where is the beef? Ist kein bloßes Sprichwort, sondern das grundlegende Motivationsmuster eines Pragmatismus, der sich gut anhand des „American Dream“ veranschaulichen lässt. Der „amerikanische Traum“ ist nicht von ungefähr das Aushängeschild amerikanischer Lebensführung. Er markiert das Äußerste innerhalb einer magischen Grenze, die die amerikanische Vorstellungskraft beschränkt: die Realität. Während man sich in Europa in Melancholie vergräbt oder nach der Utopie strebt, kann ein „amerikanischer Traum“ Wirklichkeit werden. Mit der Wahl von Obama als farbigen Präsidenten wurde, durch die Realität, die Grenze der Vorstellungskraft verschoben. Einer der Gründe für die Euphorie.
In vielen Punkten schlägt sich dieser Pragmatismus nieder. In der Soziologie kennt man das Übel, dass sich amerikanische Texte als Studien in Analysen verlieren und alles in möglichst symmetrische Matrizen gepresst wird, während Europäer den Gedanken freien Lauf lassen und unbekümmert theoretisieren. In Europa werden Debatten geführt, wie sich Kapital am ehesten gerecht verteilen lässt, in Amerika sahnt man an der Wallstreet rücksichtslos ab. In Europa wird gestritten, wie man einem 2-Mio.-Volk hilft, in Amerika greift man ein 30-Mio.-Volk einfach an, tötet Hunderttausende und vertreibt Millionen. In Amerika lässt man sich ungläubig von einem „einfach unvorstellbaren“ farbigen Präsidenten überraschen, in Europa glaubt man, die Amerikaner feiern, weil sie ihn für einen heilsbringenden Engel aus dem Himmel erachten. Über diese Unterschiede kann man reden, man kann sie jedoch nicht ernsthaft nachvollziehen. Der Sprung über die eigenen Prämissen wäre einfach zu groß.
Ähnliche Verständnisschwierigkeiten haben wir, wenn wir uns anschauen, wie religiös Amerika ist und wie sehr die Religion die Politik beeinflusst, obwohl es kaum ein Land gibt, dass die Säkularität ernster nimmt.
Das scheint tatsächlich so paradox zu sein, dass allein ein schnell hergeleiteter Ansatz fehlt, das zu erklären. Hinzu kommt, dass es sich bei der religiösen Beeinflussung von Wahlen um ein Massenphänomen handelt. Es scheint so, dass die Religion vor allem dann bei Wahlversprechen eine Rolle spielt, wenn das Publikum besonders groß und/oder unbestimmt ist. Zumindest wirkte es so, dass in den Town-Hall-Sessions viel weniger über Religion gesprochen wurde, als in Interviews oder bei der Präsentation von Wahlwerbung in den entsprechenden Medien. Ohne einen extra Forschungsansatz oder viel Recherche scheint man keine befriedigende Antwort zu finden. Man muss aber darauf hinweisen, dass das amerikanische Verständnis der Religionsausübung eher über die Predigt als, europäisch, über die Beichte funktioniert. Es fällt nicht schwer, Obamas Siegesrede als Predigt zu charakterisieren. Aber es gibt auch keine guten Gründe, warum das schlecht sein soll.
Der amerikanische Pragmatismus und das Verhältnis von Religion und Politik erscheinen mir an dieser Stelle als ausreichend, um grundsätzliche Verständigungsbarrieren zu beschreiben, die zu schnelles Verstehen verhindern. Festzuhalten bleibt, wir können zwar beobachten was in Amerika passiert aber um es so zu verstehen, wie wir glauben, das es in Amerika verstanden wird fehlt uns der entsprechende Kontext, die Prämissen und die Perspektive.
2. Vieles von dem, was gerade passiert, erscheint wie ein Déjà-vu. 1988 folgte auf Ronald Reagan George H.W. Bush. Er zog mit einem Vorsprung von 8% ins weiße Haus. Er führte Krieg und Amerika in eine Rezession, sodass er 1992 mühelos von Bill Clinton ersetzt wurde. Clinton war so populär, dass er die Vorwahlen der Demokraten in 39 Bundesstaaten gewann. Die Lage der Nation scheint jedoch so schwierig gewesen zu sein, dass mit Ross Perot ein unabhängiger Kandidat bei der Präsidentschaftswahl beinah jede 5 Stimme für sich gewinnen konnte. Clinton hatte also längst kein so mit Hoffnung aufgeladenes Mandat, wie Obama jetzt. Dennoch konnte er Amerika in eine Zeit des Wohlstandes zurückführen, es international Einbetten und er hinterließ einen ausgeglichenen Haushalt, der Überschüsse erwirtschaftete. Die Situation in der Obama das Land übernimmt ist weitaus schlimmer, jedoch verfügt er auch über mehr Rückhalt in der Bevölkerung. Clinton startete mit 43% der Wählerstimmen. Die Einzigen die Obama nicht mehrheitlich gewinnen konnte, sind 60+ jährige Dorfbewohner, die mindestens einmal die Woche in die Kirche gehen – doch selbst bei ihnen liegt er noch auf Clinton ’92-Niveau. Der Rückhalt ist ebenso enorm, wie die wirtschaftliche Lage schlecht ist.
Für diejenigen, denen dieser Vergleich nicht weit genug reicht, hält die Geschichte Frank D. Roosevelts Wahl 1932 bereit. Roosevelts New Deal könnte die Vorlage für das sein, was Amerika als nächstes großes Projekt ansteht.
3. Barack Obama hat einen Wahlkampf geführt, bei dem alle Steuerungspessimisten und Planungsskeptiker einsehen müssen, dass die Strategie, die über 20 Monate reichte und mehr als 300 Millionen Menschen einbezog, perfekt aufging. Entgegen der Engführung in der deutschen Sicht auf den Wahlkampf, bestand sie nicht nur darin große Reden zu halten und mit persönlichem Charisma zu überzeugen, sondern auch darin, ein nie da gewesenes Netz an Parteibüros über das Land zu verteilen, alle zur Verfügung stehenden Medien zu nutzen und zuzuhören. Wie dies alles zusammenspielte und zu diesem Erfolg führen konnte, muss soziologisch und politikwissenschaftlich ausgewertet werden. Pauschalisierungen werden nicht reichen.
Es lässt sich festhalten, das Obama zwei noch ziemlich unbeobachtete Talente in sich vereinigt. Einerseits kann er ein Team aufbauen, das beinah komplett hinter ihm verschwindet und er kann seinen nahen Kreis auf ungeahnte und direkte Weise motivieren. Daneben besitzt er sein bekanntes Charisma und Ausdauer. In keiner Sekunde des Wahlkampfes schien er ungefasst zu sein. Es gab keine Ausrutscher, keine emotionalen Ausbrüche, keine Fehler. Dagegen gab es all das dutzendweise bei John McCain. Colin Powell brachte es in seinem TV-Auftritt, in dem er seine Unterstützung für Obama bekundete, auf den Punkt: Bei einer Wahl des Präsidenten geht es nicht um Erfahrung, sondern um Urteilsvermögen. John McCain konnte, als Insider und politisches Schwergewicht, in keiner Weise punkten. Barack Obama weiß, wie man Politik macht. Er hat es auf der Bühne mit großen Reden und hinter der Bühne mit kleinen Schritten gezeigt. Er wird uns noch überraschen, mit unerwarteten Gesprächspartnern, neuer Diplomatie und Republikanern in seinem Kabinett.
Es gibt gute Gründe, zuversichtlich zu sein. Die Europhorie, die aus europäischer Perspektive so übertrieben erscheint, besteht auch zu einem großen Teil aus der Erleichterung George W. Bush überstanden zu haben und dem Fakt, dass mit einem farbigen Präsidenten ein bedeutender Teil amerikanischer Geschichte zu einem glücklichen Ende geführt wurde.
Die ersten Meldungen aus Amerika stimmen hoffnungsvoll. Man wird Obama geduldig die Zeit geben, die die zukünftigen Aufgaben brauchen. Und er wird mit dem Volk zusammenarbeiten. Nach 8 Jahren Neokonservativismus und radikalem Liberalismus haben sich jetzt wieder die Arbeiter der Realwirtschaft und die Jugend durchgesetzt und ihren Kandidaten ins Präsidentenamt gewählt.
Es sind nicht mehr Macht und Geld, sondern Hoffnung und Vertrauen die die neue Welt prägen. (kleiner Spaß, vielleicht ;-)
Podcast-Empfehlungen: Welcome, Mr. President! Dürfen wir Amerika wieder lieben, hr2 – der Tag. Und: Die USA nach der Präsidentschaftswahl, swr2 Forum.
Hm, einerseits frage ich mich, ob der Skeptizismus tatsächlich so verbreitet ist, wie eingangs von Dir unterstellt. Als ich gestern die von WDR5 ausgewählten Pressestimmen verfolgte, bot sich mir eher das Bild, daß sich ein Großteil der deutschen Medien der optimistischen Stimmung in Amerika anschloß – lediglich ein Kommentar äußerte Skepsis. Aber nun gut, wenn man selber nicht in die Zeitungen geschaut hat, sollte man diesbezüglich vielleicht doch lieber die Klappe halten.
Zum anderen aber kann ich die Argumente für Deinen Optimismus nicht ganz nachvollziehen. Daß wir Amerika nicht verstehen, scheint plausibel und man darf fragen, ob die Amerikaner sich überhaupt selbst verstehen (ebenso, ob wir uns selbst verstehen). Und genau deshalb frage ich mich, ob man Amerika tatsächlich verstehen muß, um skeptisch sein zu dürfen? Ferner passt für mich Euphorie einerseits und Pragmatismus in Form eines Where-is-the-beef-Hangs, alles zu hinterfragen, andererseits nicht so recht zusammen. Sind die Amerikaner in bezug auf Obama wirklich so pragmatisch, wie behauptet? Man mag mir vorwerfen, daß ich das von meiner europäischen Warte nicht beurteilen kann. Aber von wo aus sollte ich es sonst beurteilen?
Und schließlich gibt der Verweis auf den – zugegebenermaßen – sehr gelungenen Wahlkampf meiner Meinung nach noch längst keine Garantie dafür, daß die Präsidentschaft ebenso gelungen sein wird. Zumal Du abschließend darauf verweist, daß es eben nicht nur am Wahlkampf gelegen hat. Man könnte spekulieren, ob Obama nicht auch mit einem schlechteren Wahlkampf hätte gewinnen können. Vielleicht ist er einfach gekonnt in die Lücke gesprungen, in der Amerika nach 8 Jahren Bush, „Neokonservatismus und radikalem Liberalismus“ sich einfach nach einem neuen Hoffnungsträger gesehnt hat. Und möglicherweise hat er diese Rolle einfach glaubhafter verkörpert als McCain – der sich zwar von Bush distanziert hat und für einen Republikaner ungewohnte Politik Versprechungen gemacht hat, was aber nichts daran ändern kann, daß er aus dem konservativen Lager kommt.
Aber um zu guter Letzt wieder etwas versöhnlichere Töne anzuschlagen ;-): der Hinweis, daß die amerikanische Euphorie in Europa stark überschätzt wird scheint mir insgesamt plausibel. Gerade die Tatsache, daß Obama selbst mit einer guten Portion Realismus ins Amt geht und dies auch erfolgreich an seine Wähler kommuniziert, zeigt, daß man in Amerika doch eher auf dem Boden bleibt. Und es mag tatsächlich „gute Gründe geben, zuversichtlich zu sein“ – bin ich letzten Endes auch. Aber man sollte nichstdestotrotz die eigenen Erwartungen nicht zu hoch schrauben – dann kann man sich später umso mehr positiv überraschen lassen…
Uups, mir fällt gerade auf, daß der letzte Satz im ersten Absatz meines Kommentars als Beleidigung mißverstanden werden könnte. Deshalb sei betont, daß ich mit „man“ mich selber meine ;-).
„Ferner passt für mich Euphorie einerseits und Pragmatismus in Form eines Where-is-the-beef-Hangs, alles zu hinterfragen, andererseits nicht so recht zusammen. Sind die Amerikaner in bezug auf Obama wirklich so pragmatisch, wie behauptet?“
Meinem Eindruck nach, bewerten wir die sichtbare Freude über, weil wir den Pragmatismus unterschätzen. Wenn tatsächlich Euphorie im Spiel ist, bezieht sie sich eher auf die Abwahl von Bush und darauf, dass tatsächlich ein nicht-weißer Präsident gewählt wurde. Amerikaner sind weder an ein ausreichendes, soziales Netz noch an die Verteilung von Verantwortung gewohnt. Sie verankern ihr Vertrauen nicht so sehr jenseits der Grenzen ihrer Lebenswelt. Die Wahlnacht war eine einfach Party.
Ich glaube nicht, dass die Amerikaner jetzt übermäßig viel Erwartung in ihre Regierung setzen. Amerika wird und wurde noch nie von oben regiert. Das 10-Milliarden-Budet des Innenministeriums reicht gerade zur Selbstverwaltung und ist, seinen Aufgaben nach, nicht mit europäischen Pendants vergleichbar. Es gibt keine wirkliche Bildungs- und Kulturpolitik auf amerikanischer Bundesebene. Das spielt sich alles in den Städten und Bundesstaaten ab – wodurch Obama da außen vor ist. Die Amerikaner wissen, wo die Grenzen des Präsidenten sind und das er eher für die Außen- als Innenpolitik zuständig ist. Obama wird nicht unter Bittstellertum leiden. Die amerikanische Bundesregierung ist grundsätzlich viel ohnmächtiger, als wir das aus Europa kennen. Für Amerikaner ist das normal. Sie suchen das Beef woanders.
Das Bush es dennoch geschafft hat, Amerika so herunterzuwirtschaften liegt an den vielen Sonder-Zahlungen die er dem Kongress aus den Rippen geleiert hat. Viele der Gesetzte die dazu führten, dass die Staatsverschuldung von 6 auf 11 Billionen Dollar wuchs laufen jedoch von alleine aus. Sein Erfolg, die Stimmung zu drücken und Angst zu schüren, liegt an Gesetzen wie dem Patriot Act und der Kreation des Homland Security Ministeriums, Guantanamo und vielen weiteren Kleinigkeiten. All das hat jetzt ein Ende (hoffentlich). Die amerikanische Öffentlichkeit wird sich zukünftig auch nicht mehr allzusehr um den Irak kümmern. Obama kann da also jetzt behutsam vorgehen, anstatt täglich Erfolge herzaubern zu müssen.
„Man könnte spekulieren, ob Obama nicht auch mit einem schlechteren Wahlkampf hätte gewinnen können. Vielleicht ist er einfach gekonnt in die Lücke gesprungen, in der Amerika nach 8 Jahren Bush, „Neokonservatismus und radikalem Liberalismus“ sich einfach nach einem neuen Hoffnungsträger gesehnt hat.“
Ne, er hat gewonnen, weil seine Wahlkampfstrategie besser aufging als die von McCain. Wenn McCain nicht Failin-Palin sondern jemand mit Substanz und Historie gewählt hätte, wäre er jetzt Präsident.
Aber, man darf nicht verkennen, dass Bush gehörigen Anteil am Erfolg der Chrange-Strategie der Demokraten hat. Ich denke, beide Aspekte spielen eine wichtige Rolle.
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