Es ist soweit. Das Privatmeinungsinternet macht mir keinen Spaß mehr. Vor nicht langer Zeit habe ich hier den Twitter-Button eingebaut, mit dem man jeden Text direkt vertwittern kann. Ich hatte mich später sogar dafür entschieden, den Button zu nehmen, der die bisherigen Tweets zum Text anzeigen lässt. Doch so macht das keinen Spaß. Nicht, weil ich mich persönlich beleidigt fühle, sondern weil diese Art des sachfernen aber personenspezifischen Werturteils mittlerweile ein prägendes Strukturmoment des Privatmeinungsinternets ist, dem ein konstruktives Pendant (zunehmend) fehlt. Der 140-Zeichen-Widerspruch fällt viel zu leicht, dafür, dass sich (fast) niemand die Mühe macht und Zeit nimmt, sachlichen, konstruktiven Widerspruch zu leisten, wenn gemeint wird, dass Widerspruch erforderlich ist.
Felix Schwenzel fand schon vor einer Weile heraus, warum das Internet scheiße ist. Weil die Welt scheiße ist. Doch man muss mehr dazu sagen. Das Internet ist zuweilen merkwürdig, weil es nicht so ist, wie die Welt ist und weil es seine eigenen Versprechungen an eine bessere Welt nicht hielt.
Das Internet hat im Zeitraum zwischen 2004 und 2006, in der Zeit, in der WordPress und Twitter erfunden wurden, Erwartungen geweckt, die es bis heute nicht erfüllt hat. Stattdessen haben wir jetzt ein allmächtiges Facebook als neuen Fernseher, von dem man sich berieseln lässt mit „Likes“ und „Shares“, die durch unbekannte, algorithmische statt soziale Logik präsentiert werden und sich blindlinks weiterverteilen lassen. Das Versprechen war, soziale Semantik ins Internet zu bringen, das Ergebnis ist stattdessen die Allmacht der Syntaxen.
Ich meine nicht das gesamte Internet, sondern den Teil, der für die private Kommunikation vorgesehen war. Den Teil, in dem politisch diskutiert, moralisch geurteilt und ästhetisch publiziert werden sollte allein weil es (technisch) möglich ist. Den Teil, der alle Kommunikationsschranken, vornehmlich die von Raum und Zeit, ignoriert und grenzenlose Kommunikation ermöglicht. Den Teil, den es, wie man heute weiß, nicht gibt – vom Erlebnisschrottbloggen abgesehen (und selbst das wandert allmählich zu Facebook).
Da kann Thomas Knüwer noch so viel Euphorie verströmen, Marius Sixtus noch so viele Macher interviewen und Peter Kruse noch so viele neuropsychosophisch aufgesexte Talkingvids auf Youtube laden: Es ist Zeit für ein inhaltliches Resümee: Die Piratenpartei kommt nicht aus den Startlöchern und die etablierten Parteien mussten ihr nicht mal das Thema abnehmen. Carta.info, dem Internet gestützten feuilletonistischen Selbstversuch, ging der Lebenswille verloren. Bitcoins kommen über das Stadium einer kühnen Idee kaum hinaus. Internetpolitik, Internetjournalismus, Internetwirtschaft – es bleibt bei Ideen.
Das alles interessiert hier aber nur als Kontur und am Rande. Mir geht’s um die Frage, wieso das Privatmeinungsinternet so kläglich gescheitert ist. Und meine Vermutung ist, es liegt an zu einfach möglichem undurchdachten, folgenlosen, unsachlichem Widerspruch.
Es ist beispielsweise beobachtbar, dass interessante Nischendiskussionen torpediert werden, von Leuten, die sich nicht herablassen, an diesen Diskussionen mit Beiträgen teilzunehmen, die auch nicht bereit sind, die Diskutanten direkt zu adressieren – und sie dennoch thematisieren. Aber nicht auf sachlicher, konstruktiver Ebene, sondern mit Hilfe von Tweets an die eigenen 1700 Follower: seht mal kurz her, Hochnäsigkeit.
Ich will an dieser Stelle der polemogenen Attraktivität widerstehen und nüchtern fragen: Unter welchen Bedingungen ist so etwas möglich? Was sind die Voraussetzungen dafür, ein kontroverses Gespräch unterer zweien mit einem wegen der Kürze zwangsläufig pauschalen, negativen Werturteil zu versehen und dieses (potenziell) 1700 Menschen zu verkünden?
Die Antwort ist, so denke ich, da zu suchen, wohin Sebastian schon gezeigt hat. In der Soziologie des Konflikts – denn nur auf Konflikt kann ein solches Verhalten, wenn es erkannt wird, hinauslaufen. Das wichtigste: Konflikte sind keine Nebenschauplätze, sondern sie ernähren sich von ihrem gastgebenden System. Sie destruieren nicht die Kontrahenten, sondern die Sozialität, die sie überhaupt zusammenführte: Freundschaft, berufliche Kollegialität, politisches Problembewusstsein, spontane Begegnungen. Konflikte überrumpeln Themen und generalisieren, bis den Teilnehmern nur noch wenig Ausweg bleibt: Ignoranz im schlechten Fall, Mobbing im schlechteren, wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann.
So zumindest wenn Konflikte nicht doch noch überwunden werden können, was gelingen kann – durch verschiedene Strategien, die nicht so sehr auf Empathie basieren, wie man meinen könnte, sondern die in die soziale Mechanik der Gesellschaft selbst eingebaut sind.
1. In Interaktion durch Takt, Höflichkeit, Achtung und Vertrauen: Man verpflichtet sich durch seine Anwesenheit zu einem Verhalten, dass man ebenso vom anderen erwartet. Es handelt sich um eine reziproke Verhaltenserwartung, die durch nichts (auch nicht durch Reputation, Vermögen oder Prominenz) aufgehoben wird. Man vermeidet beiderseitig Peinlichkeit.
2. In Organisation durch Zweckorientierung, Kommunikationshürden und Programme: Man delegiert nicht beliebig und muss sich für Problemverteilung nicht rechtfertigen, stellt sein Verhalten in den Dienst des eigenen Wunsches, weiterhin Organisationsmitglied zu sein und identifiziert sich mit dem Zweck der Organisation, auch wenn es kognitiv anstrengend ist. Man vermeidet Exklusion.
3. In der Gesellschaft durch Verwendung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien: Man diskutiert im Supermarkt nicht über Gott und die Welt, sondern akzeptiert einen Preis oder nicht. Man diskutiert nicht über die Straßenverkehrsordnung, sondern akzeptiert die Strafe. Man nervt keinen Arzt / Professor mit Privatmeinungen, sondern lässt sich behandeln / lehren. Man vermeidet unerfüllte Wünsche, legitime Gewalt und körperliche Beeinträchtigungen / Zertifikatlosigkeit.
Diese Darstellung ist eine extreme Verkürzung. Sie soll nur illustrieren, welche Hürden im Alltag genommen werden müssen, um Konflikt zuzulassen. Man kann, bei Laune, einmal unter dem Gesichtspunkt der Konfliktvermeidungsprämisse über unsere Gesellschaft nachdenken oder kurz und lang mit diesem Hintergedanken nachlesen, was man dazu alles denken kann. Und sich dann fragen: Wie sehen eigentlich die Konfliktvermeidungsmechanismen in der internetgestützten Kommunikation aus? Sind es die gleichen, die auch in der Offlinewelt (im Gespräch unter Anwesenden) wirken?
Die Qualität des Internets orientiert sich an dieser Stelle nicht mehr an der Qualität der Welt, wie es Felix Schwenzel meinte. Das Internet etablierte seine eigenen Regeln, die mit diesseitiger Kommunikation nicht all zu viel gemein haben. Sie zeigt ganz eigene Komplexitätskapazitäten und Erwartungshorizonte. Klar sind nur die sozialen Ausgangsprobleme:
„Man kann davon ausgehen, daß die Steigerung der Kommunikationsmöglichkeiten zugleich auch die Konfliktwahrscheinlichkeiten steigert. (…) Die Verbreitungsmedien Schrift und Druck schalten die für Interaktionssysteme typische Konfliktrepression aus.“ (Luhmann, Soziale Systeme, 513)
Dieses Zitat ist von 1984. Für heute würde es vielleicht so aussehen: Das Internet schaltet beinah alle Mechanismen der Konfliktrepression aus. Weil alles möglich ist, ist vor allem eines immer möglich: Widerspruch. Und es gibt wenig Grund, ihn zu vermeiden. Christoph Kappes Tweet ist nach 2 Minuten vergessen, dass die Diskussion die er verlinkte schon Tage lief, kann ihm egal sein. Einen von mir geschriebenen Text im Vorbeigehen als arrogante Einzelmeinung zu markieren ist auch eine Fingerübung, die sich ihrer Flüchtigkeit hingibt.
Alle reden mit allen und das bedeutet, dass niemand mit irgendwem wirklich kommuniziert. Kein Meinungsautor verbürgt sich mit seiner Person einem derart flüchtigen Werturteil. Kein Adressat wird ein solches Urteil, dass sehr häufig nicht mal adressiert wird, sich selbst zurechnen. Das Privatmeinungsinternet ist einfach eine riesige Flüchtigkeitsmaschine, die individuell ein paar Effekte erzielt, gesellschaftlich jedoch beinah folgenlos ist.
Früher hatte man noch Ideen. Wenn erstmal alle ihren Internetzugang nutzen, dann bilden sich die neuen, spezialisierten Zentren. Professoren werden über die Politik aufklären und den Wähler mit Wahrhaftigkeit beglücken. Die selbst organisierte Verbraucheraufklärung wird die Marktkraft der Welternährer zähmen. Jeder an Ästhetik interessierte, wird seine eigene Nische finden, in der er die Dinge jenseits des Mainstreams findet, die ihn wirklich interessieren.
Kaum etwas davon ist heute zu beobachten. Es ist vergleichbar mit dem Schicksal der guten Nachbarschaft, die sich trennt. Wenn man sich nicht mehr zufällig vorm Haus auf der Straße begegnet, nicht mehr dasselbe Wetter erlebt, die Kinder nicht mehr auf denselben Spielplätzen spielen, bleibt nur noch eins: individuelle Erlebnisberichte, die mit weiteren Erlebnisberichten beantwortet werden.
Wenn alles möglich ist, passiert nichts, weil für Kreativität nichts tödlicher ist, als wenn ihr „keine Grenzen gesetzt“ sind. Kommunikation, die sich nicht der Herausforderung stellen muss, Konflikte zu vermeiden, ist sinnlos. Das Privatmeinungsinternet ist es. Es als scheiße zu bewerten ist schon zu viel, weil man dem ja widersprechen könnte und dann würde man wieder feststellen, dass solch ein Widerspruch sinnlos ist.
Nun gut. Damit mich niemand falsch versteht: Das Internet ist natürlich super! Die Wikipedia versorgt uns mit wissenswertem Kram (sofern es dort intern zugelassen wird), Youtube ist ein einzigartiges, lebendiges Kulturarchiv, Facebook versorgt uns zurückhaltend mit den Hinweisen, dass es den Leuten die uns was bedeuten gut geht, ohne dass wir andauernd aktiv fragend Erkundungen darüber einholen müssen. Twitter ist die gute Laune produzierende Wortwitzmaschine schlechthin. Nur: das Privatmeinungsinternet ist bedeutungslos. Es hilft nur individuell aber es wird die Gesellschaft niemals umkrempeln: Es wird keine bessere Politik, keinen besseren Journalismus, keine verständlichere Wissenschaft, keine bessere Wirtschaft hervorrufen. Ihm fehlt jegliches gesellschaftlich folgenreiches, generatives Potenzial. Niemand interessiert sich für die Meinungen von Unbekannten.
(Bild: RolfBlog)
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