Die strategische Inszenierung einer Naturkatastrophe

Es sind nicht die ersten Leichen, die den Weg der chinesischen Führung begleiten. Aber seit dem sich die Welt nicht mehr in kapitalistische und sozialistische Blöcke teilt, gab es wohl kaum einen Zeitpunkt an dem die zahlreichen Toten für die politische Führung Chinas günstiger waren als der jetzige mit den Erdbebenopfern in Südwestchina. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Zahl der Opfer die Marke von 100.000 überschreitet. Die Medienberichte nehmen kaum ein Ende, täglich gibt es neue Bilder, Berichte, Filme und Kommentare aus dem Katastrophengebiet, was nicht zu letzt auf Grund einer bis hierhin nie gekannten chinesischen Offenheit gegenüber internationalen Presseberichten möglich ist. Die Führung Chinas präsentiert sich in öffentlicher Trauer, doch man wird vermuten müssen, dass ihr die Toten geradezu willkommen sind.

An dieser Stelle werden sich die ersten Abwehrreaktionen zeigen und der geneigte Leser wird sich irritiert bis empört fragen, wie ich denn nur so etwas Absonderliches und Unverschämtes unterstellen könne. Es erscheint kaum vorstellbar, dass eine Regierung die Toten der eigenen Bevölkerung durch eine Erdbebenkatastrophe als politisch wertvoll einstufen wird. Gerade diese kontraintuitive These und die durch sie hervorgerufene Abwehrreaktion ist für mein Argument jedoch sehr lehrreich.

Denn in der politischen Reaktion Chinas zeigt sich, dass der welt- und innenpolitisch unter Druck geratene Kader sehr gut zu verstehen scheint, wie er die Opfer der Erdbeben geschickt für die eigenen Zwecke nutzen kann. Möglich wird dieses taktische Manöver erst, da die Ursache der Katastrophe auf die gesellschaftliche Umwelt zugerechnet werden kann und politisches Entscheiden als Zurechnungkategorie nicht zur Verfügung steht. Für welche politische Entscheidung könnte die chinesische Führung auch in Verantwortung gezogen werden wenn es um die Beurteilung des Schadens geht? Hierin unterscheidet sich die Erdbebenkatastrophe von den anderen chinesischen Themen, die in den letzten Monaten und Jahren immer wieder im Fokus der Weltöffentlichkeit standen: Die Toten des Erdbebens konnten politisch nicht verhindert werden, weshalb sich die Führung der weltweiten Solidarität sicher sein kann. Dass die Solidarisierung nur funktioniert, wenn die Massenmedien die bekannten Bilder über den Globus funken, ist auch für Chinas Elite selbstverständlich. Das allein erklärt die bisher unbekannte Offenheit Chinas aber noch nicht hinreichend.

Denn es ist sicherlich nicht die schlimmste Naturkatastrophe, die China in den letzten Jahren heimgesucht hat. Aber es ist die erste, die weltweit Aufmerksamkeit erhält. Vorher wurden entsprechende Vorfälle unter Verschluss gehalten. Weder die staatlichen Medien, geschweige denn die internationale Presse konnten von den Katastrophen berichten. Sickerte doch einmal eine Meldung durch, dann wurden „Vorfälle“ nur zufällig bekannt und die Nachrichtenlage war vage und unübersichtlich. Was bewog die Führung dieses Mal den Vorhang für die internationale Presseberichterstattung zu öffnen? Die „neue Offenheit“ Chinas lässt sich nur erklären, wenn man die politisch brisanten Themen der jüngsten Vergangenheit wieder hervorholt.

Wer spricht heute noch von den Repressionen in Tibet, von den Missständen rund um die Olympischen Spiele, von der mangelnde Demokratie, den Menschenrechtsverletzungen oder der Agressivität gegenüber Taiwan? Die massenmedial inszenierte Katastrophe mit zahlreichen Opfern ist ein funktionales Äquvivalent für politische Reformen, Dialog- und Kompromissbereitschaft, die im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die genannten Themen gefordert wurde. So wird der Blick frei auf das politisch-taktische Kalkül der „neuen Offenheit“, das den fast 100.000 Toten Hohn spricht.

Das schamlose Ausnutzen von Taktgefühl beschreibt das taktische Manöver Chinas wohl am treffendsten. Denn taktvolles Verhalten kann von Trauernden in ihrer gesellschaftlichen Umwelt vorausgesetzt werden und beschreibt die gesellschaftliche Erwartung, dass man sein Gegenüber in seiner Darstellung nicht stören oder diese gar unterlaufen sollte. Die Darstellung von Trauer darf als weltweit geachtet und geschützt gelten. Es ist pietäts- und anstandslos, wenn man den Trauernden in seiner Darstellung nicht nur nicht unterstützt, sondern ihm den Raum dafür nimmt, indem man ihn kritisiert. Daraus resultiert die oben genannte Abwehrreaktion, die als durchaus vorhersehbar und kalkuliert einzustufen ist. Das gesellschaftliche Erwartung eines taktvollen Verhaltens nötigte dann selbst den Dalai Lama für die Zeit der Trauer von weiteren Protesten Abstand zu nehmen und seine Anhänger zur Zurückhaltung aufzurufen.

So präsentiert sich China als verletzte Nation, die von nicht zu verantwortenden Umwelteinflüssen getroffen wurde und reklamiert dabei ein ordentliches Recht zur Trauer für sich. Wer darin aber eine neue Offenheit sieht, der unterschätzt das strategische Kalkül in der Reaktion auf die Katastrophe. Denn die offen dargestellte und geschickt inszenierte Trauer ermöglicht es der chinesischen Führung sich gegen Kritik und Protest zu immunisieren. Wenn sich der Fokus der Weltöffentlichkeit nach den Olympischen Spielen nicht mehr so sehr auf China richten wird, werden die nächsten Säuberungsaktionen in Tibet, die gigantische Umweltverschmutzung durch den Bau des Drei-Schluchten-Damm und die massiven Repressionen im Umfeld der Olympischen Spiele in Zukunft wieder unter Verschluss gehalten. Eine neue Offenheit oder gar eine Demokratisierung kann ich in dem Verhalten Chinas nicht erkennen. Vielmer sehe ich ein neues Level der strategischen Inszenierung von Naturkatastrophen.

4 Kommentare

  1. Stefan Schulz sagt:

    Ich weiss nicht recht, ob die Beobachtung, dass China die Opfer medial instrumentalisiert, im Grundsatz die Realität beschreibt.

    Ich konnte die letzten 3 Wochen keine übermässige Ausschlachtung der Opferbilder feststellen. Vielmehr gab es einen relativ ehrlichen Umgang über die Erkenntnisse der Nebenfolgen des Bebens – so z.B. die Bekanntmachung der Probleme die einzelne Atomforschungs- und Atomkraftanstalten von dem Beben davongetragen haben.

    Zudem denke ich, das China das Beben als innenpolitisches Phänomen behandelt und ‚ihnen‘ die Aussendarstellung ziemlich egal ist. China ist aus unterschiedlichen Gründen immer so eingestellt. Olympia bildet (was instrumentalisierte Selbstdarstellung betrifft) da eine Ausnahme, die aber auch völlig überbewertet wird.

    Die Grundargumentation dieses Beitrags kann ich mir eher auf den „Freiheitskampf“ der Tibeter bezogen vorstellen. Da (bzgl. Tibet) wird meiner Meinung nach das Betrieben, was du hier China ans Bein bindest – die Instrumentalisierung von Opfern und Zurechnung auf Täter um politische Ziele zu verfolgen.

  2. Enno Aljets sagt:

    Gut, man muss dann aber überlegen, was eine übermäßige Ausschlachtung von Opferbildern bedeutet. Für die Behandlung von Naturkatastrophen nach weltweiten Maßstäben war es sicherlich eine ganz normale Berichterstattung. Aber vor dem Hintergrund, dass China ähnliche Vorkommnisse in den letzten Jahren unter Verschluss gehalten hat, wird m. E. deutlich, dass hier Strategie am Werke ist und die Opfer dieses Mal gebührend in Szene gesetzt werden. Jedoch nicht um zu informieren, sondern um eine Thema zu besetzen, was andere Themen unmöglich macht.
    Die Tiberter allerdings kann man durchaus als Lehrmeister dieser Taktik ansehen. Da gebe ich dir Recht.

  3. mario Graute sagt:

    also wer der urheber der idee ist, unter zuhilfenahme von medien politische ziele zu verfolgen, kann hier nicht geklärt werden. fakt ist, dass china beim erdbeben erstmals internationale medien ins land gelassen und eine sehr offene berichterstattung zugelassen hat. da dies nicht nur von enno, sondern auch den medien selbst beobachtet wird, stellen sich die oben aufgeführten fragen und die erläuterung von enno sind als begründung gut nachzuvollziehen.
    leider wird diese begründung nur äußerst selten von den medien selbt reflektiert, so dass man eher den medien einen vorwurf machen kann, warum sie sich auf dieses spiel einlassen. denn nur aufgrund deren eigendynamik ist es überhaup möglich, dass china dieses instrumentarium „missbrauchen“ kann. dies sollte mitreflektiert werden, wenn einer regierung „manipulation“ vorgeworfen wird.
    vielleicht sollte ebenfalls darüber diskutiert werden, ob nicht der vorwurf der manipulation chinas ebenfalls nur eine zurechnung unserer medienliberalen beobachtungsperspektive darstellt. die freie berichterstattung bringt freiheit und demokratie, aber auch unsicherheit. ist es verwerflich, wenn ein sozialistisches (teilweise kapitalistisches) land versucht diese unsicherheit einzudämmen? kann das überhaupt gelingen?

  4. Stefan Schulz sagt:

    Jo, ich glaube der interessante Umschlagpunkt ist der, das aus der passiven Nicht-Inklussion eine aktive Exklusion geworden ist.

    China hat zwar auch damals schon eine Mauer gebaut, die klar als aktive Grenzziehung zu nehmen ist – aber China ist (jetzt in der Moderne) vor allem zum Verhängnis geworden, dass ihr Volk von der Weltgesellschaft einfach inkludiert wurden ist (Internet als inhaltsunabhängige Informations-Infrastruktur, moderne Luftfhart, die die Mauer ignoriert, …) und sie die letzten 40 Jahre damit verbracht hatten, ihr Volk wieder, per Hand, zu exkludieren.

    Der Rest der Welt, hat die Verweltgesellschaftung einfach über sich ergehen lassen und in seine Struktur eingebaut – was den Unterschied zu China immer grösser werden lies – und seit kurzem ist diese Differenz von China nicht mehr zu halten. (Die 10.000 Staatsbeamten, die das Internet in erlaubte / verbotene Inhalte einteilen stellen da wahrscheinlich eine natürliche Belastungsgrenze dar.)

    Was wir aber festhalten müssen ist: Nur in Unterscheidung zu uns, handelt es sich bei China um ein leicht totalittäres Regime, dass zuviele Todesstrafen und zuwenig Verteilungsgerechtigkeit hervorbringt.

    Aber: Das Gebahren im Rahmen der Erdbebenkatastrophe läuft in keiner eklatanten Unterscheidung zu uns ab, sondern so wie bei uns in ähnlichen Fällen auch. Der Unterschied, den Enno markiert, ist ja der zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Daraus lässt sich zwar eine medienwirksame Information ableiten, aber noch lange keine Skandal.

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