… sind zwei Paar Schuhe, wenn man Niklas Luhmann Glauben schenken möchte („Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat“, Olzog 1981). In gesellschaftstheoretischer Perspektive skizziert er die moderne Gesellschaft anhand der Ausdifferenzierung gleichrangiger Funktionssysteme.
Die „Funktion“ von Teilsystemen wie der Politik, des Rechts, der Wissenschaft oder des Erziehungssystems – gemeinhin als „Bildungssystem“ bezeichnet – beschreibe ihr Verhältnis zum Ganzen, der Gesellschaft. Das politische System übernimmt die Bereitstellung von Durchsetzungsfähigkeit für kollektiv verbindliche Entscheidungen.
Das Erziehungssystem stattet die Gesellschaft mit Lernfähigkeit aus, d.h. seine Funktion kann als „Lernen des Lernens“ beschrieben werden. Hier erlernen Personen absichtsvoll Fähigkeiten, mit denen sie sich in ihrer weiteren Biografie unsichere, also in der Regel neue Situationen erschließen können. „Kulturtechniken“ und „Schlüsselqualifikationen“ jenseits des reinen Faktenwissens sind die dazu passende Semantik.
Der Begriff der „Leistung“ ist dagegen den Intersystembeziehungen auf Gesellschaftsebene vorbehalten. Gegenseitige Leistungen integrieren die Funktionssysteme, wobei soziale Integration nicht zentral koordiniert erfolgt, sondern über die wechselseitige Einschränkung von Freiheitsgraden strukturell gekoppelter sozialer Systeme, die für ihre erfolgreiche Reproduktion Leistungen ihrer Umwelt benötigen. So ist das Bildungssystem, innerhalb dessen Personen absichtsvoll zur „lebenslangen Lernfähigkeit“ und der damit verbundenen robusten und frustrationstoleranten Persönlichkeit erzogen werden sollen, auf die Bereitstellung finanzieller, infrastruktureller und rechtlicher Rahmenbedingungen durch die Politik angewiesen (die sich durchaus als Fremdkörper erweisen können, wie die Diskussion der Selektionsschwelle nach der vierten Klasse beweist). Lehrer und Professoren können darüber selbst nicht entscheiden.
Das Erziehungssystem wiederum erbringt für die Wirtschaft mehr oder weniger spezifische Ausbildungsleistungen. Dabei kann durchaus gefragt werden, ob sich Wirtschaft und Erziehung in ihrer gegenseitigen Beobachtung nicht vielmehr selbst in den illusorischen Zustand versetzen, dass spezifische Ausbildung zum Beispiel in den Hochschulen möglich ist. Einerlei:
„If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas/ Thomas, „The Child in America“, Alfred A. Knopf 1928),
und wenn entsprechende Interpretationen folgenreich werden, sind „reale Realität“ und „fiktive Realität“ ununterscheidbar.
Analytisch gewinnen die Kategorien meines Erachtens Bedeutung, um z.B. aktuelle hochschulpolitische Trends zu diskutieren. Dafür ist jedoch noch die Vorarbeit nötig, zu klären, in welchem Verhältnis Funktion und Leistungserbringung eines gesellschaftlichen Teilsystems zueinander stehen. Erstens – so viel sollte deutlich geworden sein – schließen sich Funktion und Leistung als „Beziehungsrichtung“ (zum Ganzen oder zu Teilen) gegenseitig aus. Zweitens – und dabei handelt es sich um den wesentlichen Aspekt, für den ich argumentieren möchte – können zu hohe Leistungsanforderungen, die an ein System gerichtet werden und im System Resonanz erzeugen, die Funktionserfüllung auf Dauer gefährden. Das bedeutet dann für das Erziehungssystem: die (zu?) starke Umstellung der Curricula, Didaktiken und Prüfungsformen in den Schulen („G8“) und Hochschulen („Bologna“) blockiert ggf. mittelfristig gesellschaftliches Lernen im Sinn von reflexivem Lernen.
Erste Hinweise gibt es. Claus Rolshausen spitzt die gegenwärtige Entwicklung an den Hochschulen folgendermaßen zu:
„Studium als gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit ist auf die Vorbereitung auf Berufsrollen verkürzt und führt zu einem instrumentellen und konsumistischen Studierverhalten, da der modularisierte Pflichtlernstoff kaum Freiräume enthält. In einer standardisierten Lehre mit rigiden Leistungskontrollen können sich nur noch Referateroutiniers behaupten.“ (Claus Rolshausen, „Mc Humboldt„, 2007)
Routinisiertes Studierverhalten bedeutet Zeitgewinn: damit der „Workload“, als sichtbarer Beleg für genormte Lernzeiten, wie sie an das Diktat der Zeit und das Stechuhr-Prinzip in Bürokratie und Betrieb erinnert, nicht zum „Overload“ wird. Routinisiertes Studierverhalten bedeutet aber auch, sich nicht in Materien „hineinzufressen“, sich nicht überraschen zu lassen und auf Aha-Effekte zu verzichten.
Die Situation an den Universitäten ist paradox: gefordert ist der „flexible Studierende“ (Roland Bloch), der sich empirische Kenntnisse, begriffliche Reflexion und Kritikfähigkeit aneignen soll, um berufliche Erfolgschancen realisieren zu können – ausgebildet wird allerdings in standardisierten Verfahren der Modularisierung und Zelebration von Fakten durch den Dozenten, die dann von Studierenden in einer Fülle von routinierten Zusammenfassungen reproduziert werden, um an das Ziel der Wünsche zu gelangen: den „Schein“ in seiner doppelten Bedeutung. Er (a) zertifiziert den (b) scheinbaren Lernfortschritt, der dann in der Berufsqualifizierung mündet. Denkbar ist, dass damit der Umgang mit den eigentlich über Bildung vermittelten Freiheitsgraden und die Fähigkeit zur situativen Unsicherheitsabsorption verlernt wird, auf die eine Gesellschaft ohne Letztbegründung wie die moderne nicht verzichten kann.
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