Semantik und Sozialstruktur, hier schon oft erwähnt, greift die Differenz zwischen „Ist“ und „Kann sein“ auf, die überall in der Welt, wo sich intelligentes Leben begegnet, eine Rolle spielt. Ausgehend von der Frage: „Warum ist einiges und vieles nicht?“ ergibt sich von ganz allein Gesprächsbedarf über die Welt, der nur in Semantik (Gesprächen, Diskussionen, Gerede – all das was Mensch können aber Tiere nicht) abgearbeitet werden kann. Die Themen sind entweder ganz nah an der Realität gebaut, etwa wenn man sich fragt, ob man, bevor man in die Wüste fährt, nochmal die Wasserflasche vollmachen sollte, oder weiter weg, etwa, wenn man sich im 4. Stock des Elfenbeinturms darüber unterhält, wie Schopenhauers Quasizitat: „Die Welt ist kein Panorama“ in Bezug auf Gerhart Hauptmanns Naturalismus auszulegen ist.
Was aber nie passiert, ist, dass man sich im Angesicht des Todes über Fotosynthese unterhält. So weit enteilt die Semantik der Struktur nicht. Und falls doch, liegt es nahe, eine Diagnose zu stellen, die einem der Gesprächsteilnehmer die Intelligenz abspricht.
Semantik und Sozialstruktur bedingen einander. Semantik kann genutzt werden, um Sozialstruktur umzubauen oder den Umbau vorzubereiten. Das geht in die eine, wie auch in die andere Richtung und gelingt durch die entsprechende Taktik. (Andersrum können in ruhigen Zeiten Strukturanpassungen langsam in Semantik übertragen werden, die alltägliche Aufgabe der Politik.)
In normalen Zeiten, der Ruhe und Entspannung, gelingt der von der Semantik ausgehende Umbau der Sozialstruktur am zielgerichtetsten, wenn auch nur mühselig. (Als These dahingestellt.) Wenn die Welt, und man selbst mit ihr, in einem gefühlten Gleichgewicht ist, hat man ein Ohr für Argumente und lässt sich von Hypothesen und Physiognomie leiten, um zu erfahren, was alles möglich ist. Die Möglichkeiten der nahen Zukunft spielen sich in diesen Zeiten in einem engen Korridor ab. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und lebt diese Attitüde dann intensiv aus.
Manchmal jedoch wird die Semantik von der Sozialstruktur überrascht. (Dieses Buch scheint dieses Phänomen aufzugreifen.) Es können ständig Dinge passieren, die im Semantikkatalog (noch) nicht vorgesehen sind. Im kleinen Maßstab kann man im Lotto gewinnen oder einen Unfall haben. Im großen Maßstab können Tsunamis hunderttausende Todesopfer fordern oder 19 Menschen den Lebenstraum einer ganzen Welthalbkugel vernichten. In diesen Momenten überragt die sozialstrukturelle Realität die semantische Possibilität, was sich in Orientierungsverlust äußert. Man kann nur schwerlich heute über Dinge reden, die man gestern noch nicht mal erahnt hat.
Ein historisches, gesellschaftliches Beispiel mit vielen Fassetten ist dafür bspw. der Mauerfall und das Ende des Ostblocks. 1990, in diesem Jahr der Unklarheit/Euphorie darüber, was als Nächstes passiert, wurde Deutschland Fußballweltmeister. Beckenbauer, damals ganz beeindruckt von der Idee, dass nun Ost- und Westdeutschland immer als ein Team auflaufen, meinte damals: „Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein“. Gleiche Euphorie in Amerika. Nachdem Ronald Reagan die Russen in die Knie gezwungen hatte, George Bush sen. mit 426 zu 111 Wahlmännerstimmen zum Präsidenten gewählt wurde und kurz darauf dem Osten tatsächlich die Puste ausging, waren sich die amerikanischen Republikaner sicher, es wird lange keinen demokratischen Präsidenten mehr geben.
Doch schicksalhaft wie Faust, gelang es den Beteiligten nicht, die schönen Augenblicke mit ihrer eleganten Semantik zum Verweilen festzuhalten. Sowohl die deutsche Nationalmannschaft, wie auch George Bush sen. fuhren empfindliche Niederlagen ein. Unsere Mannen verloren in New York gegen Bulgarien und George Bush sen. in Washington gegen Bill Clinton, der nicht nur nächster Präsident, sondern auch der „nächste Ronald Reagan“ wurde.
Die Semantik geriet völlig aus den Fugen, weil über die, ihr zu Grunde liegende, Sozialstruktur Unklarheit herrschte. Einen solchen Moment erleben wir 2008 wieder. Die Semantik sprudelt, wie glühende Lava aus einem Vulkan. Niemand weiß, welche Teile des Berges sie restlos verbrennen und wo sie sich in welchen Formen als neuer Stein manifestieren wird. Ein paar Beispiele:
- Marcel Reich Ranicki, ehrenwertes Gewissen Deutschlands, nennt die Inhalte des meistgenutzten Zeitvertreib- und Meinungsmediums „Blödsinn.“
- Peter Sodann, Bundespräsidentschaftskandidat einer deutschen Volkspartei sagt: „Ich halte das, was wir haben, ja nicht für eine Demokratie.“
- Joseph Ackermann, Vorstandvorsitzender der Deutschen Bank verzichtet medienwirksam und freiwillig auf Gehalt und äußerte öffentlich, er würde sich freuen, wenn sich der Staat ein wenig mehr in seinem Geschäftsfeld einmischen würde.
All dies wäre in einer Phase, in der sich alle ausgeglichen fühlen unvorstellbar. Diese Semantikbrüche weisen auf tief greifende Strukturveränderungen hin. Die Finanzkrise (als unerwarteter Strukturschock) war vielleicht der größte Auslöser dieser neuen Formen von Meinungsäußerungen, welche jetzt wiederum Anstoß für grundlegende Restrukturierung sind.
Natürlich kann niemand in die Zukunft schauen. Wir können aber schon sagen, dass die Welt in 4 Jahren anders aussehen wird als heute. Schon diese Feststellung ist besonders. Wir wussten auch 2002 nicht, wie viel Spaß wir bei einer WM im eigenen Lande haben werden. Aktuell ist es jedoch so, dass wir 470 Mrd., die wir nur einmal haben, bewegen müssen, um überhaupt durch den Tag zu kommen. Wir sind also zur Restrukturierung verpflichtet, ohne zu wissen, was sie bringt.
Im Grundlagentext nennt Luhmann die Semantik auch „Historismus“ als Gegensatz zum „Funktionalismus“. Unter anderem, weil Geschichte das ist, was als Semantik bleibt. Egal was die Zukunft bringt, 2008 wurden schon einige Semantikknaller gesetzt und nächstes Jahr ist Wahlkampf, das Semantikgefecht schlechthin. Würde mich nicht wundern, wenn Norbert Lammert rechtzeitig zu Weihnachten „Mehr Parlament wagen“ auf den Markt bringt. Es stehen alle Signale auf „Zeitenwende“.
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