Rechtswege haben die Aufgabe Gerechtigkeit herzustellen, Ausgleich (sofern möglich) zu erwirken oder bei Undurchsichtigkeit Standpunkte mit Geltung zu versehen. All dies funktioniert, weil, eher latent, weitere Funktionen erfüllt werden. Ein Rechtsweg ist immer mit einer gewissen Laufzeit verbunden, die an sich schon aufgeheizte Gemüter beruhigt. Rechtswege bieten von sich aus bereits Orientierung, da sie grundsätzlich zur Verfügung stehen und Selbstjustiz damit immer unterbinden bzw. automatisch sanktionieren. Zudem haben Rechtswege den großen Vorteil, bereits vor in Kraft treten legitimiert zu sein. Sie gelten unabhängig von der eigentlichen „Sache“ die in ihnen verhandelt wird. Man kann am Stammtisch sonst was für Geschichten über erfahrene Ungerechtigkeiten erzählen, nachdem man vor Gericht verloren hat, wirkt die Erzählung nach außen nur noch wie Autosuggestion.
„Sie (die Verfahren der Rechtsanwendung) dienen mehr der Ableitung und Verkleinerung von Enttäuschungen, indem sie streitende Parteien mit Möglichkeiten legitimer, aber kanalisierter Aggressivität ausstatten und den Verlierer dann isolieren, sodass seine Enttäuschung folgenlos bleibt.“ (Luhmann, „Legitimation durch Verfahren“, S. 237)
In Bezug auf die Stabilisierung sozialer Ordnung ist eine derartige Rechtsanwendung auf Basis legitimierter Verfahrensordnung und positiviertem Recht eine entscheidende sozialevolutionäre Errungenschaft.
Interessant ist allerdings, dass sie nicht immer funktioniert. Wenn man vom Zivilrecht absieht und Fälle beobachtet, in denen der Staat selbst eine der Streitparteien ist, erhält man ein anderes Bild. Beispielsweise wenn der Staat in Form der Polizei direkt in Todesfälle verwickelt ist und „deswegen“ eher das Verfahren verändert wird, bzw. von vornherein andere Maßstäbe gelten.
In Europa können solche Fälle erwähnt werden, ohne dass es zu Konsequenzen kommt. Anders ist es in Amerika. In der Neujahresnacht wurde in Oakland ein 21jähriger in einer U-Bahn-Station von einem Polizisten, nachdem was man sieht, grundlos, erschossen. Der Rechtsstaat und seine Verfahren wirkten in der Hinsicht, dass nicht sofort ein Mob losbrach, um den Schuss des Polizisten zu rächen. Allerdings scheint das in Kraft getretene rechtsstaatliche Verfahren gerade nicht für Stabilität zu sorgen. Seit Neujahr erlebt die Stadt keine ruhige Nacht mehr. Irgendwie scheint ein Verfahren, in dem ermittelt und abgewogen wird, unnütz. Durch die zahlreichen Augenzeugen und vielen Handykamera-Aufnahmen aus allen Richtungen ist die Notwendigkeit einer Ermittlung kaum noch ersichtlich. Die Fragen, warum nicht direkt verhandelt wird, erscheint legitim.
Insgesamt ist zu beobachten, dass die Funktionen eines Verfahrens in solchen Fällen nicht greifen oder gar entgegengesetzt wirken. (Die polizeiliche/staatsanwaltschaftliche Ermittlung und Gerichtsverfahren habe ich im Folgenden zusammengenommen.) Die Laufzeit des Verfahrens kühlt keine Gemüter ab, sondern wirkt als Verschleppung eines feststehenden Urteils. Das Verfahren hält keine Kanäle für die Abarbeitung von Aggression vor, dadurch muss der öffentliche Raum stellvertretend herhalten. Auch die Isolation des Verlierers kann nicht funktionieren. Der eigentliche Konfliktgegner ist bereits tot, diejenigen, die sich an seiner Stelle fühlen, da sie ebenso leicht das Opfer hätten werden können, werden vom Verfahren jedoch schlicht ignoriert. Diese Gruppe, die jetzt durch Vandalismus auffällt, gehört nicht wirklich zu den vom Verfahren Ausgeschlossenen, kann den Ablauf des Verfahrens jedoch auch nicht einsehen. (siehe Luhmann, „Legitimation durch Verfahren“, S. 123) Vielleicht ist sogar zu erwarten, dass im kommenden Gerichtsverfahren, sofern eine Notwendigkeit ermittelt wird, alte Enttäuschung vergegenwärtigt werden und neue Enttäuschungen hinzukommen, für die dann gleiches gilt, wie beim aktuellen Ermittlungsverfahren.
So universal eine Verfahrensordnung auch sein kann, nicht in allen Fällen hat die moderne Gesellschaft adäquate Wege gefunden, Enttäuschung auf stabilen Wegen abzubauen.
Die Dezember-Proteste in Athen sind ein weiteres Beispiel für die misslungene Absorption von Protest im Rahmen des Ermittlungsverfahrens mit der Polizei, würde ich sagen. Hier muss jedoch unterschieden werden zwischen a) Rollenteilnehmern im Verfahren (siehe Deine Zitierung) und b) Unbeteiligten. Die Demonstranten sind als Unbeteiligte nicht rollenspezifisch in das Verfahren eingebunden (Luhmann 1969, Kapitel 8), deshalb kann von ihnen auch kein verfahrensmäßiges Lernen im Sinne der Umstrukturierung von Erwartungen institutionalisiert werden:
a) Im Verfahren kann ein solches Lernen nicht nicht vom einzelnen allein geleistet werden. Dies würde seine Selbstdarstellung diskreditieren. Legitimität beruht hier nicht auf frei-williger Anerkennung, sondern auf einem sozialen Klima, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit institutionalisiert und sie nicht als Folge einer persönlichen Entscheidung ansieht. Denn aus neuen Einstellungen folgt nicht ohne weiteres auch entsprechendes Verhalten.
b) An der Grenze zwischen (hier: polizeilicher) Entscheidungsbürokratie und Publikum (also: Unbeteiligten) wirken jedoch andere soziale Mechanismen. Die darstellenden Prozesse haben hier eine andere Funktion: Die Legitimation besteht nicht darin, den Betroffenen innerlich zu binden, sondern darin ihn – wenn er der Entscheidung nicht zustimmmt – thematisch und sozial als Problemquelle bzw. seinen Protest zu isolieren (Luhmann 1969: 121). Die Unruhen sind eine Reaktion auf diese Isolation, der sie mit expressiver Solidarität entgegen treten. Dies gilt auch wenn die Entscheidung noch aussteht bzw. nur medial vermittelt wird und sich allein in einer Nicht-Entscheidung der rechtlichen Instanzen zeigt – könnte man auf die Oakland- und Athen-Demonstrationen folgern.
Jo, aber wie schon oben gesagt. Die Funktion der Isolation eines Verfahrensteilnehmers ist bei einem Mordfall-verfahren anders gelagert.
Die Protestierenden sind auch, denke ich, nicht blosse Ausgeschlossene/Unbeteiligte… Bzw. wenn das Verfahren in seiner Logik so gestrickt ist, dass sie Unbeteiligte sind, dann liegt da ein operativer Fehler vor. Um Stabilität und kanalisiertes Enttäuschungsabbarbeiten zu erreichen, müsste man ein (vielleicht politisches) Verfahren ankurbeln, in dem diejenigen, die zur Zeit nur über Randale für Aufmerksamkeit sorgen können, eingeschlossen sind.
Und wie sieht es mit Restrukturierungen in multinationalen Unternehmen aus? Als Beispiel mit link fällt mit der wundervolle „Obnoxious Librarian from Hades“ ein, der diese Regeln für Restrukturierungenen aufstellt. So wie der Obnoxious Librarian es schildert, glaubt man sofort, dass Umstrukturierungen vor allem für Destabilisierung sorgen.
Und dann ist da noch mein extrem signifikanter Anderer, der mir täglich hanebüchene Geschichten erzählt. Das Unternehmen, in der er seit längerer Zeit arbeitet, war lange gründergeführt. Da gab es keine Legitimation durch Verfahren, sondern klare Entscheidungen des Chefs. Nun wurde das Unternehmen von einem multinationalen Konzern übernommen und es wird mehr strukturiert als verkauft.
Der konkrete Fall: Eine neue Software soll eingeführt werden. Es wurde eine Gruppe gebildet, die klären soll. Man hat sogar einen Software-„Experten“ unter Vertrag, der bei der Entscheidungsfindung beraten soll. Sieht aus wie Bilderbuchfall, ist es aber nicht. Der „Experte“ hört nicht zu und hat keine Ahnung von den Alltags-Anforderungen an die anzuschaffende Software. Diejenigen, die später wirklich mit der Software arbeiten sollen, sind natürlich nicht beteiligt, weil ihre Position in der Hierarchie nicht weit genug oben ist.
Mein extrem signifikanter Anderer sieht das alles und redet sich den Mund fusselig. Weil das Verfahren nun einmal seinen Lauf genommen hat, ist aber niemand in der Lage zu sehen, dass sämtliche Voraussetzungen und Fragestellungen schief liegen.
Ich glaube, das ist kein Einzelfall. Diese Leviathan-Konzerne sind so groß, dass sie davon allenfalls lokal destabilisiert werden, nach außen dringt davon auch nichts, aber die beteiligten Subsysteme sind optimal destabilisiert.
Bei deinen Beschreibungen handelt es sich (zumindest soziologisch) nicht um Verfahren sondern um Prozesse. Zudem eingeschränkt auf Organisationen. Die Funktionen und Funktionsweisen sind da ganz andere. Interessantes Thema aber ein ganz anderes als das des Artikels.