‚Relevanz‘ als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium

Dieser Artikel schließt direkt an den vorhergehenden Artikel samt seiner Kommentare an – ist also eine Art Zusammenfassung und Strukturierung der Ideen, die im Besonderen Herr autopoiet beigesteuert hat.

Die moderne Gesellschaft unterscheidet sich von ihren Vorgängern durch den Abbau der Notwendigkeit persönlicher Beziehungen und Zurechnungen. Musste ein Bauer im 11. Jhrd. noch streng nach Kalender seine Ernteerträge an einen Herren abführen und der König bei längerer Abwesenheit fürchten, dass seine Pfälze niedergerissen werden, verfügt die Moderne über Organisationen und Institutionen, die sich mithilfe symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien konstituieren und stabilisieren.

Der moderne Bauer verfügt nun über Geld und kann seine Waren egal wem, egal wann, und egal für welchen Preis anbieten. Und ebenso frei ist er im Ankauf. Und auch der König muss nicht mehr anwesend sein und seine Herrlichkeit religiös untermauern. Der moderne König wird gewählt, in ein Amt, das nicht im Vorfeld festlegt, wer es ausfüllt, was und wann entschieden wird. Soweit die Beispiele für Geld und politische Macht.

Nicht ganz so einfach ist es im Fall der Massenmedien. Sie lösen ein gesellschaftliches Problem, das vorher nicht anders gelöst wurde, sondern das in der Vormoderne eigentlich nicht bestand. „Für die Ausdifferenzierung eines Systems der Massenmedien dürfte die ausschlaggebende Errungenschaft in der Erfindung von Verbreitungstechnologien gelegen haben“. (Luhmann, RdM: 33) Geschriebener und blindlinks vervielfältigter Text führt unvermeidlich zu Wiederholungen, Redundanzen – hat man etwas schon erfahren oder noch nicht? Ohne den Autor einer Kommunikation vor Ort kann nicht erinnert werden, wem man was bereits erzählt hat und wem nicht.

Zeitungen und Nachrichtensendungen lösen dieses Problem für uns, indem sie versprechen nur Neuigkeiten zu berichten und alte Nachrichten als alt zu markieren. Die Massenmedien unterscheiden für uns, was neu und was alt ist und versorgen uns nur mit Neuem.

Wie die Erfindung der Verbreitungstechnologien hat auch ihre Weiterentwicklung erheblichen Einfluss auf die Funktionsweise des Systems der Massenmedien. Denn die Zeit, in der die FAZ tagesaktuelle Neuigkeiten, der SPIEGEL wöchentliche Neuigkeiten und die Tagesschau tägliches neues Bildermaterial exklusiv versprachen sind vorbei. Die angesprochenen Medienanstalten funktionieren kaum mehr als Neuigkeitsliferant sondern funktionieren über ihre Reputation – sie zeigen uns nicht, was neu ist, sondern was wichtig ist. Vieles was sie berichten wissen wir schon, aber erst das sie es berichten zeigt, dass es auch wichtig ist.

Die Einführung des Internets ist ein verheerender Entwicklungssprung. Denn bisher galt: „Die Abnehmer machen sich allenfalls quantitativ bemerkbar: durch Absatzzahlen, durch Einschaltquoten“. (Luhmann, RdM: 34) Dies ist nun anders. Galten bisher qualitative Maßstäbe in den Redaktionen und quantitative Maßstäbe im Absatzmarkt – gelten nun auch in den Absatzmärkten qualitative Maßstäbe, da das Internet einen Rückkanal bereithält, über den dies geleistet werden kann.

Die Folge der Rückkopplung führt zu dem Phänomen, dass plötzlich alle Autoren sind. Das System der Massenmedien kann nicht mehr oder nur noch schwerlich zwischen Leistungs- und Publikumsrollen und Zentrum und Peripherie unterscheiden. Und wenn alle/viele durch Rezeption auch produzieren – nimmt der Umfang an kommunizierter Information zwangsläufig zu.

Man kann es an seinem eigenen Medienverhalten sehen: Man sucht nicht mehr die neusten Informationen, sondern nur noch die relevanten. Im SPIEGEL informierte man sich, was passiert, bei SPIEGEL ONLINE informiert man sich, ob das, was man überall liest und einen interessiert auch andere interessiert – also wichtig ist.

Diese Veränderung wirkt sich vermehrt auf das Programm des Massenmediensystems aus. Nicht nur stellt sich die Frage, ob und wofür es noch professionelle Journalisten braucht. Auch die Nachrichtenwerte (RdM: 58-61) verändern sich.

Es handelt sich um ein gesellschaftliches Phänomen. Auch wenn Relevanz nicht exklusiv als, vielleicht neuer, Code der Massenmedien angesehen werden kann, scheint er doch zu passen. Dass Organisationen, entsprechend der Rationalitätskontinuen in denen sie sich befinden, laufend Ereignisse entlang dieser Unterscheidung ordnen müssen, ändert nichts daran, dass auch gesellschaftsweit das Problem besteht, diese Unterscheidung zu prozessieren. Die Behauptung, dass durch die Unterscheidung relevant/irrelevant ein neues Funktionssystem entsteht, war eh eher witzig gemeint. Wie Jan-H. Passoth anmerkt, scheint ein Umbau des Massenmediensystems am ehesten plausibel. Denn auch beim Umbau der primären Codierung des Massenmediensystems von Information: neu/redundant zu Information: relevant/irrelevant bleibt es seinen Funktionen, der Bereitstellung eines, eben nicht organisationsspezifischen, Gedächtnisses bzw. einer Hintergrundrealität (RdM: 173) doch treu.

Durch die neuen Verbreitungstechnologien wird es schwerer zu vergessen – was bisher als notwendig galt. Durch die Anpassung des Codes kann jedoch das Nicht-Vergessene, das nun ständig die Konsistenz der Realität bedroht, (zumindest) als irrelevant aussortiert werden.

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

3 Kommentare

  1. Wolf sagt:

    Hier ein erster Versuch, zu sagen, was ich meine:

    Nichts ist potenziell irrelevant. Daher gilt, was Du schreibst, nämlich, „dass auch gesellschaftsweit das Problem besteht, diese Unterscheidung zu prozessieren“. Relevanz ist letztlich nur ein anderes Wort für Sinn. Jede Anschlusskommunikation findet nur statt, weil die vorhergehende als relevant eingestuft wurde.

    Massenmedien werden nicht nach Relevanzkriterien hergestellt (das ist zumindest keine hinreichende Beschreibung – ihr Code gilt weiterhin), sondern nach solchen rezipiert. Und nichts ist potenziell irrelevant, das müssen sie zunehmend erkennen. Seit im Netz prinzipiell jede und jeder 1-n-Kommunikation auslösen kann, ist beobachtbar, dass eigentlich nichts niemanden interessiert. Die alte Prätention, dass man sich mit Tageszeitung am Morgen und Tagesschau am Abend für informiert zu halten kann, bricht langsam zusammen. Technisch wird diese Entwicklung befördert durch den faktisch unbegrenzten Platz im Netz – im Gegensatz zum begrenzt verfügbaren Papier und zur ebenso begrenzt verfügbaren Sendezeit. Das versetzt die Massenmedien unter enormen Druck zu berichten – Druck, dem aus meiner Sicht die klassischen Druck- und Sendeformate bald nicht mehr werden standhalten können.

    Es ist nicht so sehr das Vergessen, das die Massenmedien unter Netzbedingungen einüben müssen, sondern das gezielte Erinnern. „einestages“ bei Spiegel Online, wo ausschließlich Sachen von Anno Tobak dargeboten werden, ist da beispielhaft. Vergessen ist ja im Prinzip schon, was nicht mehr auf der Startseite steht. Wenn das irgendjemand wieder ausgräbt, betrifft das das Massenmedium selbst ebensowenig, wie wenn jemand akribisch Zeitungsartikel ausschneidet und abheftet.

  2. Sebastian sagt:

    Erst einmal gebührt Stefan großer Dank für die Zusammenfassung (auch wenn m.E. besonders relevante Folgefragen wie beispielsweise die nach Modifikationen auf Programmebene, etwas kurz kommen… aber wer meckert, soll erst mal besser zusammenfassen…!).

    Eine Anmerkung zu Wolf (dann erst einmal Fußball):

    „Technisch wird diese Entwicklung befördert durch den faktisch unbegrenzten Platz im Netz“
    Exakt. Und die (potentiell) unbegrenzten Anschlussoptionen in Form von Links, Kommentaren – kurz: der gute, alte Überschusssinn. Mit dem man sich insbesondere zu Beginn neuer Medienepochen konfrontiert sieht. Wir können (und wollen!) auch gar nicht mehr „alles“ lesen. Es gibt „Je-Relevanzen“, Differenz statt Identität. In rekursiven Formen kann eigene Komplexität erreicht (und dekomponiert) werden: Für Sinn ist stets gesorgt. Alles ist potentiell relevant (oder: irrelevant). Sinnverarbeitung sollte uns nicht beunruhigen – aber wie steht es um (gesellschaftliche) Synchronisation? Selbst wenn wir für’s erste beim Code Information/Nichtinformation bleiben, die Programme müssen den Herausforderungen angepasst werden. Was heisst müssen? Sie werden sich anpassen.

    (Äh… 31. Minute und schon ein Tor verpasst)

  3. […] anderthalb Jahren war es hier schon einmal Thema, dass sich die Massenmedien im Wandel befinden und neben dem Informationscode einen Relevanzcode bedeutender wird. Meiner Ansicht nach zeichnet sich das weiterhin ab, was bedeuten würde, dass der […]

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