Heute morgen war es so weit, die Vorratsdatenspeicherung wurde kassiert. Am 09. November 2007 wurde sie im Bundestag beschlossen, seit Jahreswechsel 2008 war sie in Kraft und heute wurde sie in ihrer jetzigen Form für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Es ist ein Erfolg all derer, die sich vor und seit ihrem Bestehen gegen sie engagiert haben.
Die zwei wichtigsten Meldungen zur Sache sind meiner Ansicht nach diese: 1. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung sieht den Verfassungsgerichtserfolg in Deutschland als erste Hürde an und fokussiert sein Engagement nun auf die EU-Richtlinie (link). 2. In der EU-Kommission wird die Richtlinie selbstständig erneut aufgegriffen (link).
Die EU sollte aber nicht nur deshalb in den Blick geraten, weil die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung auf eine EU-Richtlinie und damit auf EU-Rechtssetzung zurückgehen. Sondern auch, weil es ein Wunder ist, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht überhaupt noch zuständig für den verfassungsrechtlichen Schutz der Bürger ist. Wenn nicht DIE LINKE und der (damals) einsame Peter Gauweiler (CSU) und der ebenfalls ziemlich einsame Henry Nietzsche aus den Reihen des deutschen Parlaments gegen die damalige Form des Vertrags von Lissabon erfolgreich gearbeitet hätten, gäbe es das heutige Urteil sicherlich nicht.
Der heutige Tag wird also eine Wende darstellen. Bislang funktionierte Gesetzgebung so, dass die EU in der Sache entschied und entweder sofort neues Recht setzte (EU-Verordnung, gültig 20 Tage nach Veröffentlichung) oder die Mitgliedsstaaten beauftragt und verpflichtet wurden, EU-Recht in nationales Recht zu bringen (EU-Richtlinie, gültig im Rahmen des Beschluss in nationalen Kammern). Die Funktion des zweiten Falls, der EU-Richtlinie, besteht darin, als Gesetzesautor den Nationalstaat in die Öffentlichkeit zu stellen – und gleichzeitig die EU-Autorenschaft zu verschleiern.
Dieser Trick funktioniert nun vielleicht nicht mehr. Denn neben der Datenspeicherungs- und Überwachungsinfrastruktur etablierte sich in den letzten zwei Jahren auch eine Protestinfrastruktur, die mit Sachkenntnis ausgestattet ist und weiß, dass der nationale Protest nur eine Hürde aber noch nicht das Ziel darstellt.
Und nun wird man kaum noch herum kommen, die EU-Strukturen genauer unter die Lupe zu nehmen. Der beliebte und erfolgsträchtige Aufruf, seinen Abgeordneten anzurufen, läuft in der EU ins leere. Als normaler Bürger weiß man weder, ob das EU-Parlament zuständig ist, noch hat man eine Ahnung, wer eigentlich der eigene Abgeordnete ist. Das EU-Parlament darf manchmal mitarbeiten, manchmal mitentscheiden, manchmal mitwissen und manchmal ist es ganz außen vor. Ohne Handbuch blickt man da nicht durch.
Beim Adressieren von Protest und Beschwerden auf EU-Ebene stehen eher EU-Kommission und EU-Rat im Fokus. Und es wird interessant, wie dies geschehen soll. Der EU-Rat hat für normale Bürger praktisch keine Adresse. Er unterteilt sich in mehr als 20 Einzelräte, nach Ressorts unterschieden. Wenn man sich entscheiden würde, an den EU-Rat heranzutreten, müsste man erst mal erforschen, welcher Rat genau angesprochen wird, wann dieser tagt, usw. Wenn er tagt ist die Öffentlichkeit sowieso außen vor und Pressekonferenzen gibt es auch nicht. Der mächtige EU-Rat steht für Beschwerden und Protest der Bürger quasi nicht zur Verfügung. Selbst Bundestagsabgeordnete der Opposition müssen über den Bundestag „Anfragen“ stellen um zu erfahren, wie der Vertreter der Bundesregierung (der jeweilige Fachminister) im EU-Rat abgestimmt hat bzw. plant abzustimmen (Bsp.).
Und die EU-Kommission? Sie ist ein eingespielter, mit 11000 Mann besetzter Beamtenapparat, der in der Spitze 27 Kommissare führt. Welcher von denen ist für die Vorratsdatenspeicherung verantwortlich? Wer hat dort dafür gestimmt, wer dagegen? Wurde überhaupt abgestimmt? Sicherlich nicht, denn eine nicht-einstimmige Abstimmung in der EU-Kommission geht nicht mit dem Kollegialitätsprinzip einher, das im besten Sinne bedeutet „ich bin heute auf deiner Seite, du dafür morgen auf meiner“.
Für den EU-Rat als intergouvernementale Einrichtung lässt sich noch eine Verbindung zwischen Bundestag und EU herstellen. Die EU-Kommission als supranationale Einrichtung führt diese Verbindung zur nationalen Politik kaum mehr mit sich.
Was das politische Tagesgeschäft angeht ist die EU eine hocheffiziente Institution. Es mangelt ihr jedoch an einigen wichtigen Merkmalen, die normale, politisch interessierte Bürger ruhig schlafen lassen. Man möchte am politischen Willensbildungsprozess teilnehmen, sehen was passiert, absehen was noch passiert – und die Grundzüge der Verfahren nachvollziehen können. Das alles ist gegenwärtig nicht möglich. Und die üblichen 15 Minuten Tagesschau werden für diese Art der Rechtsetzung auch nie ausreichen.
Bislang konnte sich die EU hinter den Nationalstaaten verstecken. Das Thema Vorratsdatenspeicherung scheint das erste zu sein, dass dieses Versteckspiel nicht mehr zulässt. Konnten Greenpeace und Attac noch mit Partizipationsmöglichkeiten in die EU-Strukturen assimiliert werden, wird das mit Organisationen wie dem CCC oder dem AK-Vorrat nicht gelingen. Die EU wird sich allmählich neu aufstellen müssen. Das EU-Parlament und die EU-Bürger drängen langsam aber unaufhaltsam vorwärts und wollen wissen, was wann und wie passiert.
(Bild: EU-Kommission in Brüssel)
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