Wenn wir uns in der Welt zurechtfinden wollen, gibt es gar nicht so viele gute Anhaltspunkte, die uns Orientierung bieten, wie man zuerst glaubt. Nichts ist so objektiv und abgesichert, dass man sich gefahrlos blindlinks darauf verlassen könnte. Dieses Problem kann man im Kleinen noch gut meistern. Bei anstehenden, etwas folgenreicheren Lebensentscheidungen verlässt man sich auf Ratgeber wie die eigenen Erfahrungen, Freunde, Zeitschriften oder teure Gutachter. Wenn’s schief geht ist eben ein entsprechender Teil des Jahreslohns weg…
Die Politik schlägt sich auf ganz anderen Ebenen mit dem Problem der Fehlbarkeit von Prognosen herum. Jede Entscheidung birgt Risiken und Gefahren. Nur dass das Risiko der 600 Parlamentarier in Berlin Gefahren mit gesellschaftsweiter Tragweite bedeutet. Eine kleine Gruppe entscheidet und ganze Völker sind betroffen.
Die Absicherung einer Entscheidung durch Berater und Freunde reicht da kaum. Aus unterschiedlichen Gründen zählen gerade in der Politik, in der mit Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung geworben wird, nur Zahlen. Nicht nur in der Politik geht nichts über eine gute Kennziffer. Sie gibt Hoffnung, lässt staunen, erschüttert oder überrascht (Schade, dass dieser Text nicht online ist – ich verlinke ihn trotzdem). Viele Zahlen sind sinnlos, andere interessant.
Zahlen sind toll. Sie müssen nicht erklären wie sie zustande und wo sie herkommen, sie sind in einer Sekunde darstellbar, ermöglichen Vergleiche, lassen ihre Deutung offen, usw. Zahlen sind die ultimative Waffe, noch viel mehr als das Wort.
Eine zentrale politische Kennziffer, neben Arbeitslosenzahl, BIP und Leitzins, ist die Inflationsrate. Sie stellt, so wurde es in der Schule („Teuerungsrate“) gelehrt, dar, wie sich die Preise im Verlauf der Zeit verändern. Wenn sie nach oben geht, ist das nicht gut, wenn sie zu niedrig ist, wissen wir nicht was es bedeutet. Zuletzt haben wir gelernt, dass auch Deflation, also negative Inflation, irgendwie besorgniserregend ist.
Wir wissen kaum etwas über das Prinzip „Inflationsrate“. Weder wie sie errechnet wird, noch was sie politisch bedeutet oder was sie aussagt ist uns klar. Neben der Herstellung des Problembewusstseins daher hier zwei Lesetipps: 1. Ein kleiner (älterer) Hinweis zur „gefühlten Inflation“. Und 2. Ein nicht zu knapp verfasster Text zum Prinzip der Inflation, der eine Etage unterhalb des Zahlenwertes ansetzt und sich daher als besonders lehrreich auszeichnet.
Als wir letztens im kleinen Kreis über die Kennziffer „Inflationsrate“ nachgedacht haben, wurde schnell klar, dass sie eine, wie viele andere Kennziffern, dürftige Aussage ist. Der Warenkorb ist schön und gut, doch wollen wir wissen, was 1 Liter Benzin kostet? – Oder ist es nicht viel interessanter zu wissen, was es einen Privatmann kostet, sich auf eigene Faust 100 Kilometer fortzubewegen? Doch müsste man dann nicht auch die Steigerung der Effektivität der Automotoren, die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, usw. mit einbeziehen? Oder: Wie viel Prozent meines Jahresgehalts kostet mich mein iPhone und wie hat sich dieser Wert verändert – in den letzten 5 Jahren. (Oh, es gab da noch gar kein iPhone.)
Eine Rechnung aufzustellen, deren wichtigstes Prinzip es ist, auf Zahlen reduzierbar zu sein, hat einen entscheidenden Nachteil: Sie ist unkontrolliert abgekoppelt von den wirklichen Umständen, über die sie Aussagen treffen soll. Warum werden sie dennoch benutzt? Wahrscheinlich, weil es wichtiger ist, die beste Möglichkeit der Orientierung zu nutzen, als gar keine. Das hat dann aber weniger mit Vernunft als mit Legitimation von politischen Entscheidungen zu tun.
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