Die Zeiten sind verrückt. Beinah wöchentlich erleben wir nachrichtentaugliche Katastrophen. Flut in Pakistan, Feuer / Überschwemmung in Australien, Erdbeben in Neuseeland, Erdbeben in Japan, Tsunami im Pazifikraum. Diese Naturkatastrophen sind verheerend und relativ regional – da durch die Berichterstattung jedoch weltweit Betroffenheit und konkrete Hilfsbereitschaft ausgelöst werden, ruft jede größere, regionale Naturkatastrophe inzwischen eine globale Kulturkatastrophe hervor.
Der Unterschied von Natur und Kultur ist hier auf Katastrophen bezogen und orientiert sich an der Unterscheidung von Risiko und Gefahr, wie sie Niklas Luhmann fasst. Katastrophen, Unfälle, Ereignisse ganz allgemein, unterliegen zwei grundlegenden Zurechnungsmodellen. Entweder traf einen das Schicksal ganz unverschuldet – dann handelte es sich um Gefahr. Oder, der Schicksalsschlag ist auf eine eigene, riskante Entscheidung zurückzuführen – dann war es Risiko.
Bei dem Atomunglück, das gerade an der japanischen Küste passiert, liegt beides vor. Atomkraftwerke zu betreiben ist ein gesellschaftliches Risiko. Opfer eines Erdbebens zu werden ist eine nicht auszuschließende Gefahr. Beides kreuzt sich auf fatale Weise in der Katastrophe von Fukushima 1.
Soviel zu Kultur/Natur bzw. Risiko/Gefahr. Nun zur Katastrophe: Eine Werkskatastrophe ist ebenso grundlegend von anderen irregulären Vorkommnissen zu unterscheiden und begrifflich zu fassen. Katastrophen unterscheiden sich etwa von Unfällen, weil sie Externe tangieren/schaden. Ein Vorkommnis ist so lange ein Unfall, wie der Schaden auf die Anlage begrenzt bleibt. Wenn jedoch die Werksfeuerwehr zur Schadensbegrenzung nicht ausreicht, und es keinen funktionierenden (inhaltlichen) Plan zur weiteren Vorsorge, Versorgung und Eindämmung gibt, handelt es sich um eine Katastrophe. Für Atomkraftwerke gibt es sogar zwei weitere begriffliche Eskalationsstufen, die überraschend klar definiert sind – den GAU und den Super-GAU. AKWs werden für einen größten anzunehmenden Unfall ausgelegt. Ein Super-GAU übersteigt dagegen die Planungsmöglichkeiten, liegt jedoch noch im Bereich des Vorstellbaren.
Eine Atomkatastrophe zeichnet sich, soziologisch betrachtet, dadurch aus, dass sie, durch ihr Zerstörungspotenzial und ihre Unberrechenbarkeit, regional zum Handeln und global zumindest zum Miterleben zwingt. Jede Einzelne bedeutet eine Zäsur, sie zwingen zum individuellen und gesellschaftlichen Lernen.
Ganz direkt: Man plant derzeit in Japan mehrere AKW-Neubauten. Zwar hat man seit Beginn die Gefahr von Erdbeben in den Planungen, doch nun wurde die Latte auf „Stärke 8.8“ gelegt. Indirekt: Die Diskussion über die Atomkraft wird ab heute auf einer anderen Ebene geführt werden müssen. Dabei wird zwingend die oben genannte soziologische Erkenntnis in die Diskussion Einzug halten, dass es nur um die Unterscheidung von Risiko und Gefahr und diesbezüglichen Minimierungsstrategien geht und Sicherheit weder als Begriff noch als Konzept eine gehobene Rolle spielt.
Die akute Katastrophe findet in Japan statt. Doch Atomkraftwerke gibt es überall auf der Welt. In Europa sind 93 Kraftwerke mit 196 Reaktoren in Betrieb. 13 werden gegenwärtig gebaut, 84 stehen stillgelegt herum. Bislang war die Strategie der deutschen Atomkraft-Lobby recht einfach: „Kernkraft? Ja, sicher.“ Atomkraft ist Neusprech-gerecht „Kernkraft“, die bejaht wird und als „sicher“ gilt. Wer dagegen ist, ist entweder ein Fortschrittsverweigerer oder ein nicht ausreichend darüber Informierter, dass wir in Deutschland die sichersten Atomanlagen der Welt haben. Was, so die Lobby-Strategie, zum einen jeder Wissen sollte aber am besten gar nicht so sehr als Fachwissen, sondern lieber als diffuse Ahnung.
Keiner der drei Aspekte dieser Strategie wird ab jetzt noch funktionieren. 1. handelt es sich jetzt wieder um „Atomkraft“-Werke. 2. war heute in den Medien weit und breit kein beruflicher Atomkraftexperte zu sehen, sondern nur Experten, die den Aktivistengruppen oder der Politik zuarbeiten – von denen niemand bei den Statements ein pragmatisches, indirekt kommuniziertes „Ja“ mitführte. 3. hat Japan, schon allein durch die Antizipation schwerer Beben, sicherlich mindestens ebenso sichere AKWs wie Deutschland.
Der einzig bekannte Pro-Aspekt der noch bleibt wäre, zu argumentieren, dass Fukushima 1 noch diesen Monat 40 Jahre alt wird – aber auch das könnte sich als Eigentor erweisen. Denn, zum einen sind viele deutsche Kraftwerke ebenso alt, zum anderen ist es einem Erdbeben egal, ob es ein betriebenes oder stillgelegtes Atomkraftwerk zerstört. Denn das Kraftwerk bleibt nach Gebrauch stehen und bedarf auf Jahrhunderte hinaus Betreuung. (Man kann sie auch zurückbauen, wenn man Jahrzehnte an Zeit und Milliarden an Geld investiert. Das ändert jedoch nichts daran, dass der radioaktive Müll vor Naturkatastrophen sicher gelagert werden muss.)
Wie unerwartet solche Katastrophen über die Gesellschaft hereinbrechen sieht man auch daran, dass, neben den unbescholtenen Bürgern, nicht nur die Kraftwerksbetreiber und Politiker von solchen Ereignissen überrascht werden, sondern auch diejenigen, die sich tagtäglich mit globalen Katastrophen beschäftigen. Die Wissenschaft konnte sich ein Beben in der Stärke kaum vorstellen. Und auch die Rückversicherer, die im letzten Jahrzehnt schon die ein oder andere Überraschung erlebt haben, haben mit dem Maß an Zerstörung nicht gerechnet. Vielleicht setzt ja demnächst auch ein Lernen dahin gehend ein, dass in Zukunft weniger Banken als Rückversicherer systemrelevant sind und tatsächlich stattliche Geldhilfe benötigen.
Zusammengefasst: Statt der proaktiven Fortentwicklung der Sicherheitssemantik wird ab jetzt die Frage zu klären sein, ob das „gesellschaftliche Risiko“ des AKW-Betriebs akzeptabel ist. Es hat zwar ganze fünfzig Jahre gedauert und zwei Katastrophen erfordert – doch dieser Punkt ist nun erreicht. Die bittere Pille ist aber, dass die Gesellschaft in so wichtigen Fragen nur auf Zwang reagiert und dass dieser Zwang nicht durch das bessere Argument, sondern die (externe) handfeste Katastrophe, die durch ihre (internen) konkreten Folgen Argumente provoziert, entsteht.
(Bild: Paulgi)
Update: Alles was ich sagen wollte, passt in einen Tweet: „Das war kein Erdbeben, sondern ein Wachrütteln. #Atomkraft“ (via @Weltregierung)
Update 2 (13. März, 12:30): Gesellschaftlich riskant ist im Übrigen auch ein (plötzlicher) Ausstieg aus der Atomkraft. Das europäische Netz ist beispielsweise für eine Schwankung von 2% ausgelegt. Bei 5% Netzschwankung handelt es sich bereits um eine kritische Situation. Neben dem Potanzial der Energieerzeugung ist also auch die Stetigkeit der Energieverteilung ein großes Problem, auf das die Konzepte der „erneuerbaren Energien“ meiner Ansicht nach noch nicht wirklich reagieren, jedenfalls nicht in der medialen Argumentation.