Ich bin die vergangenen Tage durch ein paar Bücher geflogen, die sich als Praxisliteratur mit Schreiben und Sprache befassen. Ich denke, ich habe jetzt einen verwertbaren Überblick über die zum Standard gehörend geltenden Bücher und Autoren, die sich mit guter und sinnvoller Deutschverwendung befassen. Die inhaltliche Ausbeute war allerdings dürftig. Ohne einzelne Werke herauszugreifen, waren wirklich hilfreiche Tipps so selten, dass sie sich irgendwann als Überraschungen einstellten, die den öden Verlauf der Bücher durchbrachen.
Ein Buch stellt jedoch eine Ausnahme dar: Deutsch für Kenner – Die neue Stilkunde von Journalist, Verlagsleiter, Chefredakteur, Journalismuslehrer, Honorarprofessor und Medienpreisträger Wolf Schneider. Endlich mal kein Pädagogikbuch, dass einen stets daran erinnert, dass man am besten seinen eigenen Weg findet, Leidenschaft benötigt und das Buch bitte weniger als Regelwerk denn als Anregungshilfe verstehen möge. W. Schneider beginnt das Buch zwar mit dem Hinweis, dass es in Amerika eine „Readability“-Forschung gäbe, die sich zäh als „Verständlichkeitsforschung“ in Deutschland etabliert, doch von solchen in gewisser Weise objektiven Grundlagen driftet er schnell ab um radikal subjektiv nicht nur über die gute Sprache zu sinnieren, sondern sich auch über den konkreten Sprachgebrauch in Zeitungen, Betriebsanleitungen und Amtsblättern lustig zu machen und aufzuregen. Das Buch ist mit Haltung und Erfahrung geschrieben und erfüllt, während sich die andere Literatur mit ungestellten Fragen und unklaren Prinzipien herumschlägt, genau dadurch seinen Zweck.
Deutsch für Kenner enthält nicht das übliche, in Listen gezwängte Empfehlungswissen, sondern vielmehr wirkt es so, als habe W. Schneider nach Jahrzehnten engagierter Fütterung mal seinen Zettelkasten aufräumen wollen und festgestellt, dass, neben der Ordnung, auch noch ein paar Kommentare fehlen. Entstanden ist ein Buch als wilde Sammlung von Hinweisen, die auf Basis nachvollziehbarer Erfahrung beinah den gesamten Verwendungsspielraum der deutschen Sprache abdeckt und – dem wichtigsten Anliegen des Autors entsprechend in sparsamen Sätzen, ach was Worten, ach was Silben – als eines charakterisiert werden kann: anschaulich. Und wie dieser und der vorhergehende Satz zeigen, sollte man von dem Buch profitieren können, ohne sich von seinen Aussagen einnehmen lassen zu müssen. ;-)
Da das Buch beinah zur Hälfte aus Praxisbeispielen und Unterfütterungszitaten besteht, kann man oft mit dem Autor, manchmal aber auch über ihn, lachen. Hin und wieder ist es gerade der Widerspruch der beim Lesen die Erkenntnisse und, viel öfter, Einsichten zutage fördert.
An einer Stelle jedoch muss man sich empören. Nicht, weil man sich durch ein präsentiertes Negativbeispiel erwischt fühlt, sondern weil man von dem Autor mit Bezug auf Thema und Ziel des Buches mehr erwartet hat. Hier einmal die Stelle (S. 31):
Zu all dem kommt nun bei den Geisteswissenschaften, mindestens bei einigen, eine große Frage: Bedienen sie sich einer Fachsprache wie die Naturwissenschaften – oder sind sie eine Fachsprache, ein bloßes Wortkunstwerk? Dem Geologen würden ja die Steine bleiben, auch wenn er nicht darüber spräche. Was aber bliebe von der Philosophie, der Psychoanalyse oder gar von der Soziologie und der Kommunikationswissenschaft, wenn man ihnen die Begriffe nähme? Bestehen sie nicht größenteils aus einer raffinierten Technik, einfache Zusammenhänge mit komplizierten Begriffen zu überwölben? Wie sollte eine Realität jenseits der Sprache beschaffen sein, wenn die Sprache so beschaffen ist wie hier?
Dass W. Schneider Psychoanalytiker und Soziologen über einen Kamm schert – geschenkt. Solch eine Prämisse ist für mich Grund genug Bücher und Seminare und die dazugehörigen Autoren für immer (IMMER!) zu ignorieren – wenn es um Inhalte ginge. In einem Buch über Sprache ist so etwas gerade noch tolerierbar. Viel verwerflicher finde ich einen anderen Vorwurf: Soziologen nutzen die Sprache für gehaltloses Gerede über Gegenstände, die sie erst durch die Verkomplizierung von Sprache erschaffen.
Dieser Frechheit muss begegnet werden – und zwar im Duktus von Deutsch für Kenner: Die Soziologie, und nur sie, ist die Wissenschaft der Sprache. Man sollte sich nicht täuschen lassen. Es gibt Sozialforschungen, manche befasst sich mit methodengestützter Empirieerforschung, andere mit nationalen Sozialstrukturen und noch mal andere nennen sich Kulturtheorien. Doch es gibt neben all diesen Sparten eine „eigentliche Soziologie“, die Gesellschaftstheorie. Sie befasst sich mit dem einzigen substanziellen Gehalt der Gesellschaft, ihr Gegenstand ist die Kommunikation.
Wie „Geologen“ beobachtend auf „Steine“ zugreifen, greifen Soziologen beobachtend auf beobachtende Geologen zu. Zwar kann es sein, dass ein Stein auch vorhanden ist, wenn ihn kein Geologe beobachtet, doch es würde nichts bedeuten. Ein unbeobachteter Stein verursacht keine Forschung, keine Verletzung, kein Geschäft kurz: keinen Unterschied. Die Beobachtung eines Steines dreht die Vorzeichen um. Sie ermöglicht Steinforschung, Steinschäden, Steingeschäfte … Die Beobachtung eines Steines macht (mindestens) einen Unterschied, der sich beobachten lässt. Soziologen beobachten nicht die Unterscheidung durch den Stein, sie beobachten die Unterscheidung der Beobachtung des Steines.
An dieser Stelle gilt das Gleiche wie beim Geologen. Ein Stein ist ein Stein, auch wenn ihn kein Geologe beobachtet. Und ein beobachtender Geologe ist ein beobachtender Geologe, auch wenn ihn kein Soziologe beim Beobachten beobachtet. Doch will man verstehen und erklären welchen Unterschied ein beobachtender Geologe macht, benötigt man einen Soziologen.
So, wie jede einzelne Steinbeobachtung für einen Geologen einen Unterschied macht – und es kommt auf diesen Unterschied an, den der Stein nur hervorruft, ist jede Beobachtung von anderen Beobachtungen zu unterscheiden und auch hier gilt, gerade der Unterschied zwischen Beobachtungen ist (für uns) wichtig, nicht die einzelne Beobachtung (an sich).
Und was ist nun die Rolle der Soziologen, was machen sie genau? Sie beobachten die Sprache der Geologen, mit der sie den erforschten Unterschied in Kommunikation gießen und ihn so (und nur so) für die Gesellschaft verfügbar machen. Diesen Unterschied, den der Stein verursacht, könnte nur für Geologen interessant sein. Er kann aber, neben der wissenschaftlichen, auch juristische, wirtschaftliche, politische, familiäre, moralische Unterscheidungen verursachen. Allein die Soziologie behält den Überblick, da sie sich nicht nur mit Wissenschaft, Recht, Wirtschaft, Politik, Familien und Moral befasst, sondern die einzige Wissenschaft ist, die sich konzeptionell auf die darüberliegende Ordnung Zugriff verschafft hat: die (singuläre) Gesellschaft.
Die Soziologie befasst sich mit der Sprache (Kommunikation, Semantik) der Gesellschaft. W. Schneider fragt: „Bestehen sie [die Soziologie u. a.] nicht größenteils aus einer raffinierten Technik, einfache Zusammenhänge mit komplizierten Begriffen zu überwölben?“ Die klare Antwort lautet: Nein. Die Soziologie überwölbt nicht „einfache“ Wirklichkeit mit „raffinierter“ Sprache, sondern sie ist die Sprache, die, über die Annäherung an die gesellschaftliche Semantik der Gesellschaftsstruktur (sozusagen der „sozialen Wirklichkeit“) am nächsten kommt und dieses Vorhaben auch genau so benennt.
Statt, dass sich die Soziologie vorhalten lassen muss, durch ihre Sprache eine einfache Wirklichkeit durch sprachliche Verkomplizierungen zu verzerren, kann man soziologisch der Journalistik vorhalten, sie sei sich nicht bewusst, dass die durch ihre (einfache) Sprache beschriebene Wirklichkeit erst durch die Beschreibung derselben hergestellt wird. Schließlich ist die Sprache der Journalisten, die sich daran orientiert inhaltlich möglichst Neues zu erfassen, der Auslöser für gesellschaftliche Folgen dessen, was sie beschreiben (unterscheiden). Niemand stört sich an einem umstürzenden Baum, es sei denn, ein Journalist war da, hörte zu und schrieb es auf.
W. Schneider fragt: „Wie sollte eine Realität jenseits der Sprache beschaffen sein, wenn die Sprache so beschaffen ist wie hier [in der Soziologie]?“ Die Gegenfrage lautet: Gibt es eine Realität jenseits der Sprache? In der Soziologie hat man eine Antwort auf diese Frage: Ja es gibt diesen „Ort“, doch „einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies (…) zurück“.
Um abschließend dem leicht frechen Duktus von W. Schneider treu zu bleiben und auch der Didaktik des Buches noch gerecht zu werden, eine Übungsaufgabe: Überlegen Sie, weshalb es sinnvoll sein könnte, semantisch zwischen „Ruhm“, „Respekt“, „Ehre“ und „Achtung“ zu unterscheiden und welche gesellschaftsstrukturelle Entsprechungen sich hinter jedem Begriff verbergen könnte. (Vielleicht gibt’s hier mal eine soziologische Auflösung.)
(Bild: J. Salmoral)
Lieber Stefan, deine Entgegnung basiert auf zwei Annahmen, die durchaus streitbar sind. Eine „eigentliche Soziologie“ gibt es nicht. Zwar gibt es, wie in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen den Bereich einer allgemeinen Theorie, die im Falle der Soziologie entweder die Frage nach Gesellschaft oder sozialer Ordnung zu beantworten sucht und sich daher den Erkenntnissen aller anderen „Sparten“ bedient (und vice versa). Aber aus dieser „Meta-„Perspektive auf etwas „eigentliches“ zu schließen halte ich nicht für zulässig.
Zweitens ist soziologische Gesellschaftstheorie nicht zwingend als Kommunikations- oder Systemtheorie zu denken. Zumindest außerhalb des Bielefelder Systemtheorie-Kosmos kann diese Behauptung nicht so absolut durchgehalten werden.
Selbst wenn man diese beiden Annahmen nicht aufrecht erhält, ließe sich Schneider allerdings entgegnen, dass gerade die Soziologie, und zwar egal welcher Sparte oder theoretischer Provenienz, sich einer Sprache bedienen muss, die nicht der alltäglichen Verwendung des erforschten Gegenstands entspricht. Sie muss das einerseits tun, um die sozialen Phänomene semantisch eben nicht „einfach“ zu verdoppeln, sondern mit Hilfe von Begriffen zu innerhalb einer eigenen Logik zu verordnen, welche in der Regel als Theorie vorliegt. Sie muss es andererseits tun, um vorhandene Theorien zu irritieren und somit das Potential zur Weiterentwicklung der Disziplin zu ermöglichen.
Sicherlich hat die Soziologie das Problem, sich größtenteils einer Sprache bedienen zu müssen, die im Alltag verwendet wird. Es ist ja sogar meist so, dass der Alltag sich der soziologischen Sprache bedient und Grenzen schwer aufrecht zu erhalten sind. Dennoch gilt, dass eine Soziologie ohne eigene Sprache vieles sein kann, aber sicher keine Soziologie.
Gute Ergänzung zur Alltagssprache.
Aber soziologische Theorien, die nicht an Kommunikation ansetzen, verweigern sich zumeist einem Gesellschaftsbegriff. (Und die, die mit Kommunikation arbeiten, können sich zwischen der Vielzahl an Gesellschaftsbegriffe nicht recht entscheiden.)
(Und wie gesagt, meine Anmerkungen waren ein wenig frech – auch Soziologen gegenüber ;-)