Zum Leben verurteilt

Die Überschrift ist eine aus dem Fundus der inspirierenden Widersprüchlichkeiten, die immer wieder kurze Einwürfe und manchmal buchlange Diskussionen verursachen. Meistens driftet man mit ihnen in die Schöndenkerei ab, redet über Widerstände, die das Leben greifbar machen, über Hindernisse, die beim Blick zurück einen Weg erkennen lassen oder über unüberwindbare Barrieren, die alte Wege versperren und dadurch zu neuen führen. Wenn wir der Ratgeberliteratur glauben, können und müssen wir uns und andere zum Glück zwingen, weil Philosophen sagen, dass wir zur Freiheit verurteilt sind.

Diese Spielerei funktioniert aber nicht mehr, wenn anstelle von „Verurteilung“ von „Bestrafung“ gesprochen wird. Wer von „Lebensstrafe“ spricht, lässt keinen Raum mehr zum schönen Denken, weil er bereits versucht ist, hässlich zu handeln. Dafür kann es individuelle Gründe geben. Die Frage ist allerdings, ob die New York Times ein Forum sein sollte, in dem es ein Anwalt begrüßt, dass der Mörder der Familie seines Bruders „zu leben bestraft“ wird, weil die „Todesstrafe“ ein zu großes „Geschenk“ wäre. Der Täter solle lieber ein „Leben in Angst“ führen, in einer Umgebung, die ihm nach eigener Aussage nicht behagt – ohne Aussicht auf ein festgesetztes Todes-, gleichsam Erlösungsdatum.

Es kann sein, dass das jemand schrieb, der sich nach der Höchststrafe sehnte und nun vor sich selbst zu erklären versucht, was statt dessen geurteilt wurde. Es kann sein, dass hier ein neuzeitlicher religiöser Weltentwurf im Spiel ist, den wir außerhalb amerikanischer Alltagserfahrungen nicht nachvollziehen können. (Der vermuten lässt, dass der Autor sein Seelenheil im Recht sucht, wie Henrik meint.) Es kann auch sein, dass der Autor im Nachhinein selbst über seine Worte erstaunt ist. Der Text ist Ausgangspunkt vieler Überlegungen.

Eine steckt in folgender Frage: Was halten eigentlich Leute, die gegen die Todesstrafe sind und für ihre Meinung gute Gründe haben, von Menschen, die ebenfalls gegen die Todesstrafe sind aber aus schlechten Gründen? Ist man gegen die Todesstrafe, weil es eine Anmaßung ist zu entscheiden, dass und wann Menschen sterben? Ist man dagegen, weil die Methoden grausam sind? Und wie ist gleich das Argument, das die Zivilisation ins Spiel bringt?

Was wäre dann mit dem Argument, dass eine „Lebensstrafe“, wie oben verlinkt, anmaßender ist als ein Todesurteil, weil es nicht darum geht, jemand hinzurichten, damit er niemand Anderem mehr Schaden zufügen kann, sondern darum, jemand am Leben zu lassen, damit ihm Schaden zugefügt werden kann. Was ist mit dem Argument, dass bei einer „Lebensstrafe“ für ein Schrecken ohne Ende, statt für ein Ende mit Schrecken optiert wird? Nennt man es Zivilisation, wenn Menschen nicht getötet werden, und andere sich darüber freuen, dass sie dadurch länger leidensfähig bleiben?

Der op-ed-Text macht ein großes Fass auf. Er zeigt, dass es schwierig ist, gute Gründe gegen schlechte Dinge zu formulieren. Er zeigt, wenn man das Problem generalisiert, auf, dass es überhaupt problematisch ist, juristische Sachverhalte moralisch zu bewerten. Die Geltung eines moralischen Urteils ist immer auf einen Einzelfall begrenzt und man ist stets in der Gefahr, alle anderen Argumente moralisch bewerten zu müssen. Die guten Gründe gegen die Todesstrafe kommen mit den oben gezeigten Gründen gegen die Todesstrafe nicht klar. Es sind schlechte Gründe für eine gute Sache und das ist inakzeptabel, weil man sich im Kosmos von gut und schlecht bereits festgelegt hat, man ist schließlich aus guten Gründen dagegen.

Was nun? Sind die ganzen guten Argumente gegen die Todesstrafe (Menschenrechte, humanistische Werte, religiöse Traditionen, Zivilisationsvorstellungen, …) nichts wert? Soziologisch radikal: Ja, sind sie. Sie können eine Haltung zum Thema stützen, doch sie sind nicht imstande, einen Widerspruch wie den obigen auszuhalten. Die Verknüpfung von Moral und Recht darf nicht getestet, nicht beansprucht werden, wenn sie funktionieren soll. Je mehr man diese Verknüpfung am Alltäglichen oder in der Theorie expliziert, desto mehr erkennt man, Moral und Recht stützen sich nicht, sondern ergänzen sich, sie kümmern sich – aus einer bestimmten Perspektive – um zwei gerade konträr zueinander gerichtete Sachlagen.

Die Moral übernimmt dabei die Orientierungsleistungen für alle Angelegenheiten, die sich kaum formalisieren und nur begrenzt generalisieren lassen. Jeder kennt und befolgt (ungeschriebene) Sitten und Konventionen, man hat sie als Höflichkeitsregeln beiläufig gelernt. Sie spielen in jeder menschlichen Begegnung eine Rolle. Man folgt jedoch nicht einem festgezurrten Skript, sondern bleibt sensibel. Die Achtung eines Menschen ist immer reziprok. Man kann dem Anderen mit gewissen Ehrvorstellungen und Respekthaltungen gegenübertreten, sich auf einen Kontakt vorbereiten, Vorkehrungen treffen, um die seltene Chance nicht zu vermasseln. Oder aber, jemanden zufällig begegnen, unvorbereitet und ungewollt treffen. Eine Sache bleibt von all dem unberührt: Eine Begegnung findet entweder im Modus der gegenseitigen Achtung oder Missachtung statt. Die Achtungsbedingungen können generalisiert werden (Reputation, Standesehre, Gründe zur Bewunderung, …) doch das Erweisen von Achtung, das konkrete Höflichkeitsverhalten, die kleinen Aufmerksamkeiten, das taktvolle Mitspielen sind Aufgaben, denen in jedem Moment nachgekommen werden muss – weil der ganze Sinn darin steckt, anzuzeigen, dass man in genau dieser Situation genau diese Person mit seiner Höflichkeit, seiner Aufmerksamkeit und seinem Taktgefühl meint. Viele Interaktionskonflikte, die auf der Themenebene ausgetragen werden, haben ihren Ursprung im Misslingen der Achtungsmechanik. Wer sich nicht als Person geachtet fühlt, reagiert mit Missachtung auch dem verehrten Rockstar und respektierten Vorgesetzten gegenüber.

Wer sich moralisch (mithilfe der angesprochenen Vehikel: Menschenrechte, Werte, usw.) gegen die Todesstrafe positioniert, gibt damit erst einmal bekannt, unter welchen Achtungsbedingungen er bereit ist, andere zu achten. Wer für die Todesstrafe ist, dem gelten anscheinend Menschenrechte und humanistische Werte nichts – so jemand verdient keine Achtung. Darüber kann auch nicht diskutiert werden, weil man im Gespräch gar nicht bis zur Sachebene des Themas käme. Moralische Kommunikation kennt somit nur zwei Ausprägungen. Entweder man achtet und verbündet sich, wegen der guten Sache. Oder man missachtet und bekämpft sich. (Oder aber, man geht sich klugerweise aus dem Weg.)

Mit dem Recht und der rechtlichen Kommunikation ist nun alles genau umgekehrt. Wer sich auf dem Rechtsweg begegnet, muss sich nicht gegenseitig achten. (Man könnte gerade wegen anhaltender Missachtung dort gelandet sein.) Statt den Höflichkeits- und Anstandsregeln, mit denen man eine konkrete Person adressiert, gelten die Regeln des Rechts. Man orientiert sich nicht aneinander, sondern jeder für sich am Recht und das Recht selbst bleibt unverhandelbar, es gilt, galt und wird immer gelten – der Einzelfall ist dem Recht egal. Strittig sind nur die Inhalte. Manchmal, wenn es besonders kritisch wird, ist sogar ein Richter dabei, der als Dritter moderierend eingreift und sensibel für die konkrete Situation das Recht (die Prozessordnung interpretierend, das Urteil fällend) auslegt. Das Alleinstellungsmerkmal am Recht ist, dass es involvierte Personen vollständig ignoriert. Wissenschaftliche Reputation, wirtschaftliches Vermögen, körperliche Kraft, Prominenz, usw. gelten nicht. In rechtlicher Kommunikation gilt man gerade nicht als Person, sondern wird ausschließlich als Rolle (Angeklagte, Beschwerdeführer, Kläger) adressiert. (Man kommt als konkrete Person vor, aber eigentlich nur als Thema.)

Moral und Recht sind die Korridore, die gutes/richtiges und schlechtes/falsches Verhalten unterscheidbar machen. Moral übernimmt dabei genau die Bereiche, die das Recht nicht erfassen kann und umgekehrt. Moral generalisiert, Recht spezifiziert. Moral personifiziert, Recht ignoriert Personen. Moral/Achtung kann nicht erzwungen werden, Recht gilt immer. Moralische Kommunikation beginnt Konflikte, Recht entscheidet Konflikte. Und so weiter.

Die Todesstrafe ist keine moralische, sondern eine rechtliche Angelegenheit. Argumente pro/contra Todesstrafe sollten somit ebenfalls rechtlich sein und nicht moralisch. Es gibt nämlich rechtlich richtige Argumente, gegen die Todesstrafe, die einen Widerspruch und Diskussionen aushalten. Und genau die gilt es zu mobilisieren. Man könnte also, so wie hier, die Schicksale jeweils einzeln thematisieren, die betroffenen Personen vorstellen, die Todesstrafe für inhuman halten und „finden, dass ihr kein Platz in einer zivilisierten Welt zusteht.“ Oder, man könnte das gesamte Engagement darauf verwenden, die Justiz mit der Frage zu belästigen, wie es eine Prozessordnung geben kann, die sich selbst dem Recht entzieht, in dem sie unrevidierbare Entscheidungen fällt. Mehr als eine konzertierte Kampagne zu dieser Frage ist, denke ich, nicht notwendig. Mit dieser Frage lassen sich dann auch die humanistischen Werte und die Zivilisation wieder ins Boot holen, ohne das es bei der nächsten Welle gleich wieder zu kentern droht – denn wenn einmal festgestellt ist, dass die Todesstrafe einfach nicht rechtens ist, kann man sich über die ausbleibenden Konsequenzen moralisierend beschweren.

(Bild: Peter Thody)

16 Kommentare

  1. Henrik sagt:

    Ich enthalte mich mal der Diskussion um den Sinn respektive Unsinn der Todesstrafe und nehme einfach mal hin, dass sie existiert und damit in dem Sinne, der Legitimität als faktisches Vorhanden interpretiert, legitim ist.

    Das, aus meiner Sicht, Dramatische an dem Artikel ist dann auch tatsächlich, dass versucht wird, die Todesstrafe darüber herzuleiten, dass das Leben im Gefägnis zu handlungsdominiert ist und sich nicht zur Reflektion eignet. Und dass es deswegen ein Segen wäre, die Todesstrafe zu verhängen, eben weil der bevorstehende Tod von allen weltlichen Belangen entlastet. Hier findet dann tatsächlich eine einigermaßen widerwärtige Verdrehung der Funktion des Rechts statt: man argumentiert mit dem Finden von Seelenheil ohne dabei in Rechnung zu stellen, dass das Rechtssystem – was immer man davon halten mag – nun einmal nicht für das Seelenheil verantwortlich ist. Zum Glück möchte man doch meinen…

    Das erlaubt dem Autor, der sich dieser – wohlgemerkt sehr schwierigen – Frage annimmt, sich einer eigenen Wertung zu enthalten und sich stattdessen hinter dieser Deduktion aus Vorstellungen des Seelenheils zu verstecken. Das scheint mir dann doch einigermaßen…sagen wir mal zurückhaltend zu sein, steht jedenfalls in starkem Kontrast zu der Tatsache, dass man solch ein Thema überhaupt anfasst.

    Um noch einen letzten Punkt aufzugreifen: ich finde es durchaus in Ordnung, dass sich die NYT solch eines Themas annimmt. Schließlich ist die Todesstrafe ja durchaus Realität in den USA, auch wenn das für europäische Augen eher schwer nachzuvollziehen ist. Nimmt man das hin, braucht man, denke ich, nicht mehr über moralische Argumente zu diskutieren, da diese am Faktum der Existenz dieser Strafe vorbeigehen. Zumal man immer wieder auf die Paradoxie aufläuft, dass man argumentiert, die Todesstrafe sei nicht hinnehmbar, weil man über Leben und Tod entscheidet, also Gott spielt, dabei aber außer Acht lässt, dass die Täter dies ja in den – wahrscheinlich – meisten Fällen auch getan haben. Damit soll nun nicht die Todesstrafe verteidigt werden, sondern lediglich auf diese inhärenten Widersprüche verwiesen werden, die sich aus einer moralischen Bewertung ergeben.

    Und somit ist für mich das schlagkräftigste Argument gegen die Todesstrafe auch eines, das nicht dem Moraldiskurs entstammt, nämlich das, dass man eben nicht 100%ig sicher sein, dass eine Veruteitlung gleichbedeutend mit Schuld ist. Das Gericht kann sich eben irren und DANN wird aus der Todesstrafe justizial legitimierter Mord…

  2. Stefan Schulz sagt:

    Finde es gut, das wir mal so richtig einer Meinung sind. Ich sehe nun sogar ein, dass man in Amerika sowas auf diese Weise thematisieren können sollte. Auch wenn ich denke, dass das lieber in einer Zeitung stehen sollte, die Dallas oder so im Namen trägt… ;-)

    Die Paradoxie ist wirklich interessant. Eine Strafe die so ausfällt wie die Tat, die sie (am häufigsten) bestraft… (wenn man das Argument der „Revidierbarkeitspflichtigkeit“ jeglicher Rechtsurteile wegen der Irrtumsmöglichkeit tatsächlich einfordert.)

  3. Henrik sagt:

    Ja, das stimmt auf jeden Fall. Man könnte da im Rahmen dieser Risikodiskussion durchaus darauf hinweisen, dass Todesstraen de facto irreversibel sind, sich jedes Gericht folglich der Gefahr (Gefahr, weil das Gericht ja kaum selber wieder Ermittlungen aufnehmen wird) aussetzt, falsch entschieden zu haben!

    Eigentlich ist das, wenn man mal in Betracht zieht, dass bspw. die Politik irreversible Entscheidungen meidet wie der Teufel das Weihwasser, eine durchaus interessante Beobachtung. Offensichtlich federt das Verfahren der Gerichthaltung die Härte der Unterscheidung von Risiko und Gefahr ab. Das Risiko falsch entschieden zu haben, wird offensichtlich dadurch domestiziert, dass man darauf verweisen kann, dass das Verfahren rechtsmäßig abgelaufen ist… bzw. das Urteil so oder so an eine Jury outgesourct wurde, die – i.S. einer Schuldzuweisung – eh nicht adressierbar ist.

    Vielleicht ist das einer der Gründe, dass man in Rechtssystemen in denen die Richter mehr im Mittelpunkt der Entscheidungen stehen, das Rechtssystem also als Fehlerquelle adressierbar ist, die Todesstrafe wahrscheinlich weniger oft findet als in solchen Systemen in denen eine Jury entscheidet…

  4. Stefan Schulz sagt:

    Das stimmt (zumindest in den USA) – die Todesstrafe kommt insbesondere dann zu Stande, wenn diejenigen, die darüber entscheiden, zur Entscheidung gezwungen werden und niemand über das Entscheidungsverfahren im Nachhinein reden darf.

    Erinnert an die Todesstrafen im Standrecht. Zwar entscheidet ein „Richter“, doch die Todesschützen sind gezwungen zu schießen und nur einer hatte die echte Kugel.

  5. Kohlhaas sagt:

    „dass Todesstraen de facto irreversibel sind, sich jedes Gericht folglich der Gefahr (Gefahr, weil das Gericht ja kaum selber wieder Ermittlungen aufnehmen wird) aussetzt, falsch entschieden zu haben!“

    gibt es strafen, die nicht irreversibel sind? kann ich jemanden, nachdem ich ihn (leider fälschlich) ausgepeitscht habe wieder ent-peitschen, jemand 15 jahre eingesperrten wieder in den zustand vor der haft zurückversetzen?
    Irreversibilität scheint mir also der Knackpunkt nicht zu sein. im gegenteil: eine strafe wäre keine strafe, wenn sie, nachdem sie geschehen ist, einfach wieder ungeschehen gemacht werden könnte. deshalb steht das recht bei der frage nach der rechtmässigkeit der todesstrafe immer vor einem viel schwerwiegenderen problem: sind strafen generell rechtens? was wäre, wenn nicht?

  6. Henrik sagt:

    Nein, das ist sicher nicht das Problem. Also für mich ist das semantische Spielerei: den Code gedanklich als Paradox zum Zirkulieren zu bringen. Kann man machen, bringt aber nichts, weil es de facto empirische Lösungen (Entparadoxierungen) dafür gibt, die entscheiden, was Recht und was Unrecht ist. Gäbe es dieses, das Recht fundierende, Paradox nicht, das aufgeklöst werden muss (durch das Setzen von Recht), müsste man ja wieder auf Vorstellungen wie Naturrecht zurückgreifen. Oder anders: über Programme werden quasi die den Code sekundierenden Werte eingeführt, die es dem System erlauben, sich empirisch an positiv gesetztem Recht zu orientieren oder vielmehr zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.

    Man kann natürlich auf die Frage, ob Recht nun selber Recht oder Unrecht ist, hinweisen, muss dann aber akzeptieren, dass man dann an der operativen Realität des Rechts vorbeiargumentiert.

    Und natürlich sind Strafen in dem Sinne nicht reversibel, dass die Zeit per se irreversibel ist. Aber darum geht es ja auch nicht. Es geht, ebenso wie in der Politik, um die Reversibilät von Entscheidungen, also um die kommunikativen Sedimente, Artefakte des Systems und nicht um Zeit an sich. Und diese sind in dem Falle, dass sich eine falsche Verurteilung als solche herausstellt, reversibel. Nun ist damit natürlich nicht die Zeit gut gemacht, die jemand im Gefägnis verbracht hat, aber das ist, wie gesagt, auch nicht der Punkt. Es geht darum, dass sich das System auf der Ebene seiner Entscheidungsprämissen mit Redundanz und Varität ausstattet. Und von dem Standpunkt aus gesehen, gibt es natürlich Reversibilität von Gerichtsentscheidungen!

    Dass das niemandem hilft, der unschuldig für was auch immer bestraft wurde, ist klar und bestreitet auch niemand. Aber wenn man die Irreversibilität der Zeit per se auf dieses Systemlevel bezieht, dann beraubt man sich soziologisch natürlich immenser Auflösemöglichkeiten… auf Ebene der Entscheidungen und Entscheidungsprämissen!

  7. Kohlhaas sagt:

    „Und natürlich sind Strafen in dem Sinne nicht reversibel, dass die Zeit per se irreversibel ist. Aber darum geht es ja auch nicht. Es geht, ebenso wie in der Politik, um die Reversibilät von Entscheidungen, also um die kommunikativen Sedimente, Artefakte des Systems und nicht um Zeit an sich. Und diese sind in dem Falle, dass sich eine falsche Verurteilung als solche herausstellt, reversibel.“

    Ja, aber wenn es nicht darum geht, eine bereits vollzogene Strafe ungeschehen zu machen, sondern ausschliesslich um die Möglichkeit, eine gefällte Entscheidung (b.z.w. ein Urteil) zurück zu nehmen oder zu revidieren, so kann auch ein bereits toter Mensch rückwirkend für unschuldig erklärt werden. Ich sehe hier kein operatives Hindernis.

  8. Stefan Schulz sagt:

    Kohlhaas, du entwickelst dich zum Troll. Das mit Revidieren auch Entschädigen gemeint ist und man ein vollstrecktes Todesurteil nicht revidieren kann, ist doch nun wirklich mal einsichtig. Den nächsten Kommentar auf diesem Niveau lasse ich nicht mehr zu.

  9. Kohlhaas sagt:

    Man müsste also DOCH (obwohl du dies abstreitest) argumentieren: die Todesstrafe kann, ist sie einmal vollzogen worden, nicht zurückgenommen werden. Die Verurteilung zu ihr allerdings schon. Damit ist dem Delinquenten jedoch nicht geholfen.

    Jede andere Strafe kann, ist sie einmal vollzogen worden, ebenso wenig zurückgenommen werden. Die Verurteilung zu ihr allerdings schon. Damit ist dem Delinquenten jedoch nicht geholfen.

    Dann stellt sich die Frage in der folgenden Form: sind Strafvollzüge (i.e. die praktische Umsetzung einer Entscheidung) – da, einmal ausgeübt, im Irrtumsfalle nicht zurücknehmbar – rechtens?

  10. Kohlhaas sagt:

    Stefan: kannst du mich denn im Falle des Falles, dass du mich zu Unrecht zum Troll verurteilst und aussperrst im Nachhinein entschädigen?

  11. Kohlhaas sagt:

    Gut. jetzt hab ich´s begriffen. Todesstrafe kann man nicht entschädigen, alle anderen Strafen aber schon.

    Deswegen sind alle anderen Strafen rechtens (man kann im Irrtumsfalle später ja einfach Geld zahlen für erlittenes Unrecht), Todestrafe aber nicht (man könnte zwar auch Geld zahlen, aber nur noch an die Nachkommen. Das wäre schade.)

  12. Henrik sagt:

    Der Punkt ist, dass man zwischen der Ebene des betroffenen Menschen und dem Rechtssystem unterscheiden muss.

    Auf der Ebene des Menschen, also wenn es um die Umwelt des Systems geht, hast du natürlich Recht. Niemand gibt dir was zurück – wie der große deutsche Philosoph Andreas Frege schon wusste. (Im Übrigen auch nicht die Zeit, die man auf sinnlose Diskussionen verwendet, die eigentlich geklärt sind).

    Auf der Ebene des Rechtssystems – und hier geht es nicht mehr um Menschen, sondern um Kommunikation, die sich nach der Unterscheidung Recht/Unrecht richtet – sind Entscheidungen revidierbar! Nur spielt hier natürlich das Objekt der Entscheidung, ihre Fremdreferenz, eine Rolle! Weniger abstrakt und nicht beabsichtigt inhuman formuliert: der Delinquent muss noch leben, damit man eine Entscheidung zurücknehmen = jemanden aus dem Gefängnis entlassen kann. Und genau in diesem Entscheidungskontext wird die Irreversibilität von Entscheidungen evident! Und genau aus diesem Grunde kann man sich auch vorstellen, dass Rechtssysteme einzelner Länder sich bzgl. der Todesstrafe zurückhalten, aus Angst Gefahr (im systemtheoretischen Sinne) zu laufen, falsche Menschen zu verurteilen. Die Todesstrafe beraubt das System seiner Fähigkeit, Entscheidungen zurückzunehmen. Die rechtlich getroffenen Entscheidungen haben hier keine Zeitbindungsfähigkeit mehr, sondern schaffen das absoluteste (!!) aller Fakten: den Tod!

    Es geht also letzten Endes nicht um die Frage, ob man jemanden für die Todesstrafe entschädigen kann. Natürlich kann man dies nicht. Es geht auch nicht um die Frage, ob man gerichtlich verfügen kann, dass jemand die Zeit, die er im Gefägnis verbracht hat, länger lebt. Aber es geht darum, dass rechtsförmig getroffene Entscheidungen oder Entscheidungsprämissen (Existenz der Todesstrafe) reversibel sind! Und das sind sie nun einmal!

    Man muss also, um es kurz und bündig zu machen, die Ebene des Menschen und die der rechtsförmigen Kommunikation auseinanderhalten, wenn man dem, was Stefan und ich hier beschrieben haben, auf die Spur kommen möchte. Wenn man das nicht tut, dann sieht man eben auch nichts. Und ob man dies nun fair findet oder nicht: anders geht es nicht! Und wenn man hier nicht differenzieren kann, dann sieht man es eben nicht!

    Und es wird noch schlimmer: der „Delinquent“ (keine glückliche Wortwahl, Kohlhaas, weil es Schuld konnotativ impliziert) muss noch nicht einmal mehr leben und trotzdem sind Entscheidungen reversibel. Man mag nur an das, von Joschka Fischer initiierte, Buch „Das Amt“ denken, bei dem es um die Schuldfrage des NS-Außenministeriums geht. Die „Menschen“, um die es geht, sind lange tot und nicht mehr belangbar oder freisprechbar! Aber die Entscheidung, ob sie als schuldig oder nicht betrachtet werden, ist nun einmal eine Frage der – in diesem Fall – politischen Kommunikation.

    An der Unterscheidung von „Mensch“ und System führt also nur ein Weg vorbei – und das ist nun einmal der der Blindheit für Unterscheidungsvermögen! Das WÄRE nicht nur schade, das I S T, im Sinne der soziologischen Analyse, schade

  13. Kohlhaas sagt:

    aber allein um diesen Punkt ging es mir doch.
    Du schreibst:

    „Und es wird noch schlimmer: der “Delinquent” (keine glückliche Wortwahl, Kohlhaas, weil es Schuld konnotativ impliziert) muss noch nicht einmal mehr leben und trotzdem sind Entscheidungen reversibel. “

    Und ich schrieb:
    „Ja, aber wenn es nicht darum geht, eine bereits vollzogene Strafe ungeschehen zu machen, sondern ausschliesslich um die Möglichkeit, eine gefällte Entscheidung (b.z.w. ein Urteil) zurück zu nehmen oder zu revidieren, so kann auch ein bereits toter Mensch rückwirkend für unschuldig erklärt werden. Ich sehe hier kein operatives Hindernis (auf der systemischen Ebene rechtsförmiger Kommunikation).“

    Grüße aus der Blindheit
    Kohlhaas

  14. Kohlhaas sagt:

    „der “Delinquent” (keine glückliche Wortwahl, Kohlhaas, weil es Schuld konnotativ impliziert) “

    achja, das ist übrigens auch Käse:

    „Der Begriff kennzeichnet eine Person als Ausführende eines strafrechtlich verfolgbaren Delikts im weitesten Sinn, je nach Kontext können also auch Begeher einer Ordnungswidrigkeit, in Deutschland keine Straftat im eigentlichen Sinn, oder sonst in irgendeiner Weise strafrechtlich auffällig gewordene Personen (vom verwarnten Schwarzfahrer bis zum verurteilten Schwerverbrecher) eingeschlossen sein. Dabei hebt der Begriff in der Regel eher auf soziologische als auf juristische Aspekte der Kriminalität (vgl. Delinquenz) ab.“ (wikipedia „Delinquenz“)

  15. Henrik sagt:

    1) Delinquent ist in dem Kontext, in dem man die Frage diskutiert, ob jemand nachträglich für unschuldig erklärt werden kann, wenn sich herausstellt, dass er es ist, deswegen eine unglücklich Wortwahl, weil das Wort, wie du ja selber (mit Bezug auf Wikipedia!!!) schreibst, Schuld impliziert. Die beabsichtigte Neutralität des Arguments sabotiert sich hier begrifflich selber durch den Term. Soviel zum Käse…

    2) Es geht natürlich nicht um Kompensierbarkeit. Kompensierbarkeit ist die Konsequenz aus der Möglichkeit, Entscheidungen auf Ebene von Organisationen zu ändern, ist also der Entscheidung, ein Urteil zu annullieren, nachgelagert. Kompensierbarkeit ist in diesem Sinne also keine primäre Operation von Gerichten und dergleichen mehr, sondern lediglich eine wiederum eigene Entscheidung (wird kompensiert? wie viel wird kompensiert?), die als Entscheidungsprämisse die Annullierung des Urteils erfordert. Es geht hier also um ein logisch nachgelagertes Verhältnis.

    3) Offensichtlich ist der „Spannungsbogen“ meines Arguments nicht ganz rübergekommen. Deswegen nochmal: Ausgangspunkt war ja die Frage, ob man sagen kann, dass Gerichte sich scheuen, die Todesstrafe zu verhängen, weil diese dadurch soziologisch Gefahr laufen, eine falsche Entscheidung zu treffen. Auf der Ebene (!!) kann man also durchaus davon ausgehen, dass man empirisch beobachten kann, dass diese Gefahr a) wahrgenommen wird und b) dazu führt, dass sich auch in den USA das Recht immer mehr dagegen sträubt, diese Strafe zu verhängen. Und natürlich kann man auch Entscheidungen revidieren, die auch Tote betreffen! Aber dies ist natürlich ein schwaches Argument, wenn man über die Todesstrafe entscheidet. Zumal hier die rechtlichen Implikationen bedenken müsste: was passiert, wenn die Sprechung von Recht sich selber strafbar macht?

    4) Noch ein letztes Mal zu der Zeit. Also wirklich ein letztes Mal, da das Argument einigen abzugehen scheint: es geht nicht darum, dass die Zeit der Welt, wenn man so will, zurückerstattet werden kann. Das ist so phantastisch, dass man da gar keine argumentativen Anstrengungen mehr drauf verwenden muss. Es geht darum, dass im Rahmen der rekursiven, rechtsförmigen Kommunikation, Entscheidungen über Recht und Unrecht von Gerichten, also von Organisationen, revidiert werden können! Das hat nichts (!!!) mit der Weltzeit zu tun! M. a. W.: Systeme, wie Gerichte, operieren natürlich gleichzeitig mit der Welt, müssen ihre eigene Zeit aber im Bezug auf die Welt asymmetrisieren, müssen sich also von einer (un-)möglichen Zeitentsprechung mit der Umwelt operativ lösen und eigene „Zeit“ generieren. Und damit wird ermöglicht, dass Organisationen bspw. Entscheidungen zurücknehmen können, ohne dabei an dem Widerspruch zu verenden, dass sie Zeit nicht umdrehen können. Die Entscheidung kann zurückgenommen und die gebundene Kontingenz der Zukunft wieder freigegeben werden. Es geht also nicht um die Frage, ob Zeit generell zurückgenommen werden kann, sondern nur um die Bindung der Zeit durch Rechtsentscheidungen!

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