Martin Oettings Vortrag „Willkommen im Rattenkäfig“ hat mir nicht gefallen. Weder inhaltlich und erzähltechnisch. Ich hätte meiner gefassten Ansicht treu bleiben und mir keinen weiteren Vortrag übers Internet angucken sollen. Doch da sowohl Herr Wirres als auch K. Kusanowsky das Video des Vortrags empfehlenswert fanden, sah ich es mir trotzdem an.
Bevor ich mich auf den Inhalt beziehe kurz etwas zur Vortragsweise. Erstens: Ich finde es nicht gut, wenn Leute glauben, sie können frei sprechen, sich aber stets in Redundanzschleifen verfangen, aus denen sie dann jeweils drei Minuten pro Aussage nicht hinausfinden. Zweitens: Ein Argument mit einem Satz abzutun und die darauf folgenden 25 Sätze mit (weil selektiven) anschaulichen Beispielen zu füllen, ist derart nah am mariobartschen „Kennste, kennste..?“-Prinzip angelehnt, dass sich die Unangebrachtheit der Vortragsweise bis auf den Inhalt vererbt.
Inhaltlich (da erlaube ich mir auch selektiv vorzugehen) treten vier Dinge hervor, die unbedingt kritisiert werden müssen. Das sind: (zweimal) der Begriff „massenmedialer Paradigmenwechsel“, die Metapher des Rattenkäfigs und die Ansichten zur Arbeitsweise von Politik und Journalismus/PR.
1. Zum massenmedialen Paradigmenwechsel. Oettings Argument: Bislang war die Distribution von Medieninhalten so teuer, dass vorher selegiert werden musste, was in die Distributionskanäle eingespeist wird. Heute ist die Verbreitungsinfrastruktur aber mit dem Internet gegeben, daher kann jeder einfach produzieren und senden. Es muss nicht mehr vor der Distribution gefiltert werden, sondern nach ihr – es sind keine filternden journalistischen Redaktionen/Organisationen mehr erforderlich.
Das kann man natürlich so sehen. Allerdings gehört zu so einer Ansicht eine gehörige Portion Reduktionismus, die der sozialen Wirklichkeit eventuell nicht gerecht wird. Der kategoriale Fehler besteht (meiner Ansicht nach) darin, anzunehmen, dass die kostspieligen Distributionskanäle der Vergangenheit das einzige Strukturmoment sind, das zum „alten“ Modell der redaktionellen Massenmedien führte.
Dem kann auf vielen Ebenen widersprochen werden. Man könnte nämlich ebenso annehmen, dass eine Zeitung nicht deswegen zu ihrem Phänotyp gekommen ist, weil es aus Distributionsgründen sinnvoll war, viel Text zu unterschiedlichen Themen auf wenig Papier zu pressen und gebündelt auszuliefern. Sondern, dass das primäre Strukturmerkmal einer Zeitung darin bestand, dass sich spezialisierte Zentren damit befassten, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, weil es notwendig war, dass sich die Gesellschaft in ihrer räumlichen Entgrenzung ab dem 14. Jahrhundert, über alle regionalen und sozialen Unterschiede hinweg, auf eine Realitätsversion einigte. Diese gemeinsam geteilte Realitätsgrundlage wurde durch Zeitungen erzeugt.
Wenn man Letzteres als Ausgangsproblem formuliert, kommt man zu einer interessanten Feststellung: Journalistische Redaktionen haben die Welt niemals gefiltert, sondern konstruiert. Die (Motiv-)Unterstellung, die darin besteht anzunehmen, dass es hinter der journalistisch gefilterten Welt, wie sie in den Zeitungen steht, eine gesellschaftlich folgenreiche wirkliche Welt gibt, entfällt. Streng genommen liest man Zeitung nicht um sich zu informieren, was in der Welt passiert. Man liest Zeitung um sich darüber zu informieren, worüber andere sich informieren, wenn sie in der Zeitung lesen, was in der Welt passiert. Und diese Funktion wird durch das Internet nicht ersetzt.
Wenn wir uns, in diesem Modus, über die Welt informieren wollen, besuchen wir die redaktionell betreuten Medienangebote. Man beobachte nur, wie viel Infos in Weblogs aus den klassischen Medien stammen und wie sehr sich alle freuen, wenn wichtige Themen endlich in den Medien angekommen sind und dort auf den Webseiten auftauchen. Das Durchschnittsweblog heute hat so viele Leser wie die Flyer, die seit Jahrzehnten in Uni-Mensen ausgelegt werden. Zeitungen hatten damals sechsstellige Auflagen und heute Millionen Webbesucher. Ja, die technischen Grundlagen haben sich sehr gewandelt, aber das Prinzip ist das gleiche. (Nicht mal die Finanzierungsfrage hat bis jetzt daran gerüttelt.) (Dieses Argument wird übrigens durch die quasi-Pleite der „Frankfurter Rundschau“ und den Erfolg der „Huffington Post“ – oder andere Beispiele – gestützt. Es geht um Prinzipien, nicht konkrete Institutionen.)
2. Martin Oetting meint, die Politiker, die „da in Berlin in einem Raum“ sitzen und über Themen reden und abstimmen, machen im Grunde das gleiche wie wir, wenn wir auf Facebook über Dinge diskutieren und per „Like-Button“ abstimmen. Auch hier liegt vielleicht ein weiterer Kategorienfehler vor (den er sich wohl bei Gunter Dueck ausgeliehen hat), denn in Berlin findet weniger politische Willensbildung als rechtsstaatliche Legitimationserzeugung statt. Wie oben lassen sich auch hier Strukturmerkmale aufzeigen, die sich in ihren Prinzipien durch technologischen Fortschritt kaum aufheben lassen.
(1) Die Politik wird sich (hoffentlich) weiterhin in Regierung und Opposition unterscheiden. Zur Befriedung aller, werden die beiden den Kampf austragen, der ansonsten die gesamte Gesellschaft erfassen würde.
(2) Die Politik wird (hoffentlich) weiterhin zwischen politischen Ämtern und politischen Personen unterscheiden. Denn ansonsten könnten wir uns nicht einzelner Politiker entledigen, ohne das politische Prinzip dahinter ständig mit austauschen zu müssen.
(3) Die Politik wird sich (hoffentlich) weiterhin allein auf Recht als Rechtfertigung beziehen. Wir wären ansonsten kein Rechtsstaat mehr und müssten die Religion restaurieren oder eine gute Moral erfinden.
Alle drei Prinzipien sprechen gegen die Utopie der spontanen und verbindlichen politischen Willensfestlegung durch jedermann, jederzeit.
3. M. Oetting meint, PRler und Journalisten betrachten im Internetzeitalter die Gesellschaft nicht mehr von außen, sondern stecken mitten in ihr drin. Asymmetrien und Hierarchien zwischen Produzenten/Konsumenten, Schreibern/Lesern, Sendern/Empfängern wurden in omnipräsenter Wechselseitigkeit aufgehoben.
Das Problem an dieser Sichtweise ist, dass sie die Vergangenheit verklärt. Zeitungen sind an solch einem Übermachts-Habitus bereits gestorben, bevor man die Schuld dem Internet in die Schuhe schieben konnte. Und Zeitungen blühen trotz so eines Übermachts-Habitus auf, gerade weil sie das Internet strategisch und klug nutzen (siehe Spiegel Online). Auch ohne Internet kennen Massenmedien Konkurrenz, die ihnen Kontrollwille und allzu wildes Agendamanagment verbietet. Und nachhaltiger Schaden lässt sich durch „Bildblog für alle“ auch nicht wirklich feststellen. Den Skeptizismus gegenüber den einzelnen Angeboten der Massenmedien gab es schon immer (hervorgerufen durch die Massenmedien selbst) – nur jetzt kann man ab und zu mal ordentlich über die Redaktionen lachen und immer wieder neu feststellen, dass dort auch nur Menschen arbeiten.
Für die PRler gilt das vielleicht sogar noch mehr. Konnten sie ohne Internethilfe fast nur raten, welche Wirkung ihre Kampagnen erzielten, können sie die Resonanz heute häufig live mitbeobachten. (Und vielleicht sind sie erschrocken über das, was sie da sehen, nur weil sie es plötzlich sehen.)
Die Bevölkerung ist in einer Demokratie den Journalismus- oder PR-Firmen nicht hilflos ausgeliefert. Diese Firmen sind aber immer ihrem unbestimmbaren Publikum ausgeliefert. Mit oder ohne Internet. Früher konnten sie ihr Publikum nicht sehen, heute können sie es sehen, verstehen es aber trotzdem nicht. Die Veränderung ist minimal.
4. M. Oetting redet vom massenmedialen Paradigmenwechsel. Ich finde diesen Begriff auch sehr schön. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass das Internet inzwischen 20 Jahre alt ist und mein Vater auch weiterhin nicht daran denkt, sich einen Computer anzuschaffen und trotzdem weitaus besser über die Welt und seine Familie informiert ist, als viele „digital natives“ über ihre Welt und ihre Familien informiert sind, muss ich sagen, ist der Begriff des Paradigmenwechsels vielleicht nicht ganz passend.
Schließlich ändert sich alles mit der Zeit und ein „Paradigmenwechsel“ würde doch implizieren, dass sich etwas plötzlich und für die Betroffenen verpflichtend ändert. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Nicht mal bei mir. Ich wollte mich bereits bei Facebook anmelden, als man noch eine verifizierte Uni-E-Mailadresse in Amerika benötigte und lese meine Sonntagszeitung trotzdem gedruckt auf Papier und per Abo bezahlt. Und die Werbung darin werde ich ignorieren, wie ich es von meiner Oma gelernt habe.
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Wenn ich einen Vortrag zu diesen Themen vor diesem Publikum zu halten hätte, würde er auf folgende Pointen hinauslaufen: 1. Ja, die Zeiten ändern sich gerade und bringen Herausforderungen mit sich. Um sie zu meistern, können bestehende Journalismus- und PR-Firmen jedoch auf einen entscheidenden Vorteil zurückgreifen: Sie sind bereits spezialisiert & organisiert. 2. Gerade jetzt, da die Nutzung der Distributionswege so billig wird, spielt Quantität beinah keine Rolle mehr. Wer sein Renommee für ein paar Klicks hergibt (siehe Stern), ist selbst schuld. Nach 20 Jahren Internet stellt sich zudem die interessante Frage: Warum sollten Zeitungen und besonders Zeitschriften überhaupt eine Webseite mit kostenlosen Inhalten haben? Das, was in gut aufgestellten Zeitungen/Zeitschriften steht, findet man im offenen Internet nicht. Aber gerade der billige Distributionsweg lässt sich ausbeuten, mit E-Paper und App-Angeboten, die überzeugen. (Das muss hier allerdings nicht hochnäsig klug argumentiert werden, weil sich genau diese Entwicklung bereits beobachten lässt. Eigentlich haben Journalismus- und PR-Firmen schon viel mehr vom Internet verstanden, als der passionierte Normalo-User es einsieht.)
(Bild: MyEyeSees)
Nachtrag: Ein passenderer Titel wäre wohl „Strukturwandel“ gewesen…
Nachtrag II (06. Juni): Martin Oettings Kritikkritik
[…] von Stefan Schulz zustimmen kann, aber dennoch möchte ich meinen, dass er in dem Artikel „Paradigmenwandel“ als ausführlichen Kommentar zu einem Posting von Postdramatiker zuviel des Guten getan hat, […]
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