Zuletzt gab es hier auf der Seite eine „Tollerei“-Inflation. In die Kategorie „Tollerei“ werden all die Texte einsortiert, die einen Anspruch an gute Soziologie, mal mehr, mal weniger, gegen den Anspruch einer irgendwie ausfallenden Praxistauglichkeit eintauschen. Der folgende Text fällt beinah komplett unter derartige „Lebenshilfe“ und betrifft zudem das mir eigentlich völlig unbekannte „Gender“-Thema (ich gehe aber kein großes Risiko ein und bleibe jeder generalisierenden Referenz auf Gesellschaft fern).
Es ist eine moderne Selbstverständlichkeit, im Beruf rollenkonformes Verhalten zu zeigen, auch wenn man sich auf persönlicher Ebene unwohl, untauglich oder belästigt fühlt. Organisationen erwarten Loyalität auf Kosten persönlicher Lust und Laune und bezahlen dafür mit Gehalt und Karrieren. Doch hin und wieder wird ein schmaler Grat überschritten. Etwa, wenn man als Supermarktpersonal von Kunden angeschrien wird, wenn man im Amtszimmer vom Antragssteller bedroht wird oder wenn man als junge Unternehmensmitarbeiterin im quasi-geselligen Kundentermin angebaggert wird. Es soll im Folgenden um den letzteren Fall gehen.
Es kommt vor, dass große Unternehmen Geschäfte außerhalb der üblichen Geschäftsräume und –zeiten anberaumen. Das ist sinnvoll um die Einzigartigkeit des Kunden, das Firmenengagement und die Besonderheit des Geschäftes herauszustellen. Man trifft sich dann nicht 10 Uhr mittags im Konferenzraum T7-14, sondern abends in der Stadionloge, während unten Bon Jovi spielt. Es wird absichtlich Geselligkeit hergestellt, gerade wenn nach Abschluss des Geschäftes noch gefeiert wird, die den einen oder anderen Beteiligten überfordert.
Es kann dann nämlich vorkommen, dass der Kunde einer jungen Angestellten des Unternehmens beim Sekt erzählt, dass er ihr Parfüm sehr ansprechend findet und die Angestellte sich aus dieser Situation nicht zurückziehen kann, obwohl sie sich unwohl und verunsichert fühlt, es aber (noch) nicht gerechtfertigt wäre, die gesamte Situation zu zerstören. Ein direktes Ansprechen und Abwehren der Anmache wäre irgendwie unangebracht. Man weiß ja nicht, ob es nicht doch nur ein zu plumper Näherungsversuch war, der eventuell viel harmloser gemeint ist, als er verstanden wird.
Was also tun? Wie kann man eine Interaktion konstruktiv sabotieren, ohne dass auf der falschen Seite Rechtfertigungspflichten provoziert und Höflichkeitsregeln verletzt werden? Die Interaktionssoziologie hält drei Tipps parat, die alle so ineinandergreifen, dass sie eigentlich nur analytisch getrennt werden können. Das soll hier kurz geschehen. Ausgangspunkt ist die fiktive Anmache: „Ihr Parfüm gefällt mir außerordentlich, bleiben sie doch etwas in meiner Nähe.“
Strategie #1. Fremdachtung mit Selbstachtung begegnen.
Interaktionen können, sofern das Thema keinen Konflikt provoziert, viele Asymmetrien verkraften. Ein reicher Wirtschaftsmann, ein prominenter Sportler und ein angesehener Wissenschaftler können ohne Probleme interagieren. Selbst wenn der reiche Wirtschaftsmann einen ihm hierarchisch Untergebenen bei sich hat und nach einer gewissen Zeit noch ein mächtiger Politiker hinzukommt, der den Anfang des Gespräches verpasst hat, gibt es noch keinen Grund, weshalb diese Interaktion unter inzwischen fünf sehr unterschiedlichen Menschen nicht gelingen sollte. Soziale, zeitliche, sachliche Asymmetrien können wild kombiniert und, falls nötig, kompensiert werden.
Dieses Aushalten der unterschiedlichen Asymmetrien funktioniert, weil im Tausch (exakt) eine Asymmetrie unmöglich auszuhalten ist: Achtung/Verachtung. Menschen können sich auf unterschiedliche Weise ehren und bewundern, sie müssen sich jedoch in Interaktion auf gleiche Weise achten. Das Achtungserweisen erfordert, damit die Offerten fruchten, Symmetrie. Achtung löst alle oben beispielhaft genannten organisatorischen (Hierarchien) und gesellschaftlichen (Prominenz, Reichtum, Reputation, Macht, …) Bezüge auf Rollen ab und setzt nur an den in Interaktion verstrickten Personen an.
Wie immer gibt es zwei Extreme. Entweder das Gespräch läuft im Achtungsmodus oder im Missachtungsmodus. Ein Chef hört aufmerksam zu und versucht Argumente seines Untergebenen zu verstehen, wie es der Untergebene ihm gegenüber macht, oder das Gespräch kühlt aus und wird unerträglich. Ein Chef, der in Interaktion seine Rolle nicht verlässt, achtet die Person seines Untergebenen nicht, sondern adressiert ihn als jedermann, der seinerseits, als Antwort, auch den Chef nur in seiner Rolle adressiert. Es folgt Dienst nach Vorschrift. Viele Möglichkeiten, die die Interaktionssituation im Angebot hat, bleiben ungenutzt.
In diesem Sinne lässt sich eine Achtungsasymmetrie absichtlich erzeugen, um eine Interaktion wirkungsvoll abzukühlen. Im Beispielsatz werden alle Rollenbezüge gekappt und das Gegenüber wird als individuelle Person adressiert: Bleiben sie bitte bei mir, weil mir ihr Parfüm gefällt. Die Offerte beruht gänzlich auf Fremdachtung, der man dann am besten eben nicht symmetrisch, sondern mit Selbstachtung begegnet. „Danke für das Kompliment, ich werde schauen, was ich tun kann. Vielleicht finde ich später noch Zeit für sie.“ Man hat aus unbestimmt gelassenen (organisatorischen) Gründen anderes zu tun, schließt aber aus Höflichkeit nichts aus.
Strategie #2. Auf Rollen verweisen, Persönliches ignorieren.
Die Achtungssymmetrie ist so wichtig, weil sie die oben beschriebenen möglichen Asymmetrien nicht ablöst, sondern nur überlagert. Die Rollenbezüge werden in der Interaktion weitgehend ignoriert aber nicht vergessen. Aus taktischen Gründen kann man zu geeigneten Zeitpunkten an sie erinnern. Auf die Frage nach persönlicher Nähe aufgrund einer höchstpersönlichen Eigenschaft, die auf die Person generalisiert wird, lässt sich also wie folgt antworten: „Gefällt ihnen mein Parfüm? Ich habe es extra für den heutigen Abend gekauft. (Kleiner humoriger Zwischenwurf) Das Bürobudget hilft mir bei solchen Käufen. Ich kann ihnen den Namen aufschreiben, vielleicht wäre es ein passendes Geschenk für ihre Frau.“ Die persönliche Offerte wird durch Verweise auf Rollen beantwortet: Ehemann, engagierte Büroangestellte, Käuferin/Konsumentin. Man tut einfach so, als hätte man die Signale auf persönliche Ebene nicht registriert. Solange man ihnen nicht mit Empörung widerspricht, muss man sich für nichts rechtfertigen. Sofern es nicht schon als Unhöflichkeit riskant wird, kann man auch direkt die Rolle des Kunden ansprechen: „Für unsere Kunden tun wir vieles, auch das richtige Parfüm kaufen.“
Strategie #3. Sachdimension überblenden, Sozialdimension ausblenden.
Wie oben beschrieben, sind Komplimente beinah immer gleich aufgebaut. Es wird ein Merkmal gesucht, das sich nachvollziehbar und anschaulich isolieren lässt und diese wird dann auf die gesamte Person generalisiert. Dass ein Kompliment stets als Vehikel ein individuelles Merkmal benötigt, das auf der Sachebene liegt, um von ihm aus eine Brücke zur Sozialebene zu bauen, kann man entsprechend nutzen, in dem man diesen Brückenschlag ignoriert und nur an die Sachinformation anschließt. Hier also das Parfüm. Man muss nicht aus der Interaktion flüchten, sondern kann in der Interaktion flüchten, in dem man mit einer Rückfrage das Merkmal überbetont. Das gelingt besser, wenn das Kompliment zurückhaltend ist, und nicht direkt schon auf physische Merkmale abzielt („schöne Augen“, „Haare offen“), sondern auf Kleidung und Accessoires bezogen ist. Man greift sie dann als Thema auf und blockiert damit andere Interaktionsthemen. „Kennen sie sich mit Parfüms aus? Dieses gefällt mir auch sehr gut, ich musste aber sehr lange danach suchen.“
Ziel. Antwort erzwingen, um Revision zuzulassen.
Alle drei Strategien zusammengenommen würden dann zu folgenden beispielhaften Erwiderungen führen: „Danke für das Kompliment. (Selbstachtung) Eventuell finde ich später noch Zeit für sie. (Rollenbetonung) Dieser Abend hält noch Aufgaben für mich bereit. (Antwort auf der Sachebene) Wenn sie möchten, schreibe ich ihnen den Namen des Parfüms auf.“
Man darf sich nicht davor scheuen, statt zaghaft und vorsichtig, offensiv und ausschweifend auf unpassend empfundene Komplimente zu reagieren. Denn wichtig ist, denn Komplimentegeber zu einer weiteren Erwiderung zu zwingen. Denn erst in dieser lädt er alle Rechtfertigungspflichten auf sich. Er muss nun entweder auf der sachlichen, unpersönlichen, Selbstachtung darstellenden Ebene antworten, und somit indirekt behaupten natürlich genau richtig verstanden worden zu sein oder er ist gezwungen, seine Offerte so verstärkt zu wiederholen, dass das Missverständnis, dass er in der Antwort zu erkennen glaubt, nicht noch einmal vorkommt. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit fällt solch eine zweite Offerte so aus, dass man sich (dann zu Recht) darüber empören darf.
Ein Komplimentebewältigungsmechanismus ist aber auch: Komplimente mit Selbstachtung annehmen und für die Danksagung kurz die eigene Rolle verlassen um sie dann pflichtbewusst wieder aufzunehmen. Denn etwa 95% der Anmachen, unter denen junge Frauen (und ihr weibliches soziales Umfeld, das an der Bewältigung solcher Situationen beteiligt wird) leiden, sind plumpe Versuche verzweifelter Männer, die ihre Unsicherheit mit stümperhafter Waghalsigkeit überdecken.
(Bild: jenjenpr)
Guten Tag, Herr Schulz,
das ist ein interessanter Artikel, denn gerade gestern hatte ich im Rahmen eines Gerichtstermins (als Zuschauer) eine Begegnung mit einem Herrn, der sich ziemlich gockelhaft benahm, der aber ein Kunde werden könnte.
Als Frau ist es tatsächlich schwierig, ein „Anbaggern“ so charmant abzuwehren, dass man nicht die Gefühle des Gesprächspartners verletzt. Ich hoffe, ich kann mir Ihre Tipps in den betreffenden Situationen merken. :-)
Doch mir sind an Ihrem Artikel auch zwei Sachen aufgefallen, die ich verbesserungswürdig finde:
1. Die Sätze sind (für meinen Geschmack) zu kompliziert.
2. Sie haben „Sie“ und „Ihr“ auch als höfliche persönliche Anrede durchgängig klein geschrieben. Wenn man das klein schreibt, erwartet der Leser, dass es keine Anrede ist, sondern eine dritte Person betrifft. Dies ist beim Lesen verwirrend.
Herzliche Grüße
Michaela Albrecht