In regelmäßigen Abständen gibt es von der Bundeskanzlerin einen Video-Podcast, der, immer ein Thema behandelnd, als ihr direktes Sprachrohr dient. Manchmal redet nur sie, manchmal werden Interviews abgelesen und manchmal überlässt sie den Kanal auch Anderen. Für die kommende Woche steht ein Halbjahrwechsel bevor. Diese bringen zuweilen große Änderungen und Überraschungen in die Politik. Eine Überraschung könnte sein: Eine Kanzlerlin-Videobotschaft mit umgekehrten Vorzeichen. Ich helfe bei der Formulierung.
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„Liebe Mitbürger, liebe Fussballsportfreunde, liebe Sparer,
vielleicht haben auch sie es in den letzten Monaten aus der Nachrichtenfachpresse erfahren: Wir haben in Deutschland kein gültiges Wahlrecht mehr. Wir verstehen an dieser Stelle viele der vorgetragenen Sorgen, auch die Schärfe der Vorwürfe können wir durchaus akzeptieren. Als eifrige Demokraten nutzen sie die Möglichkeiten und haben das Recht, sich über einen derartigen Zustand zu beschweren.
Doch es lohnt sich ein zweiter Blick. Wir sollten einmal gemeinsam nachdenken, wie es wäre ohne Wahlen. Ohne Wahlen wäre niemand in dem Amt, aus dem Sie ihn gerne verjagen würden. Ohne Wahlen gäbe es niemanden, der sich durch Aktionismus im Amt profilieren müsste. Ohne Wahlen wären die ersten vier Tageszeitungsseiten frei für die wirklich wichtigen und interessanten Meldungen zum Zeitgeschehen.
Ohne Wahlen gäbe es keine Berufspolitik und ohne Berufspolitiker würde uns nichts fehlen. Oder? Es gab mal eine Zeit, in der hatte es Sinn, Menschen Politik machen zu lassen. Es musste gestritten werden, wie Friedenssicherung und Wohlfahrt gelingen könnten und gelingen sollten. Doch diese Zeiten sind längst vergangen. Und die Ziele sind längst erreicht. Der politische Streit ist unnötig geworden.
Haben sie nicht den Eindruck, dass die Diskussionen der letzten Jahre alle etwas merkwürdig waren? Spätestens seit 1994 fehlt es in Deutschland an der Notwendigkeit für parlamentarische Vernunft (Staatsaufgaben). Seitdem verstricken wir uns in partikularistischen Rationalitäten (Lobbyistenanliegen).
Die Rente war sicher, die Vermögenden ordentlich besteuert, den Armen wurde geholfen, Deutschland nahm an keinem Krieg teil. Und nun? Aus Angst vor Beschäftigungslosigkeit haben wir uns ins Geschäft quatschen lassen und befassen uns beinah ausschließlich mit der Ausbalancierung von Privatinteressen. Ein paar Rüstungsausgaben, etwas Hotelkostensteueranpassung. Noch ein bisschen Privatrentenanreiz und eine kleine Energiesparsanierungspflicht. Keiner Branche soll es schlechter gehen als einer anderen. Das ist unsere Aufgabe.
Der historische Treibstoff des demokratischen Politikmotors ist aufgebraucht. Das Antrieb stiftende Ziel wurde erreicht. Wir haben die Entwicklungshürde zu einem funktionierenden Gemeinwohl erfolgreich genommen.
Alles, was jetzt noch zum Streiten bliebe, fällt unter die Formel Gerechtigkeit und damit in die Domäne des Rechts. Und wir haben ein funktionierendes Recht. Für die individuellen Zivilrechtssorgen und für das staatstragende Verfassungsrecht haben wir etablierte Institutionen und qualifiziertes Personal. Auch die Staatsverwaltung ist hervorragend in Takt.
Alles, was wir nicht brauchen, sind neue Gesetze, die nur verabschiedet werden, weil sie mit kollektiver Verbindlichkeit verabschiedet werden können. Ich mache daher an dieser Stelle zwei Vorschläge.
1. Wir transformieren das strukturelle Gemeinwohl in ein individuelles. Dazu sind nur zwei letzte Gesetze notwendig. Erstens müssen wir den Atomkraftausstieg, zivil und militärisch, ins Grundgesetz aufnehmen. Die Gefahren sind zu groß, alles was nicht kaputtgehen darf, darf nicht sein. Zweitens müssen wir eine finanzielle Mindestsicherung von 850 Euro pro Monat und Kopf einführen, damit kein kreativer/kluger/engagierter Mensch mehr durch Existenznot geistig blockiert wird. (Kluge Wirtschaftswissenschaftler müssen ausrechnen, wie hoch die konsumorientierte Staatsrefinanzierungssteuer, vormals Mehrwertsteuer, ausfallen soll. Sie wird wohl zwischen 30% und 45% liegen und die Kosten für alle Konsumgüter außer Lebensmittel belasten.)
2. Wir lösen den Bundestag zum 31. Dezember 2011 auf und wählen den neuen erst im November 2021, sodass er zum 1. Januar 2022 die Arbeit aufnehmen kann, um zu prüfen, ob es etwas zu behandeln gibt.
Die Bundesregierung bleibt geschäftsführend im Amt. Ihre Aufgabe ist, monatlich zu tagen und Entscheidungen per Mehrheitsentscheid zu treffen, die nicht in den Institutionen der Staatsverwaltungen getroffen werden konnten. Ihre Aufgabe ist ferner, den Kontakt zur EU zu halten. Sofern EU-Richtlinien der nationalen Anpassung bedürfen, muss innerhalb einer Sitzung debattiert und entschieden werden. Ausfallende Regierungsmitglieder werden aus der Staatsverwaltung, über die Beamtenlaufbahn in den Ministerien, rekrutiert.“
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Der obige Text ist weder meine private Meinung, noch fußt er auf soziologischen Erkenntnissen. Er dreht einfach nur um, was man derzeit mit der Politik erlebt: statt für Fotos posierende Zeigepolitiker, keine Politiker. Statt endloser politischer Debatte, zeitnahe Verfassungsgerichtsentscheidung. Statt Zeitungen voller Plagiatsjagdtexte, sachliche Lagebeschreibungen. Statt zögernder Regierungsstammelei, Alternativen vorschlagende Staatsverwaltung in den Ministerien. Statt puristisches Behaupten von Tatkraft und Gestaltungswille, enthusiastische Einsicht in die eigene Belanglosigkeit. Statt Gerede über Möglichkeiten, Ankündigung von Tatsachen. Und die Vermutung dahinter ist, dass sich am gegenwärtigen Lauf der Dinge kaum etwas ändern würde, außer dass mehr Ruhe wäre. Aber wer weiß das schon? Ich auch nicht.
Belgien beweist ja, dass es auch ohne Regierung geht. Wir haben inzwischen ein so hohes Regulierungsniveau erreicht, dass die Verwaltung praktisch autark den Laden am Laufen halten kann. Folglich wäre eine Regierung allenfalls noch für große Veränderungen notwendig, wenn die bestehenden Gesetze und Verordnungen für die Verwaltung nicht mehr ausreichen.
Belgien ist Regierungslosigkeitsweltmeister. Deutschland sollte in diesen Wettbewerb eintreten. ;-)