Hard cases make bad laws

Über die Wohlfahrtskosten und -gewinne von Absicherungen

Ein Übermaß an Absicherungen – nicht nur gegen Finanztsunamis – schmälert auf Dauer den Wohlstand, ließ Alan Greenspan, einstiger Fed-Vorsitzender der US-Notenbank Federal Reserve, am Mittwoch im Kommentar der Financial Times Deutschland verlauten. Dass sich prominente Wirtschaftswissenschaftler über eine zu hohe staatliche Regulierung der Märkte beklagen, wäre im Osten nichts Neues. Aber geht sein Plädoyer nicht auch über die gebetsmühlenartige Bürokratiekritik liberaler Lager hinaus? Ja und Nein lässt sich antworten.

Too-big-to-fail-Rhetorik als eine Variante von Nulltoleranzpolitik

Jedes Kind, das beim Spielen einmal eine Fensterscheibe zerbrochen hat, weiß um die nachfolgend hohen Kontrollkosten gegen den bösen Einzel(unglücks-)fall: Spielen ohne Aufsicht ist nach nur einem Fehltritt tabu! Die kriminalpräventive Konsequenz lautet: Eltern haften für Ihre Kinder. Im öffentlichen Raum stellt diese Nulltoleranzpolitik eine unbeliebte erzieherische Maßnahme für den befürchteten Selbstverstärkungseffekt von Normabweichungen dar: Dass nämlich ein eingeschlagenes Fenster, tendenziell zur Nachahmung anregt und auf diese Weise zur Verwahrlosung ganzer Straßen oder Stadtteile führen kann.

Wenn man nun von dieser „Broken Windows-Theorie“ eine Analogie zum aktuellen Umgang der Politik mit der Finanzkrise zieht, verfällt gerät in den Blick, wie die „too-big-to-fail“-Rhetorik als eine Variante der ansonsten eher als Anti-Drogen-Kampagne bekannte Nulltoleranzpolitik daherkommt. Strukturell entspricht diese Form von Politik dem Konzept der Wohlfahrtsinflation, d.h. dass Politiker bei ihrer Suche nach Wählermacht dazu neigen, einfach alles, das nicht niet- und nagelsicher ist – sei es nun Verkehrssicherheit, Energiesicherheit oder Bildungssicherheit – als wohlfahrtsrelevant bzw. aktuell als too-big-to-fail politisiert werden, und damit letztlich (wenn nicht allein rechtlich) auch finanziell als absicherungsbedürftig angesehen werden.

Hohe Kontrollkosten schützen nicht vor Kontrollverlust

Über aggregierte Kriminalitätsraten mag man sich streiten. Im statistischen Vergleich werden Ereignisse wie Krisen, Kriege und Katastrophen eher als unwahrscheinlich prognostiziert. Wer sich absichern will, muss einen Puffer ungenutzter Ressourcen aufbauen, die nicht zur Herstellung von Waren oder Dienstleistungen verwendet werden. Sie kommen nur dann zum Einsatz, wenn und falls der Krisenfall eintritt, so Greenspan. Krisenfälle stellen zu Englisch hard cases dar. Der bekannte Zusatz lautet hard cases make bad laws. Diese Erfahrung machten Common Law Richter bereits Ende des 18. Jahrhunderts. Auch heute noch wird die normative Stilisierung von Verhaltenserwartungen am Einzelfall entschieden und daraus ableitend generalisiert. Positives Recht ist in westlichen Demokratien jedoch politisch entscheidbar und damit änderbar.

Puffer zu finanzieren ist eine der wichtigsten Entscheidungen, die eine Gesellschaft treffen kann, sei es durch bewusste Politik oder standardmäßig, schreibt der ehemalige Notenbank-Chef weiter. Das in den Massenmedien kommunizierte öffentlich-politische Interesse an bedrohlichen Konsequenzen der Zukunft – sei es wie derzeit an den Umschuldungskosten immenser Staatsdefizite, am Ausstieg aus der Kernenergie oder an der Vorsorge gegen EHEC-Bakterien – wird im demokratischen Machtmessen zwischen Regierung und Opposition regelmäßig Gegenstand politischer Entscheidungen: Entscheidungen, die nach kollektiver Verbindlichkeit suchen.

Wohlfahrtsstaaten tendieren zur Anspruchsinflation

Gerade politische Organisationen sind dabei einem hohen Druck durch die öffentliche Meinung ausgesetzt. Um Handlungs- und Konsensfähigkeit für die Lösung unlösbarer Probleme zu suggerieren, tendieren sie bei hoher Resonanzfähigkeit dazu, heute als Fehler beurteilte Entscheidungen morgen in programmierte Vorsicht umzubauen. Für die Umwelt des politischen Systems sowie insbesondere für die Betroffenen resultieren daraus jedoch weitere Risiken, die zwar eine Kontrollillusion mitführen – immerhin irgendwie entschieden zu haben – zugleich können sie aber auch die Risiken eines Kontrollverlusts verstärken: Die Risiken vergeblicher Regulationen, vertagter Anträge, zu niedrig gesetzter Richt- und Grenzwerte, undurchsichtiger Standards oder Siegel, der Zunahme von Eingriffsentscheidungen und damit verbundener Kosten, aber vor allem die Risiken der Nichtausnutzung von Chancen und Innovationen, wie sie auch Greenspan für die Volkswirtschaft(en) anmahnt. Ein prominent beklagter Fall hoher Kontrollkosten von bad laws sind all-urlaublich die Reisebestimmungen infolge von Terroranschlägen. Die kollektiven Sicherheitskosten und -gewinne übersteigen dabei nicht selten die individuellen Freiheitsrechte.

Unaufhaltsame Absicherungsspirale?

Aber wenn Politiker sich entscheiden, ihr Volk vor jedem vorstellbaren Risiko zu schützen, sinkt mit hoher Gewissheit der Lebensstandard, warnt Greenspan. Wieso ist dann der moderne Wohlfahrtsstaat noch nicht unter der Last seiner nimmersatten Bürger, ihrer Ansprüche und daraus verbundenen Schuldenlasten zerbrochen? Als eine Antwort bietet sich an: Weil er gleichzeitig und insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten auch Gefahren – wie strukturelle Arbeitslosigkeit und bestimmte Gesundheitsschäden – individualisiert und dabei in Risiken transformiert. Die Aktivierungsprogramme unter Altkanzler Gerhard Schröder sind ein Beispiel für die staatliche Entlastung von zu hohen Wohlfahrtskosten. Den Arbeitsverlust auf eigene Fehlentscheidungen zuzurechnen, fordert die Eigenverantwortung und damit auch die Eigenbeteiligung – die Investition in Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge.

Greenspan klammert das private (wenn auch teils staatlich geförderte) Geschäft mit Absicherungen möglicher Risiken jedoch weitgehend aus und hinterlässt damit einen undifferenzierten Blick. Er blendet dabei aus, dass nicht alle Risiken immer zugleich politisch resonanzfähig sind. Gerade durch die politisch geframte Individualisierung bestimmter Risiken boomt das Absicherungsgeschäft in fast allen Branchen. Die dabei erwirtschafteten Mehrwerte tragen jedoch vermittelt durch die Einnahme diverser Steuern nicht unwesentlich zur staatlichen Wohlfahrtsmehrung bei – vielleicht derzeit in Deutschland mehr als in den USA, aber der politische Umverteilungsmechanismus läuft ähnlich. Das Geschäft reicht dabei von der Berufsunfähigkeit zum Zahnzusatz hin zu (Waren-)Kreditversicherungen. Selbst die hierzulande weitverbreiteste Haftpflichtversicherung – als Absicherung gegen die Gefahr, einen Verlust durch Dritte zu erleiden – wird zum eigenen Risiko, sich im Schadensfall nicht für eine derartige (oder für eine billigere oder umfangreichere) Police entschieden zu haben. Denn auch die beste Absicherung vermag die Unsicherheit der Zukunft nicht zu regulieren.

Vertrauensfrage: Welche Risiken lagert der Staat aus und welche nicht?

Mit steigender Wohlfahrt wächst das Vertrauen des Staates in die Mündigkeit seiner Bürger, ihnen weniger Entscheidungen abzunehmen und dagegen ihre Eigenverantwortung zu fördern. Wer ein bestimmtes Wohlstandsniveau genießt und beispielsweise nicht die Kosten einer kollektiven Gesundheitsvorsorge mittragen möchte, hat beispielsweise hierzulande die Wahl zwischen unterschiedlichen privaten Teil- und Vollversicherungen zu entscheiden. Aber wo Vertrauen in die Eigenverantwortung anderer fehlt, setzt die oben genannte Nulltoleranzpolitik ein. Greenspan’s doppeldeutiger Appell an den Wohlstand der Nationen beschreibt jedoch die Absicherungskosten von milliardenschweren bailouts zur Rettung maroder Banken als scheinbar unnötige wohlfahrtssenkende Absicherungskosten, weil andere Banken sich anschließend in Sicherheit wägen könnten, auch gerettet zu werden. Wie Dirk Baecker herausgearbeitet hat, machen Banken ihr Geschäft jedoch nicht mit staatlichen Rettungsaussichten, sondern mit profitablen Risiken von Zahlungsversprechungen v.a. institutioneller Anleger und anderer Banken.

Es scheint als erhärte sich ein anfänglich vermuteter Motivverdacht, dass sich Greenspan’s Plädoyer gegen zu hohe wohlfahrtsmindernde Absicherungskosten für zu unwahrscheinliche Risiken indirekt auf die bereits wahrscheinlich steigenden Kreditkosten der Banken im Rahmen von Basel III beziehen. Benannt ist damit das Regelwerk, welches ab 2013 in Kraft tritt und insbesondere eine Erhöhung der Eigenkapitalquoten von Banken vorsieht (nur nicht für das Halten von Staatsanleihen) – vornehmlich zur Besicherung und Absicherung von Kreditausfällen, welche 2008 die bisher größte Finanzkrise auslösten.

Vertrauensverlust durch zerbrochene (Kredit-)Fenster

Die Politik befürchtet noch mehr zerbrochene Fenster, nicht nur bei Lehmann Brothers & Co. und setzt deshalb auf eine Nulltoleranz gegenüber zu wenig und zu leichtsinniger Absicherung seitens der Banken. Das staatliche Vertrauen in das Risikomanagement von Banken ist erodiert, ihre ausreichende Eigenverantwortung in Frage gestellt. Wenn durch diese politisch induzierte Absicherung in Zukunft Finanzkrisen verhindert oder abgemildert werden könnten und damit weitere staatliche Absicherungskosten nun durch private Absicherungsleistungen seitens der Banken mitgetragen (und diese ebenso wahrscheinlich teilweise auch an den Kreditnehmer weitergegeben) werden, so müsste zumindest nicht nur nach soziologischer Rechnung am Ende ein positiver Saldo erzielt werden können.

(Bild: Inkflesh)

6 Kommentare

  1. Henrik sagt:

    Prinzipiell würde ich der Greenspan Idee zustimmen. Es ist ja ein nicht zu ignorierendes Phänomen, dass jeder Politiker, der sich etablieren möchte, einfach irgendwas verbietet. Und alles auf Basis der Illusion, dass irgendetwas dadurch besser reguliert werden könnte.

  2. Rena Schwarting sagt:

    Du sprichst zwei Punkte an, die in der „JA-Komponente“ der vorgestellten Antwort auf Greenspan’s Plädoyer enthalten sind: die Kontrollillusion und die Wohlfahrtsinflation. Beide werden im Text erläutert bzw. verlinkt. Aber in der aktuellen Diskussion wird (zumindest soziologisch gesehen) unterschätzt, dass beide Mechanismen auch einen politisch funktionalen Effekt haben, der auch ökonomisch relevant ist: Investitionssicherheit. Es ist ja gerade der ökonomisch nicht messbare Mehrwert einer Demokratie, über Entscheidungen auch anders entscheiden (lassen) zu können. Und der Verweis auf knappe Kassen hat dann i.d.R. eine konfliktmindernde Wirkung. In anderen politischen Systemen sähen die Reaktionen auf die Finanzkrise vermutlich anders aus – weniger politisch könnte man leider differenzierungstheoretisch vermuten.

    Die NEIN-Komponente der Antwort kritisiert aber auch, dass Greenspan nicht sieht/schreibt, dass der Staat je nach Themenkarriere der Wohlfahrtsansprüche und der wirtschaftlichen Lage gleichzeitig auch Regulierungen zurückschraubt bzw. Gefahren individualisiert und damit für den Markt zugänglich macht. Soziale Absicherung erfolgt nicht nur über Normen (Recht), sondern auch über Knappheit (Geld), hat eine bekannte Großtheorie formuliert.

    Die Übertragung der „Nichttoleranzpolitik“ (als Antwort auf „broken windows“ im Rahmen der Kreditkrise) ist ein Beispiel für politische Kontrollillusion, sie soll hier aber v.a. als rhetorisches Mittel dienen.

  3. Henrik sagt:

    Über Entscheidungen anders entscheiden können doch bspw. Autokratien auch, oder?

    Ansonsten finde ich, dass du so recht hast, dass ich da gar nichts mehr zu sagen kann. Auch wenn ich eher das strukturelle Moment in den Vordergrund stellen würde. Die Politik wird mit Steuerungsansprüchen adressiert, muss darauf reagieren und ist dabei immer dem Problem ausgeliefert, dass die Antworten auf eine Zukunft finden soll, die sie schlicht nicht haben kann. Hier findet sie, könnte man meinen, ihren Antrieb. Einmal angefangen, kann sie nicht wieder aufhören – wie die Heuschrecke…

  4. Rena Schwarting sagt:

    In Demokratien kann man jedoch über Entscheider entscheiden (lassen) (s.o.), was einen Unterschied macht. Thema des Artikels sind wie gesagt weniger die unlösbaren Probleme der Politik und die Wohlfahrtsinflation an sich (auch wenn diese Quelle und Folge staatlicher Absicherung zugleich ist) als staatliche UND private Absicherungen: theoretisch mit anderen Worten formuliert das Wechselspiel zwischen Normen, Knappheit und Risiko.

  5. Beate sagt:

    Gibt es ein Davor einen Zeitpunkt an dem wir nicht wissen, wer von zwei Menschen vielleicht alleinerziehende Mutter oder Unternehmerin wird?

    Ist es aus dem Blickwinkel nicht für die Unternehmerin vorteilhaft möglichst einen hohen Spitzensteuersatz zu zahlen. Am besten 66%.

    Ist es nicht so, wer weiß dass er eine Mindestsozialabsicherung hat, sich zumindest als Unternehmer einmal versuchen traut.

    Also kann es nicht ganz anders sein, als es hier dargestellt wurde, aus dem Blickwinkel des ‚danach‘?

  6. H.K.Hammersen sagt:

    @Beate
    „Gibt es ein Davor einen Zeitpunkt an dem wir nicht wissen, wer von zwei Menschen vielleicht alleinerziehende Mutter oder Unternehmerin wird?“

    Kann es nicht sein, dass die eine Frau im Davor Unternehmerin werden will, im Fall des Falles auch allein erziehende Unternehmerin. Und die andere Frau Mutter, im Fall des Falles allein erziehende Mutter.

    Eine Entscheidung im Davor verändert immer auch die Sicht auf das danach. Und damit das Danach selbst. Und damit wieder die Entscheidung im Davor.

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