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Der Versuch von Sascha Lobo, das Internet als generatives Element in die Diskussion über die Ursachen des Verbrechens in Oslo zu thematisieren ist interessant. Der grundsätzliche Versuch ist richtig, weil er nicht abwegig und in der Form trotzdem mutig ist. Noch interessanter ist allerdings die Nachbesprechung, denn sie greift die Problematik auf, dass es derzeit keine tragfähige Internetverteidigungsargumentation gibt. Und es wird erst recht keine geben, wenn zukünftige andere Menschen ihre Copy/Paste-Pamphlete ins Internet stellen und zeigen, was das Internet für Potentiale in sich birgt, gerade wenn man Souverän seiner Filter ist.
Geradezu erschreckend sind die Reaktionen auf diese Diskussionsversuche. Gleich im ersten Kommentar schreibt jemand: „Es bleibt doch dabei: auch wenn sich böse Menschen übers Telefonnetz verabreden, etwas böses zu tun, hat das Telefonnetz damit immer noch nichts zentrales zu tun.“ Derzeit lassen sich zwei Dinge festhalten: 1. Die Verfechter der Queryology und Filtersouveränität, die die ganze Kraft des Internets in die Muster erkennende Psyche des Einzelnen verlegen und die soziale, gesellschaftliche Komponente übersehen – also alle gängigen Rivva-Resonanzerzeuger – tragen gerade, ohne dass sie es schon merken, die Argumente zusammen, die eine zukünftige staatliche Internetüberwachung beinah unausweichlich machen. (In Klammern aber deutlich: Sie liegen sachlich falsch und sind in hohem Maße kontraproduktiv!) 2. Oslo ist ein unhintergehbares Datum, dagegen läßt sich nicht mehr argumentieren, dass kann nur noch begriffen werden. Und die Verfechter des freien Internets haben die Pflicht, das zu begreifen und zu achten.
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Ich las die Woche ein interessantes Buch. Kai Schlieter, ein Soziologe und Journalist, hat deutsche Gefängnisse besucht und eine lesenswerte, lehrreiche Studie über Härtefälle in deutschen Gefängnissen geschrieben (Buchbesprechung demnächst in der F.A.Z.). Er erläutert darin, dass die gängige Praxis des Wegsperrens eher einer historischen als sachlich-rationalen Logik entstammt. Er stellt, noch bevor er mit seinen empirischen Beobachtungen beginnt, schon eine interessante These auf: Die Gefängnisse sollten abgeschafft werden. Er besucht jemanden, der seit 15 Jahren in Isolationshaft sitzt; einen Berliner Jugendlichen, der über 5 Monate mit einer Mordversuch-Anklage in U-Haft saß und dann freigesprochen wurde und jemanden, der seit vier Jahrzehnten weggesperrt ist. Das Buch hat jedoch, leider, zwei Schwächen: Der Alltag im Gefängnis kommt nicht zu Geltung, und die These zur Abschaffung der Gefängnisse wird nur gestellt und nicht diskutiert.
Solange wie man das Buch liest, teilt man die These durchaus. Doch es kommen recht schnell Fragen: Welche Alternativen gibt es denn? Muß Gefängnis schrecklich sein, um die abzuschrecken, die noch nie dort waren? Kann man mit Gefängnis drohen aber es immer nur bei der Drohung belassen, weil man gar keine mehr hat? Welche alternativen „Resozialisierungseinrichtungen“ gibt es wirklich (der Autor nennt illustrativ eine norwegische Gefängnisinsel auf der es eher gesellig und sozial zugehen soll, ohne sie in anschlußfähiger Ausführlichkeit zu beschreiben)? Welche könnte es geben? Eine theoretische Diskussion wäre ein wirklich interessantes Thema für eine Qualifikationsarbeit.
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Die Proteste gegen die Infrastrukturmaßnahmen in Süddeutschland sind interessant. In Stuttgart hat man ja von Anfang an eine sehr spirituelle Form des Protests gewählt, die erstaunlich motivierend ist – zumindest scheint sie bis jetzt zu funktionieren. Als letzten September erstmalig Berliner Polizeimethoden in Stuttgart angewendet wurden, konnte man schon lernen, dass dieses Polizeiaktionen mit Berlin so gar nichts zu tun haben, sondern viel mehr mit Polizei – egal gegen wen.
Nun gibt es eine weitere interessante Beobachtung: Im Münchener Umland regt sich Widerstand gegen den kommenden Fluglärm. Und auch hier zeigen sich ein paar Merkmale, die man, oder besser: ich, bislang einer anderen deutschen Volksgruppe zugeschrieben habe, und die so gar nicht auf die bayrische Landbevölkerung passen. Ich spreche von der ostdeutschen „Uns fragt ja keiner!“-Mentalität. Über diese Haltung, die frecherweise an den Tag gelegt wurde, obwohl sich Westdeutschland doch mit „Soli“ und D-Mark so großzügig zeigte, hat man nie so richtig verstanden und als Ossi-spezifisches Unverständnis abgetan. Nun sind es die Bayern, die so auftreten, während es sich die Ossis in ihrer innerdeutschen Unbedeutendheit gemütlich gemacht haben. Interessant und witzig. Diese Verschiebung von Problemen und Ursachenzurechnung ist beinah ein Indiz dafür, dass die Trennung von Ost und West überwunden ist. Leipzig ist inzwischen das europäische Güterdrehkreuz im Luftverkehr, mit Flügen die ganze Nacht. Man hat sich mit der neuen Gesellschaft arrangiert.
(Bild: Eduardo Amorim)
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