Der Versuch von Sascha Lobo, das Internet als generatives Element in die Diskussion über die Ursachen des Verbrechens in Oslo zu thematisieren ist interessant. Der grundsätzliche Versuch ist richtig, weil er nicht abwegig und in der Form trotzdem mutig ist. Noch interessanter ist allerdings die Nachbesprechung, denn sie greift die Problematik auf, dass es derzeit keine tragfähige Internetverteidigungsargumentation gibt. Und es wird erst recht keine geben, wenn zukünftige andere Menschen ihre Copy/Paste-Pamphlete ins Internet stellen und zeigen, was das Internet für Potentiale in sich birgt, gerade wenn man Souverän seiner Filter ist.
Geradezu erschreckend sind die Reaktionen auf diese Diskussionsversuche. Gleich im ersten Kommentar schreibt jemand: „Es bleibt doch dabei: auch wenn sich böse Menschen übers Telefonnetz verabreden, etwas böses zu tun, hat das Telefonnetz damit immer noch nichts zentrales zu tun.“ Derzeit lassen sich zwei Dinge festhalten: 1. Die Verfechter der Queryology und Filtersouveränität, die die ganze Kraft des Internets in die Muster erkennende Psyche des Einzelnen verlegen und die soziale, gesellschaftliche Komponente übersehen – also alle gängigen Rivva-Resonanzerzeuger – tragen gerade, ohne dass sie es schon merken, die Argumente zusammen, die eine zukünftige staatliche Internetüberwachung beinah unausweichlich machen. (In Klammern aber deutlich: Sie liegen sachlich falsch und sind in hohem Maße kontraproduktiv!) 2. Oslo ist ein unhintergehbares Datum, dagegen läßt sich nicht mehr argumentieren, dass kann nur noch begriffen werden. Und die Verfechter des freien Internets haben die Pflicht, das zu begreifen und zu achten.
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Ich las die Woche ein interessantes Buch. Kai Schlieter, ein Soziologe und Journalist, hat deutsche Gefängnisse besucht und eine lesenswerte, lehrreiche Studie über Härtefälle in deutschen Gefängnissen geschrieben (Buchbesprechung demnächst in der F.A.Z.). Er erläutert darin, dass die gängige Praxis des Wegsperrens eher einer historischen als sachlich-rationalen Logik entstammt. Er stellt, noch bevor er mit seinen empirischen Beobachtungen beginnt, schon eine interessante These auf: Die Gefängnisse sollten abgeschafft werden. Er besucht jemanden, der seit 15 Jahren in Isolationshaft sitzt; einen Berliner Jugendlichen, der über 5 Monate mit einer Mordversuch-Anklage in U-Haft saß und dann freigesprochen wurde und jemanden, der seit vier Jahrzehnten weggesperrt ist. Das Buch hat jedoch, leider, zwei Schwächen: Der Alltag im Gefängnis kommt nicht zu Geltung, und die These zur Abschaffung der Gefängnisse wird nur gestellt und nicht diskutiert.
Solange wie man das Buch liest, teilt man die These durchaus. Doch es kommen recht schnell Fragen: Welche Alternativen gibt es denn? Muß Gefängnis schrecklich sein, um die abzuschrecken, die noch nie dort waren? Kann man mit Gefängnis drohen aber es immer nur bei der Drohung belassen, weil man gar keine mehr hat? Welche alternativen „Resozialisierungseinrichtungen“ gibt es wirklich (der Autor nennt illustrativ eine norwegische Gefängnisinsel auf der es eher gesellig und sozial zugehen soll, ohne sie in anschlußfähiger Ausführlichkeit zu beschreiben)? Welche könnte es geben? Eine theoretische Diskussion wäre ein wirklich interessantes Thema für eine Qualifikationsarbeit.
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Die Proteste gegen die Infrastrukturmaßnahmen in Süddeutschland sind interessant. In Stuttgart hat man ja von Anfang an eine sehr spirituelle Form des Protests gewählt, die erstaunlich motivierend ist – zumindest scheint sie bis jetzt zu funktionieren. Als letzten September erstmalig Berliner Polizeimethoden in Stuttgart angewendet wurden, konnte man schon lernen, dass dieses Polizeiaktionen mit Berlin so gar nichts zu tun haben, sondern viel mehr mit Polizei – egal gegen wen.
Nun gibt es eine weitere interessante Beobachtung: Im Münchener Umland regt sich Widerstand gegen den kommenden Fluglärm. Und auch hier zeigen sich ein paar Merkmale, die man, oder besser: ich, bislang einer anderen deutschen Volksgruppe zugeschrieben habe, und die so gar nicht auf die bayrische Landbevölkerung passen. Ich spreche von der ostdeutschen „Uns fragt ja keiner!“-Mentalität. Über diese Haltung, die frecherweise an den Tag gelegt wurde, obwohl sich Westdeutschland doch mit „Soli“ und D-Mark so großzügig zeigte, hat man nie so richtig verstanden und als Ossi-spezifisches Unverständnis abgetan. Nun sind es die Bayern, die so auftreten, während es sich die Ossis in ihrer innerdeutschen Unbedeutendheit gemütlich gemacht haben. Interessant und witzig. Diese Verschiebung von Problemen und Ursachenzurechnung ist beinah ein Indiz dafür, dass die Trennung von Ost und West überwunden ist. Leipzig ist inzwischen das europäische Güterdrehkreuz im Luftverkehr, mit Flügen die ganze Nacht. Man hat sich mit der neuen Gesellschaft arrangiert.
(Bild: Eduardo Amorim)
Ich möchte da nur mal einen Punkt von aufgreifen. Ich finde diese Thesen a la „das Internet ist schuld“ wirklich zum Weglaufen! Man wird konstant gezwungen, sich zu fragen wie und womit sich diese Meinungen überhaupt qualifizieren, veröffentlicht zu werden. Und wahrscheinlich ist die Antwort hier auch das Internet. Aber das ist ein anderes Thema.
Das Internet ist unbestreitbar ein Faktum des täglichen Lebens! Es gibt hier sicherlich ein hohes Maß an Anschlussproblemen, die geklärt werden müssen – auf die eine oder andere Art und Weise, aber das Internet existiert. Und es hat für die meisten Menschen längst die anfängliche Faszination verloren, die es meinetwegen Mitte der 90er ob der plötzlichen Erschwinglichkeit für alle hatte.
Offensichtlich ist es aber denoch für einige Journalisten ein so großes Faszinosum, dass sie meinen, alles auf das Internet herunterbrechen zu können. Aber diese Idee resultiert in erster Linie aus einer Art journalistischer Profilbildung. Man kann die Einflüsse und Irritationen, denen ein Mensch ausgesetzt ist, jedenfalls nicht exklusiv auf das Internet herunterbrechen…
Es ist ja schön und gut, dass sich Zeitungen mit Artikeln schmücken, die prätendieren, den (ebenfalls massenmedial kreierten) Trend zur „Netzwelt“ auch journalistisch abzubilden, aber wenn man es so übertreibt wie in dem von dir angesprochenem Artikel, dann muss man sich wohl nicht wundern, wenn man nicht mehr ernst genommen werden kann, wenn es um eine komplexe Analyse des Geschens geht. Niemand kann ja wirklich glauben, dass DAS INTERNET Schuld an den Ereignissen in Norwegen ist…
Ich vermute zwei Missverständnisse. 1. Der Autor (Sascha Lobo) ist alles andere als Berufs-Journalist dafür aber fast nichts anderes als Internet-Lebemann, Internet-Mitdenker und Internet-Nutzer. Und 2. geht es ja gerade nicht pauschal um das Internet, sondern um das Internet mit der Offenheit, wie wir es derzeit haben und erhalten wollen.
Wir wissen natürlich, wie wir die Sache zu beobachten haben. Hans-Peter Uhl von der CDU hat aber eben seine Perspektive und Michael Seemann und seine Postprivacy-Gang haben ihre. Und gegen beide ist das Internet, wie wir es jetzt haben, zu verteidigen. Aber niemand hat einen guten Plan wie das gelingen kann. (Es handelt sich also um Tollerei-Soziologie, die sich einmischt.)
Natürlich! Ich stimme dir absolut zu! Der Lobo ist mir auch bekannt und es ärgert mich eigentlich, dass man sich doch immer wieder über diese zum Teil unqualifizierten Beiträge ärgert und dem Mann dann doch noch ne Plattform gibt, weil man dann eben doch nicht nicht kommunizieren kann :-)!
Ich denke auch, dass das Internet gegen solche Leute zu verteidigen ist. Mein Verteidigungsvorschlag besteht aber in erster Linie darin anzuregen, dass Internet als das wahrzunehmen, was es ist: ein Bestandteil des heutigen Lebens und nicht der kausale Grund für alles Schlechte dieser Welt. Dieses Verkürzen von Kausalität von profilsüchtigen Politikern ist wirklich der Feind jeder vernünftigen Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Mmmh, abgesehen davon, dass ich mir nicht sicher bin, ob der Kommentator Henrik die angesprochene Kolumne Sascha Lobos tatsächlich gelesen hat oder lediglich seine Vorurteile pflegen möchte (Lobo schreibt eben nicht, dass das Internet schuld sei, das sollte man schon zur Kenntnis nehmen, finde ich), und abgesehen davon, dass der Autor des Blogposts (Hallo Stefan) bemerkenswert informiert darüber zu sein scheint, welche Berufsbezeichnung adäquat für den Angesprochenen ist (btw und aus diesem Grunde etwas bissig formuliert: bist Du schon – als Hospitant bei der FAZ – ein Berufs-Journalist oder lässt Du Dich erst so nennen, wenn Dein Volontariat absolviert ist? Und vor allem: Wem steht zu, darüber zu befinden?) – beschäftigen mich zwei Verständnisfragen seit gestern bzw. seitdem ich diesen Blogpost gelesen habe.
Dazu folgendes Zitat:
„Die Verfechter der Queryology und Filtersouveränität, die die ganze Kraft des Internets in die Muster erkennende Psyche des Einzelnen verlegen und die soziale, gesellschaftliche Komponente übersehen – also alle gängigen Rivva-Resonanzerzeuger – tragen gerade, ohne dass sie es schon merken, die Argumente zusammen, die eine zukünftige staatliche Internetüberwachung beinah unausweichlich machen.“
Folgende zwei Fragen stellen sich mir wie geschrieben bei diesem Absatz:
1. Ich bin mir ziemlich sicher, dass z.B. Michael Seemann bestreiten würde, algorithmengetriebene Resonanzerzeuger à la Rivva nicht im Blick zu haben, obwohl er – da stimme ich Dir zu – „die Muster erkennende Psyche des Einzelnen“, vor allem seiner eigenen Person, überaus stark betont. Wie also kommst Du zu dieser Einschätzung?
2. „Die Muster erkennende Psyche des Einzelnen“ und die „Resonanzerzeuger“ stehen u.a. auch für das (biologische) Individuum auf der einen und den (technisierten) Algorithmus auf der anderen Seite (wobei Du in letzterem Zusammenhang von einer „gesellschaftlichen Komponente“ schreibst). Ist das Zufall oder ist dieser „Gegensatz“ gewollt, z.B. hinsichtlich Qualität vs. Quantität o.ä.?
Ups, der vorausgegangene Kommentar ist von mir; der Name wurde leider nicht mitgenommen.
@Thorstena
– ich denke, du liest viel zu viel aus meinen Kommentaren. Sascha Lobo als „keinen Berufs-Journalisten“ zu bezeichnen ist nur eine Antwort auf Henriks Kommentar. SL ist nun mal kein journalistisches Organisationsmitglied irgendeiner Zeitung, die den Privatmeinungsjournalen kritisch gegenüber steht. Sondern er ist Kolummnenschreiber und in dieser Form Gast. (Man kann ihm also keine internetkritischen Motive unterstellen. Um mehr ging es mir nicht.)
– die Sozialtheoristen sind ein Journal. Autoren hier also Journalisten ;-) Ein organisationaler (oder gar rechtlicher Rahmen, denn es nicht gibt) tut da nichts zur Sache.
– zu 1. Ich verstehe die Frage nicht. Vermutlich weil ich anderes gemeint als du gelesen hast. Mir gehts darum, dass M. Seemann sicherlich ein sehr netter und geselliger Typ ist, der die Möglichkeiten des Internet voll ausnutzt. Und ebenso tun es andere, die nicht nett und gesellig sind, sondern aus noch unerfindlichen gründen böse und isoliert.
– zu 2. Ich vermute da, so lese ich es auch bei dir, eine Lücke. Menschen sind mit ihrer Psyche ausgestattet, Computermaschinen mit ihren Algorithmen und die Gesellschaft mit ihrer Gesetzmäßigkeit. Der einzelne kann lernen, der Computer programmiert werden – nur für die Schnittstelle von Internet und Gesellschaft gibts noch nicht vergleichbar Institutionalisiertes oder Institutionalisierbares. Bislang gibt es eine Ideologie, dort auch nichts zuzulassen – der Freiheit des Internets zuliebe. Das sollte mal diskutiert werden.
Danke für die Antwort, Stefan. Vielleicht lese ich tatsächlich zu viel aus Deinen Kommentaren; vielleicht lese ich aber auch gerade bei Dir meist sehr genau, weil Du eben in der Regel sehr genau schreibst ;-).
Punkt 2 finde ich ebenfalls sehr interessant und diskutierenswert, ohne gerade ein passendes Bonmot zur Hand zu haben, das das unterstreichen könnte.
Bei Punkt 1 habe ich Dich ganz offensichtlich missverstanden; ich hatte diese Stelle vor allem als Kritik an den Verfechtern der Filtersouveränität (deshalb M.Seemann als Beispiel) und damit offensichtlich zu kurz gedacht/gelesen.
Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, deswegen hier ein Hinweis: Auch für mich war Saschas Artikel (aber auch London irgendwie) Anlass mich noch mal kritisch mit den Auswirkungen der Queryology auseinanderzusetzen: http://www.ctrl-verlust.net/breivik-queryology-und-der-weltkontrollverlust/
Danke für den Hinweis (hatte ich noch nicht gesehen, hätte ich aber noch). Wird gelesen!
Hallo Stefan, ich bin immer noch auf der inneren Suche, das von Dir angesprochene und von mir nachgefragte Problem (fehlende institutionalisierte Schnittstelle Internet/Gesellschaft) für mich klar zu bekommen.
Nun bin ich auf einen Blogpost von Felix Schwenzel gestoßen, den Du bestimmt auch schon gesehen hast (http://wirres.net/article/articleview/5871/1/6/) und in dem er u.a. sich selbst zitiert:
„eigentlich lauten die fragen doch nicht internet vs. privatsphäre, appstore oder google vs. transparenz, sondern AGBs vs. bürgerrechte.“
Mich würde interessieren, ob Du auch in dieser Richtung nachgedacht hast. (Ich tendiere gerade zum Ja, möchte aber nochmal fragen, da wir uns ja ganz gerne missverstehen…)
Ja, ich habe tatsächlich in diese Richtung gedacht. Ich denke, Recht ist das Stichwort – das soll aber nicht gleich mit Justiz und so gleichgesetzt werden, sondern mit einer Betonung normativer Einschränkungen, die für alle gleich gelten. AGBs sind da schon ein guter Indikator, eine nutzerkontrollierte „Netiquette“ wäre ein anderer Fall. Staatlich kontrolliertes Recht eine dritte Variante. Und man kann ja die Augen offen halten, was das Internet selbst so an Möglichkeiten bereithält… (Ich denke das hilft dir weiter und mir auch. ;-)
[…] dass er das Wort Regulierung benutzt, ohne hinterher für alle sichtbar auszuspucken. Dabei ist er ja nun nicht der einzige, der über so etwas nachdenkt. Und Robert Basic zum Beispiel hat bereits im Januar über das Thema (staatliche) Netzregulierung […]
„Breivik gehört zu einer neuen Generation von Terroristen, die ihre Ideologie im Internet aufbauen und mit Internetmechanismen weiterentwickeln, die im Internet ihre radikale Sozialisierung erfahren und sich die ständige soziale Bestätigung im Internet suchen, auf dem richtigen Weg zu sein. Technische Informationen und Material für ihre Anschläge besorgen sie sich ebenso im Netz. Es wäre fatal zu leugnen, dass das Netz – ja, das wunderbare, großartige Internet – auch Nährboden, Universität und Kaufhaus des Terrors ist.
Breviks Tat wurde im Internet geboren. Das sollte und wird Folgen haben für die Art, wie man mit seinen Worten im Netz umgeht: jemand könnte sie als Waffen benutzen. Die gesellschaftliche und politische Herausforderung der nächsten Jahre wird sein, nicht uninformierten Scharfmachern wie Hans-Peter Uhl ins Netz zu gehen, sondern der terroristischen Bedrohung aus dem Internet zu begegnen – ohne die Freiheit und die Offenheit der Gesellschaft zu opfern. Auch nicht im Netz.“
Jetzt frage ich mich, was der Kommentator Thorstena dazu sagt?
Der Kommentator Thorstena würde sagen, dass Sascha Lobo in der zitierten Textstelle eben nicht, wie von Kommentator Henrik unterstellt, dem Internet die Schuld an Breivik und seinen Verbrechen zu geben.
Oder, um mit einem weiteren Lobo-Zitat zu kommen:
„Es lässt sich streiten, ab wann eine Tat “im Netz geboren” ist. Für mich reicht als Definition aus, dass eine Radikalisierung weitgehend im Netz entstanden ist und nicht im Live-Austausch in Terrorzellen.“
Es gibt „keine tragfähige Internetverteidigungsargumentation“, wie Stefan geschrieben hat – das ist Lobos Punkt und hat mit Schuldzuweisungen wenig bis nichts zu tun, finde ich.
Das mit der Internetverteidigungsargumentation erschließt sich mir in diesem Kontext jetzt nicht.
Was aber auffällt, ist doch diese seltsame Diskrepanz zwischen der Darstellung Andreas Breiviks auf der einen Seite als Einzeltäter, der seine Tat ohne andere plant, ausarbeitet und offensichtlich sogar eine Art Motivationstraining für sich selber entwickelt hat, um die Einsamkeit der Planung zu ertragen. Auf der anderen Seite wird aber kontinuierlich darauf insistiert, der Täter sei durch das Internet in irgendetwas eingebunden gewesen. So als sei das Internet die einzige Möglichkeit, kommunikativ tätig zu sein.
Aber zurück zu Lobo: für mich sind das, Entschuldigung, absolute Leerformeln. Was soll es denn bedeuten, dass eine Tat im Internet „geboren“ worden ist? Gab es vor dem Internet keine Anschläge/Radikalisierungen? Wieso meint eigentlich jeder, dass das Internet so eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielt? Also warum soll eine technische Infrastruktur für das Entstehen von Ideologien verantwortlich sein, die älter sind als das Netz? Oder, um es kurz zu machen: das argumentative Zusammenziehen von Internet und Kommunikation ist doch eher seltsam und produziert Ideen wie die oben zitierten Lobos…Und das kann man nun mal kritisieren – ob du dem Mann nun Sympathien entgegenbringst oder nicht. Und ich habe – btw- auch nichts gegen dich. Er is mir zu monothematisch und selten gut genug durchdacht…
… ich wollte „gegen den Mann (= Lobo) schreiben…sorry
Na gut, nochmals zu Lobo: Ich bin ja kein hauptberuflicher Lobo-Verteidiger, und ich finde es (wahrscheinlich wie er selbst auch) auch in Ordnung, wenn man seine Texte nicht vorbehaltlos dufte findet. Wenn Du aber auf ihn und seine Argumentation gemünzt schreibst, ob es denn etwa „vor dem Internet keine Anschläge/Radikalisierungen“ gab, dann glaube ich nach wie vor, ohne Dir ans mit Sicherheit nicht vorhandene Hühnerauge treten zu wollen, dass Du die beiden Texte, um die es geht, nicht genau gelesen hast. Denn gerade zu diesem Punkt schreibt Lobo doch überaus deutlich:
„In meiner Kolumne auf Spiegel Online habe ich die Frage untersucht, ob Terrorismus im Netz entstehen kann. Streng genommen müsste man fragen, ob Terrorismus auch im Netz entstehen kann, aber dass es Terror vor dem Internet gab und also auch ohne entstehen kann – naja nun, muss man darüber auch nur einen Satz verlieren?“
Weil aber nun durchaus nicht unwichtige Leute wie zum Beispiel der deutsche Innenminister aus der offensichtlichen Tatsache, dass der Attentäter seine Informationen und sein Weltbild sich vor allem aus dem Internet geholt hat (deshalb „geboren“), wilde Schlüsse ziehen, wie man das Netz und seine Nutzer besser unter Kontrolle bringen könnte, ist es ja für netzaffine Leute keine schlechte Strategie, sich gegen solche Forderungen mit vernünftigen „Internetverteidigungsstrategien“ auszurüsten – so habe ich Sascha Lobo verstanden. Und diesen Gedankengang finde ich richtig, unabhängig davon, ob ich den Autor Lobo nun gut finde oder nicht.
Stefan, ich bitte Dich: Sascha Lobo entdeckt also anno 2011 dass Realität medial konstruiert ist und du erblickst darin einen Meilenstein? Noch dazu wo Lobo dann aber wiederum meint, es gäbe eine „Umdeutung“ der Realität, der wirklichen, der echten, durch Breivik und zukünftige Cyberterroristen. Aber wo hat er die her, diese echte und wirkliche Realität? Er selbst hat sie genauso medial vermittelt bekommen und kein bisschen anders. Sie passt ihm nur besser in sein moralisches Strickhemd, und das ist auch sehr zu begrüßen, aber sonst?
Meiner Meinung nach machen alle, die den Teufel jetzt im Internet oder sonstwo suchen einen schweren Denkfehler: Sie verwechseln Gewaltkommunikation mit Kommunikation über Gewaltkommunikation; Operation mit Selbst- bzw Fremdbeschreibungen der Gewaltkommunikation. Wer Breiviks Manifest gefährlich findet, der könnte genausogut auch verlangen, dass Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ nicht mehr öffentlich zugänglich sein soll.
Ein weiterer Denkfehler, den Lobo & Co machen, ist der, die Kommunikation vom Sender her zu sehen. Gerade Breiviks Manifest scheint aber (ich habe es nicht gelesen) zu belegen, dass das, was der Empfänger aus Nachrichten macht, das Entscheidende ist. Er mag einen Satz oder auch nur einen Wortfetzen in einem Liebesgedicht entdecken oder einem Science-Fiction-Roman und daraus seinen Weltentwurf stricken – soll man Gedicht und Roman darob verbieten? Und wie soll das ex ante gehen anyway?
Diskussionen wie diese zeigen meines Erachtens nur, wie recht Dirk Baecker mit seiner Rede vom „Sinnüberschuss“ hat, der uns im Nachgang zu Internet, Social Media und dergleichen noch lange begleiten wird. Hier wird kräftig im Nebel herumgestochert, imho.
Das stimmt so natürlich alles, aber es betrifft eben eine akadmische Ebene. Mir ging es mehr um die operative. Und das Sascha Lobo als Vordenker vieler Mitläufer schrieb, was er schrieb, stellt schon ein beachtenswertes Datum dar. Man sehe nur die läuternde Wirkung auf Michael Seemann. Das ist alles nicht unbedeutend, denn letztlich geht es ja auch ganz basal um das emotionale Empfinden, wenn wir das Internet benutzen – wir finden es gut, es ist gut, es soll gut bleiben… Ich habe ja auch lieber ein Internet, dass nicht durchreglementiert ist, das aber auch nicht überall das Potenzial für Gewalt und Zerstörung entfaltet…
Insofern sind es interessante Zeiten, weil bekanntes, akademisches Wissen nun auch als breit geteilte Einsicht bereit steht und man darüber reden kann, ob die Politik nicht doch auch ein Wörtchen mitzureden hat – ohne dass gleich wieder alle ihre neoliberale Internetfreiheitsideologie rausholen…
Aber, wie gesagt, Du hast recht. Das Breiviks zusammenkopiertes Manifest seinen ganzen Gehalt durch seine Tat erhielt, uns der Text also ganz anders sagt, als man in ihm sucht, ist auch eine Einsicht, die ihre Zeit braucht. Es sind noch so viele Einsichten – Sinn & Zeit eben, so wie Du es schreibst – ich halte die Einsicht von Sascha Lobo für beachtenswert, sie ist eine wichtige Marke (weil sie meiner Meinung nach eine konstruktive Bewältigung von Sinnüberschuss markiert).
@Stefan
> Mir ging es mehr um die operative.
Es gibt nur eine Ebene. Und Lobo verwendet kein bisschen weniger Abstraktion als ich oder du.
>Man sehe nur die läuternde Wirkung auf Michael Seemann.
Ich sehe keine läuternde Wirkung auf Seemann. Ich sehe nur eine Selbstbeschreibung von Seemann. Was siehst du?
>das aber auch nicht überall das Potenzial für Gewalt und Zerstörung entfaltet
Ein Stein, der neben einem sauber geräumten Gehweg durch einen Park voller Blumen liegt, entfaltet auch Potenzial für Gewalt und Zerstörung. Jedem Akt seine Potenz(en), oder gilt das nicht mehr?
>ohne dass gleich wieder alle ihre neoliberale Internetfreiheitsideologie rausholen…
Warum gleitest du ab ins Normative? Reicht dir die Differenz von Medium und Form nicht mehr? Warum erlassen wir nicht Gesetze, wonach bestimmte Texte gar nicht mehr geschrieben werden und gewisse Sätze gar nicht mehr ausgesprochen werden dürfen? Not my cup of tea, aber wer wegen der Form das Medium verteufelt, bei dem sollte sowas auf der Agenda stehen. Und natürlich, als Fluchtpunkt, toppt natürlich das erbarmloseste und mächtigste Medium von allen, der Sinn, alles. Man sollte dann also konsequenterweise auch über „Sinnverbote“ nachdenken.
Ich sag mal so: Historismus (Luhmann), soziale Wirklichkeit (Kieserling), Lebenswelt (Habermas), das Normative (Strobl); Semantik – das ist die eine Ebene. Die Gesellschaftsstruktur die andere. Es ist eine operative Ebene, es hat aber Sinn, diese zwei Seiten zu unterscheiden. Denn an die eine koppelt man sich in seinem täglichen Erleben. Die andere steht nur unter schwerer Anstrengung, artifiziell, kontraintuitiv zur Verfügung. Und mir gehts es beim Thema Internet in der obigen Argumentation sehr um die erstere emotionale, alltägliche – lebensweltliche – Seite.
Die Medien/Form-Unterscheidung muss man nun erst einmal adäquat anlegen. Denn alles ist immer beides. Auch das Internet ist nicht nur Medium, sondern auch eine Form im Medium Sinn – sie hat ihre eigenen generativen und regulativen Mechanismen, die durchaus normativ geformt werden können: Man kann politisch über die Form des Internets entscheiden. Und aus dieser Möglichkeit leite ich eine Notwendigkeit ab, über das Internet zu sprechen – bevor es zu solchen (notwendigen) politischen Entscheidungen kommt.
Es ist alles richtig: es lässt sich nichts steuern, man reguliert ohne Zugriff auf die Folgen, Überraschungen sind gewiss – und trotzdem ist es gut, wenn eine Ideologie durch eine andere ersetzt wird – weil sich die alte (Querylogy, psychische Mustererkennung, Selbstverwirklichung, Long-Tail, …) als untauglich herausgestellt hat und eine andere besser passen könnte.
(Und die kleine Hoffnung ist, dass es sich bei der neuen Ideologie noch nicht um eine politische Durchregulierung handelt, sondern dass es sich noch immer um eine für Nutzer- und Bürgerinteressen sensible Variante eines freien und offenen Internets handelt, die dennoch die Einsicht in sich trägt, dass Zerstörerisches nicht per se ausgeschlossen ist. Lobos Artikel ist da für mich ein Indikator dafür.)
OK, so kommen wir offenbar nicht weiter. Machen wir stattdessen ein Gedankenexperiment:
Der Attentäter heißt nicht Breivik und massakrierte nicht in Norwegen, sondern setzte sich an die Spitze einer Revolution in Libyen oder Syrien. Genau wie Breivik holt er sich seine Inspiration aus dem Netz, dort findet er auch im Vorfeld zahlreiche Follower, das ganze entwickelt eine gewisse Eigendynamik, man schreitet also zur Tat. Und, potzblitz, ist damit erfolgreich! Alle Welt jubelt.
Wie hätte Sascha Lobos Rede jetzt geklungen? Noch genauso? I don’t think so.
Und das ist der ganze Punkt: Wir entscheiden hier aus keinem anderen Blickwinkel als dem der Moral. Ob da überhaupt irgendeine Kausalität nachweisbar ist, das steht doch überhaupt nicht zur Debatte. Medientheoretisch vermute ich mal, dass man in beiden Fällen, also im „guten“ Syrien-Fall und im „bösen“ Breivik-Fall von einer Art symbolischen Generalisierung sprechen muss; mit anderen Worten: das Internet stellte angesichts einer in der Annahme unwahrscheinlichen Kommunikation entsprechende Formen zur Verfügung.
Das ist aber weder neu noch revolutionär. Ayatolla Khomeini trat lange vor seiner Rückkehr nach Teheran in iranischen Studentenkreisen in Erscheinung – und zwar auf geschmuggelten Tonbändern. Und wenn man der Fama glauben will, dann ebnete ihm diese Form der kommunikativen Präsenz den Weg für alles weitere.
Hat man darob neue Gesetze zu Tonbandkassetten und deren Mitnahme auf Reisen erlassen?
Ich vermute, wenn bekannt geworden wäre, dass in Bagdad ein junger Iraker 60 Kindergartenkinder erschießt (einzeln, nacheinander und jubelnd, statt per Selbstmord-Bombe), um danach in (so) einem englischen Manifest bekannt zu geben, dass ihm die Art missfällt, wie sich die „neuen Iraker“ mit der westlichen Besatzungstruppe arrangiert – wäre die Reaktion auch bei uns ähnlich dem norwegischem Verbrechen. Gerade wenn sich dieser Täter aus jedem sozialen Zusammenhang zurückgezogen und so akribisch geplant hätte wie AB.
(Ich vermute das sogar, obwohl dem europäischen Mediensystem die hunderttausenden getöteten und millionen vertriebenen Iraker im Vergleich bislang verhältnissmässig egal sind. So ein Fall hätte interessiert, und er hätte, wegen seiner Merkmale, eventuell auch die Aufmerksamkeit von Lobo gewonnen.)
Zur Moral: Sie ist nicht mit einer überholten Vorstellung von Vernunft zu verwechseln. Sie bildet die generalisierten Achtungsbedingungen ab – also das Rationalität gewinnende Moment jeder Kommunikation, die sich nicht der regulierenden und generativen Leistung symbolisch generalisierter Kommunikationscodes bedienen kann – und da bleibt insbesondere im Rahmen von Interaktion noch viel übrig.
Man könnte nun Lobos Text vorwerfen, dass er als Kommunikation über Gewaltkommunikation ins Ethische abdriftet, also eine unbrauchbare und folgenlose Reflexion darstellt – aber diesen Vorwurf will ich, mit obiger Argumentation, nicht machen. Lobo stellt nämlich genau den Punkt zur Disposition, denn ich schon vor drei Jahren hier aufgegriffen habe: Dass man Internetkritik(er) nicht mit Mißachtung straft, sondern mit argumentativer Rationalität, die sachlich bleibt und niemanden diskreditiert (den CSU-Uhl vielleicht mal ausgenommen) – obwohl es darum geht, dass Internet politisch zu regulieren. Ich halte das für einen Fortschritt.