Elastizität und Kognition

Warum die Suche nach Gründen für das Attentat in Norwegen gesellschaftlich nicht weiterhilft.

 

Immer noch ist das Attentat in Norwegen eines der großen, massenmedialen Gesprächsthemen. Viele Artikel drehen sich um die Fragen, die gestellt werden müssen und nicht gestellt worden sind, oder aber man fragt konkreter, was man der Rationalität des Tötens wie wir es in Norwegen beobachten konnten, entgegensetzen kann. Fast durchgehend kann man in diesen Artikeln aber eine grundsätzliche Paradoxie beobachten, die sich aus zwei Antagonismen speist: zunächst kann man sich eine Tat, wie sie in Norwegen verübt wurde, nicht erklären, ohne zu vermuten, Andreas Breivik sei geistesgestört, oder aber leide zumindest an einer starken Form der Realitätsverzerrung. Automatisch aber evoziert diese Feststellung die Frage, ob ein Geistesgestörter überhaupt in der Lage ist, ein Attentat diesen Ausmaßes so präzise zu orchestrieren wie es geschehen ist. Die Feststellung der Geisteskrankheit scheint eine Tat wie wir sie beobachten mussten, automatisch auszuschalten. Und es scheint diese paradoxale Anlage des Attentats zu sein – seine strikte Verweigerung sich Kategorien wie bspw. Geisteskrankheit konsistent subsumieren zu lassen -, die den wildwuchernden Erklärungen, die man immer noch täglich lesen kann, Tür und Tor öffnet. Da es offensichtlich keine zufriedenstellende Antwort gibt, kann jeder fröhlich drauf los raten, was wohl der Grund für das Attentat sei. Und man kann hier wohl einigermaßen sicher davon ausgehen, dass das Attentat instrumentalisiert wird. Innenpolitische Hardliner verlangen eine Verschärfung von Überwachungen im Internet, eine Einschränkung des Waffengesetzes, den Verbot von Ego Shootern, etc. Experten können wiederum Geld verdienen, in dem sie in Gastbeiträgen oder Fernsehauftritten das, was sowieso jeder weiß, schreiben – aber mit dem Etikett „Experte“ verziert.

Nun haben solche Paradoxien aber, folgt man dem Soziologen Niklas Luhmann, den Impetus, dass sie zum kreativen Auflösen der Paradoxie anregen. In diesem Sinne kann man wohl davon ausgehen, dass die Versuche, das Attentat „zu erklären“ – was auch immer das dann konkret heißen mag – weiter durch die Sozial- und Kognitionswissenschaften ebenso wie durch die Medien flottieren werden. Sieht man aber von dieser thematischen Selbst-Pertubation der beteiligten Systeme ab, kann man die Frage stellen, ob das Attentat von Oslo überhaupt einer befriedigenden Aufklärung bedarf! Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, könnte sich die Frage lohnen, wer für die gesellschaftliche „Abwicklung“ der Tat zuständig ist. Und hier lenkt sich der Blick automatisch weg von Wissenschaft und Massenmedien hin zum Rechtssystem.

Das Rechtssystem zeichnet sich im Gegensatz zu den Systemen der Massenmedien und der Wissenschaft durch Kognitionslosigkeit im Bezug auf Gründe für eine Tat aus. Mit anderen Worte: die Frage nach dem Warum ist für das Recht irrelevant. Verurteilt wird nach dem strafrechtlichen Tatbestand und nicht nach den Gründen. Und an diesem komplexitäts(er)sparendem modus operandi ändert sich auch dann nichts, wenn das Rechtssystem wie aktuell in Norwegen nach neuen rechtlichen Kategorien suchen muss, um die Geschehnisse zu fassen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Zugestehen einer Entschädigungszahlung an den Kindesentführer Gäfgen, der von einem Polizisten unter Androhung von Gewalt dazu gezwungen wurde, den Aufenthaltsort des von ihm entführten Kindes preiszugeben. Auch hier verhindern die moralischen Gründe des Polizisten nicht die Verurteilung nach dem reinen Strafbestand.

Formuliert man diese Feststellung um, so kann man konstatieren, dass die Suche nach Gründen – aus soziologischer Perspektive betrachtet – gesellschaftlich nicht notwendig ist. Anders formuliert verhindert die selbstreferentielle Verweisung der beiden antithetischen Pole Geisteskrankheit und diabolischen Planung nicht, dass es zunächst einmal weitergeht. Das Attentat wirkt trotz seiner herausstechenden Grausamkeit nicht paralysierend, sondern eher stimulierend im Bezug auf die Suche nach neuen, den zu Grunde liegenden Widerspruch auflösenden, Kategorien. Dies werden dann aber wohl langfristig abgeschoben werden in die Kriminalsoziologie, die Psychologie und angrenzende wissenschaftliche Disziplinen.

Dennoch, so kann man vermuten, wird es eine einheitliche Auflösung der Frage nach dem „Warum“ nicht geben (können). Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass es kein übergreifendes System zu geben scheint, das einer einheitlichen Beschreibung eine Form geben könnte. Die Massenmedien halten sich an Neuigkeitskategorien, die Soziologie kapriziert sich auf soziale Beweggründe, die Psychologie auf kognitive Gründe, usw. – und das alles ohne Hoffnung, einen diese verschiedenen Perspektiven zusammenfassenden Standpunkt zu finden.

Dennoch verschafft sich die Gesellschaft durch das Rechtssystem ausreichend Elastizität, an solchen Widersprüchen nicht zu zerbrechen, sondern sie zu verarbeiten. Das entlastet sicher nicht von wissenschaftlichen oder massenmedialen Erklärungsversuchen, relativiert sie aber im Hinblick auf die „gesellschaftliche Notwendigkeit“ einer Klärung.

Abschließend kann man zu dem Schluss kommen, den alle hochwertigen Kommentare der letzten Zeit ziehen, ohne sich dabei in semantische Diskrepanzen zu verwickeln wie sie oben beschrieben wurden: man wird solche Taten auch in Zukunft nicht verhindern können, weil der Versuch, ein so engmaschiges Überwachungsnetz aufzubauen, dass selbst solch disziplinierte Einzeltäter darin auffallen, dramatisch (!) auf Kosten demokratischer Freiheiten gehen würde! … und dies ein Preis ist, den man nicht für einen Extremisten zu zahlen bereit sein sollte.

Veröffentlicht von Henrik Dosdall

denkt, dass Luhmann recht hatte und liest die Soziologie dementsprechend. Schwerpunkte sind Systemtheorie und Epistemologie.

11 Kommentare

  1. Raventhird sagt:

    „Das Rechtssystem zeichnet sich im Gegensatz zu den Systemen der Massenmedien und der Wissenschaft durch Kognitionslosigkeit im Bezug auf Gründe für eine Tat aus. Mit anderen Worte: die Frage nach dem Warum ist für das Recht irrelevant. Verurteilt wird nach dem strafrechtlichen Tatbestand und nicht nach den Gründen.“

    Ähm. Reden wir hier vom Mittelalter oder von der Gegenwart? Das Motiv und die Psyche des Täters (‚Warum‘) sind ziemlich zentrale Aspekte in unserem Rechtssystem.

  2. gourmet sagt:

    Stimme Raventhird zu: Wenngleich diese Annahme theoretisch plausibel erscheint, ist doch die strafrechtliche Differenz zwischen Mord, Totschlag und schwerer Körperverletzung mit Todesfolge ein spannendes Beispiel, in dem die von ihm genannten Aspekte eine höchst zentrale Rolle spielen. Eine Binärcodierung greift hier m.M. nach zu kurz.

  3. Henrik sagt:

    Tun sie ja auch, aber nur zum Beweis der Straftat! Moralisch spielt das Motiv erstmal keine Rolle: es werden auch Täter verurteilt, die – wenn man jetzt mal die Frage, inwiefern moralische Ansichten zu generalisieren sind umschifft- aus nachvollziehbaren Gründen ein Verbrechen begangen haben, verurteilt.

    Und selbst wenn man nie D A S Motiv einer Straftat ermitteln kann, wird trotzdem verurteilt, wenn klar ist, dass der Angeklagte der Täter ist. Und genau darum gehts!

    Den Punkt mit der binären Codierung des Rechts würde ich gerne auch mit in die Überlegungen einbeziehen, verstehe ihn aber nicht. Hier bewegt man sich ja auf der operativen und nicht der codierten Ebene des Rechtssystems. Und hier existieren dritten Werte…entweder jemand ist schuldig, oder nicht…

  4. Mathies sagt:

    „…Andreas Breivik sei geistesgestört, oder aber leide zumindest an einer starken Form der Realitätsverzerrung. Automatisch aber evoziert diese Feststellung die Frage, ob ein Geistesgestörter überhaupt in der Lage ist, ein Attentat diesen Ausmaßes so präzise zu orchestrieren wie es geschehen ist. Die Feststellung der Geisteskrankheit scheint eine Tat wie wir sie beobachten mussten, automatisch auszuschalten.“

    Die menschliche Psyche ist nicht binär. Warum sollte jemand nicht planender Massenmörder sein können?

  5. Henrik sagt:

    Und wer hat gesagt, sie sei binär? Was soll das überhaupt bedeuten? Es geht hier um semantische Kategorien und nicht um eine „binäre“ Psyche…

  6. Mathies sagt:

    „Die Feststellung der Geisteskrankheit scheint eine Tat wie wir sie beobachten mussten, automatisch auszuschalten.“

    Ich will es anders ausdrücken: Ich verstehe nicht, wie man einen grundlegenden Widerspruch zwischen Planen und Geisteskrankheit sehen kann.

    P.S.: Binär soll heißen: Man geht davon aus, nur eine Beschreibung könne für den Täter zutreffen, entweder planend oder geisteskrank in diesem Fall.

  7. Henrik sagt:

    Hmm…das wäre dann aber eine sehr, sehr eigenwillige Auslegung des Wortes binär.

    Es geht mir darum, dass man diese Diskrepanz zwischen der unterstellten Geisteskrankheit einerseits und der dieser Feststellung widersprechenden Planung in den Medien feststellen kann. Es geht hier also nicht um eine psychologische Diagnose oder ähnliches, sondern lediglich darum, dass man beobachten kann, dass andere so beobachten. Und der Grund dafür scheint der zu sein, dass solche Taten wie wir sie in Norwegen beobachten konnten, durch Alltagskategorien nicht mehr konsistent beschrieben werden können und aus diesem Grund die Diskussion darum immer mit einem leicht paradoxalen Unterton geführt wird…

  8. Mathies sagt:

    Die komplexitätsbefreite „binäre Psyche“, proudly powered by BILD ;)

    Danke für die Erläuterungen (bzw. Wiedergabe mit anderen Worten). Mein Verständnis-Bit ist gerade auf 1 umgesprungen.

  9. David_Theis sagt:

    Kurze Anmerkung zum „Warum“ in der Bewertung einer Straftat: Der Begriff „niedrige Beweggründe“ ist allen hier bekannt, oder?

    Dieser Begriff (sowie die ihm in der Gesetzesnorm vorangestellten) spielt im Übrigen sehr wohl eine Rolle für das Strafmaß.

  10. Henrik sagt:

    Niedere Beweggründe ist das Referieren auf Sachen wie Kaltblütigkeit, Mordlust, usw. usf. Natürlich spielt das als systeminterne Konstruktion eine Rolle beim Bemessen der Straftat. Anders formuliert dient die Differenzierung zwischen nicht-pathologischen Motiven und niederen Beweggründen der Vergleichbarkeit von Straftaten.

    Aber auch damit ist in keinem Fall die Frage nach dem „Warum“ beantwortet. Schließlich reicht die Feststellung der niederen Beweggründe ja zum Fällen eines Urteils aus. Man muss dann eben nicht mehr fragen, wie es dazu kam, dass jemand aus niederen Beweggründen gehandelt hat. Also auch hier wird die Kognitionslosigkeit des Rechtssystems nicht ausgehebelt.

    Um die Frage eines Strafmaßes ging es im Übrigen auch nicht.

  11. […] eine Verkettung von Missverständnissen um einen kritischen Artikel aus soziologischer Sicht kam mir die abstruse Idee von der binären Psyche. Zuerst malte ich mir aus, dass diese Psyche den […]

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