Youtube-Demokratie

Nicolas Sarkozy war zum Zeitpunkt der Geburt seiner Tochter nicht in Frankreich, sondern in Frankfurt. Es ist zu vermuten, dass es derzeit nicht die größte Freude ist, erste Frau im französischen Staat zu sein. Und wenn man es genau betrachtet, darf man sich wohl mit Carla Bruni solidarisieren. Denn auch für den gemeinen Staatsbürger war es selten so schwer, die kleine Rolle verantwortungsvoll auszufüllen. Die Politiker sind nicht mehr da, wo man sie vermutet und sie tun nicht mehr, was man von ihnen erwartet. Die deutsche Regierung schwänzte etwa diese Woche die Unterredung im Bundestag, bei der es um die staatliche Schnüffelei ging. Die Bundeskanzlerin sagte ihre gestrige Regierungserklärung ab, als würde niemand drauf warten. Und wenn sich die Politik am Sonntag im Brüssel trifft, wird auch nicht entschieden, sondern nur beraten. Die Erklärung dafür ist allerdings einleuchtend: Wird der EU-Gipfel in zwei Stufen abgehalten, mit Beratungen am Sonntag und Beschlüssen in der kommenden Woche, bietet sich mehr Raum für die Bundestagsbeteiligung, so Steffen Seibert via Twitter.

Während die Politik verschwindet, nicht erklärt und nicht entscheidet, bleibt der Staatsbürger außen vor. Vieles, was er in der Schule lernte, etwa zum Thema: wie ein Gesetz entsteht? gilt heute etwas anders. Auch die Lehrerweisheit, man möge regelmäßig Zeitung lesen und Nachrichten schauen, muss heute ergänzt werden. Andere Demokratie wagen, scheint die Losung. Das Bundeskanzleramt rief gestern die Bürger dazu auf, bei Youtube Fragen an die Bundeskanzlerin zu stellen. Wenn schon die Repräsentationsprinzipien kaum noch gelten, versucht man es so zumindest mit neuen Partizipationsmöglichkeiten für die zurückgelassenen Bürger. Wer Forderungen auf Transparenten trägt, darf nun auch Fragen stellen. Ganz demokratisch wird nach Ende der Aktion, am 18. November, durch das Volk darüber abgestimmt, welche zehn Fragen tatsächlich von der Bundeskanzlerin beantwortet werden sollen.

Ist man einmal bei Youtube angekommen, lässt sich der neue politische Partizipationselan gleich auf eine andere Sache lenken. Wie sich herausstellte, kann man den Protokollen des Bundestags nicht wortwörtlich vertrauen. Bevor sie vom Pult der Stenografen ins öffentlich einsehbare Archiv des Bundestags wandern, durchlaufen sie wohl die Bundestagsbüros der Redner und bekommen dort den letzten Schliff. Youtube ist also mittlerweile nicht nur ein großes Kulturarchiv, sondern auch noch eine staatsbürgerpflichttragende Institution.

(Bild: Karl Jonsson)

Veröffentlicht von Stefan Schulz

Diplom-Soziologe aus Jena via Bielefeld in Frankfurt am Main. Kümmert sich promovierend um die Bauernfamilien des 12. Jahrhunderts mit ihrem Problem der erstmaligen "Kommunikation unter Unbekannten" und ist heute Journalist. stefanschulz.com

1 Kommentar

  1. Henrik sagt:

    Sehr guter Artikel!

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