Es ist ein guter Text und eine interessante Diskussion: Was macht die Piratenpartei anders als die bisherigen Parteien? Offensichtlich alles. Vor allem hebeln sie eines der als Grundübel beobachteten Prinzipien der modernen Demokratien aus: Sie kehren die Logik der Fraktionsdisziplin um. Sie vertauschen die Aufgaben von Zentrum und Peripherie, wenn es ums politische Entscheiden geht. Die Peripherie bereitet die Entscheidung vor, das Zentrum setzt sie um (weiterer Diskussionbeitrag dazu).
Es sieht so aus, als könnte sich das Liquid Feedback als das Erfolgsrezept der Piraten erweisen. Zumindest wird es im Publikum flächendeckend goutiert, endlich ernst genommen zu werden. Der Spitze der Piraten war es zuletzt nicht einmal gestattet, vor laufenden Kameras zu spekulieren. Alles, was oben gesagt wird, muss unten vorbereitet werden. Damit ist endlich ein Bürgertraum wahr geworden: Mithilfe der modernen Technologie ist man Teil des Systems. Die Unterscheidung politischer Leistungs- und Publikumsrollen wurde aufgehoben. Zentrum und Peripherie wurden vertauscht. Das Volk stellt politische Entscheidungen her, die Politik stellt sie nur noch dar. Statt vier Jahre lang morgens einen bloß informierenden Blick in die Zeitung zu werfen, kann man nun jeden Morgen das Liquid Feedback benutzen und die Politik aktiv mitgestalten.
Das klingt alles schön. Wenn es nur eine Differenz von Herstellung und Darstellung im politischen System gäbe. Wenn es in der Politik nur darauf ankäme, rational zu entscheiden. Wenn es nur möglich wäre, unter Missachtung aller Raum- Personen- und Situationsgebundenheit politisch zu verhandeln. Wenn es nur so wäre, dass Politik nichts anderes ist, als kollektiv bindendes Entscheiden. Und: Hat bislang das politische Zentrum tatsächlich unter Missachtung der Peripherie entschieden?
Das Zeitalter der quälenden Fraktionsdisziplin scheint überwunden. Doch es führt nicht zu der Feststellung, dass die Politiker jetzt wieder ihrem Gewissen überlassen werden. Genau im Gegenteil stellt sich die Frage, warum wir durch Liquid Feedback ferngesteuerte Politiker überhaupt noch brauchen. Es würde doch reichen, eine abgeschlossene Liquid Feedback Diskussion im Bundestag zu Protokoll zu geben und nach ihr zu handeln.
Das würde für die zurückliegende Realität bedeuten: Deutschland wäre im Frühling bewaffnet mit nach Libyen gefahren, es wären Hunderte Menschen gestorben, eventuell auch eigene Soldaten, und niemand wäre dafür verantwortlich. Der größte Trumpf des neuen politischen Prinzips wäre aufgegangen. Da alles transparent und nachvollziehbar ist, könnte man sehen: Alle haben so entschieden, alle sind schuld.
Dabei konnte man schon sehen, welche Tücken ein Ernstfall hat. Beim deutschen Angriff auf die Tanklastwagen in Afghanistan viel es schon schwer, politische Verantwortung zuzurechnen. Das Parlament schickte die deutschen Soldaten in den Krieg, aber schuld sollte nur der den konkreten Befehl erteilende Soldat sein. Genau dieses Prinzip der politischen Verantwortungslosigkeit wird mit dem Ziel Transparenz ausgebaut. Mit dem Zugewinn an Transparenz geht der Verlust von politischer Verantwortung einher und mit ihr die Kopplung an einklagbarem Recht und geltendem Gesetz.
Der Preis der Transparenz ist eventuell zu hoch. Nicht nur wegen der staatsrechtlichen Frage, sondern auch, weil ein alternativloses Liquid Feedback im Vergleich zum jetzigen politischen Rechtsetzungsverfahren unterkomplex ist. Das erkennt man schon an der Verklärung der Vergangenheit. Helmuth Schmidt wird bejubelt als „echte Persönlichkeit“, die sich damals für seine politische Haltung jede Woche neu geopfert hat. Mit dieser Romantik im Hinterkopf entkernt man nun das persönliche Gewissen als Fundament des Politischen, anstatt es zu erneuern. So kommen Personen wie Willy Brandt und Helmuth Schmidt nie wieder zur Politik.
Sollten wir niemals wieder einen KT Guttenberg aus dem Amt jagend können, weil uns seine persönliche Vergangenheit egal ist? Brauchen wir keine Politiker, die sich auskennen, weil sie sich mit Themen und Menschen beschäftigen, wofür wir weder Zeit noch andere Ressource haben? Glauben wir wirklich, dass die Bundespolitik anders funktioniert als eine gewöhnliche Ehe, nur weil die Folgen so weitreichend sind?
Die Technologie führt uns mal wieder an der Nase herum in die Irre. Episode 1725: Liquid Feedback. Transparenz hat nichts mit Ehrlichkeit zu tun, politische Verantwortung jedoch sehr viel mit politischer Entscheidungsfähigkeit. Die Roboter werden in 30 Jahren besser Fußball spielen können als die Menschen, bessere Politik werden sie nicht machen. Aber warten wir ab, die Härtetests kommen erst noch.
(Bild: Simon Abrams)
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