Marina Weisband, noch politische Geschäftsführerin der Piratenbundespartei, äußert sich zum Verhältnis zwischen den Massenmedien und ihrer Partei. Allgemeiner Tenor: Die Piraten werden viel gefragt, bekommen aber kein Verständnis, weil Journalisten in alten Modi bleiben, die die Piraten für ungültig erklären. Sie sagt: „Auf der anderen Seite werden uns einfach nicht die richtigen Fragen gestellt.“ Ok, die Piraten nutzen Technologie, sie wachsen schnell, usw. Ich bin seit kurzem Journalist und stelle Frau Weisband jetzt auf die Probe. Ich stelle ihr Fragen via dieser Website, also einer raum- und zeitüberbrückenden, alle Limitierungen sprengenden Technologie, ganz auf Piratenlinie. Es sollte doch gelingen, oder? (Es sind Fragen, die hoffentlich auch ohne Antworten für den Leser Sinn ergeben. Ich würde mich trotzdem über Antworten freuen!)
Update: Marina Weisband hat erfreulich und erstaunlich schnell auf die Fragen geantwortet. Ich habe sie aus ihrem Kommentar kopiert und den Fragen hier im Text direkt zugeordnet.
- Frau Weisband, ihre Partei erhält derzeit, fragt man etwa 1000 repräsentativ ausgewählte Bundesbürger mit Festnetztelefon zw. zehn und dreizehn Prozent in der Sonntagsfrage. Was bedeutet das eigentlich. Machen es die Piraten richtig, hat die Partei recht?
10-13% in Umfragen würde ich nicht überbewerten. Diese Umfragen sagen so weit vor den Wahlen kaum etwas aus. Alles, was sie aussagen, ist, dass die Piratenpartei zumindest IRGENDWAS notwendiges macht, woran es den Bürgern bisher gefehlt hat. Da ist natürlich viel Unzufriedenheit mit anderen Parteien drin. Aber das ist ja genau der Punkt. Wenn wir es anders machen, sind wir ja möglicherweise auf einem guten Weg. Mir persönlich (!) wächst das alles etwas zu schnell. Auch wir sind in einigen Dingen noch in der Testphase und ich halte uns 2013 noch nicht für regierungsfähig. Uns geht es aber auch nicht darum, dass gerade wir an die Macht kommen, sondern darum, viel Druck auf andere Parteien zu machen, damit die sich auch ändern. Dafür sind solche Umfragewerte grandios. - Man versteht langsam, wie sich die Piraten als Politiker verstehen. Doch welches Bild hat die Piratenpartei eigentlich vom Bürger? Haben berufstätige alleinerziehende Mütter ein Recht darauf, dass die Politik sie nicht vergisst, obwohl sie selbst keine Zeit für eigenes politisches Engagement investieren können?
Wir verlangen mehr vom Bürger, als alle anderen Parteien. Wir gehen sie richtig hart an und sagen: “Du musst selbst denken, du musst dich engagieren”. Wir wollen aber auch jedem die Möglichkeiten dazu geben. Ein Teil davon ist die Zielvorstellung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das auch alleinerziehende Mütter so weit entlasten würde, dass sie den Kopf frei für gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten haben. Das andere sind aber auch Prozesse wie Liquid Feedback, über das man sich bei uns auch jetzt schon in die Politik einbringen kann, bei denen man sich entweder stark selbst beteiligen, oder seine Stimme an jemanden delegieren kann. So kann man sich selbst seinen eigenen Interessensvertreter wählen und braucht dann keine sonstige Zeit für Politik aufzuwenden, ohne dass die Stimme verfällt. - Sebastian Nerz sagt, die Piraten sind nicht links oder rechts, sondern vorn. Die Ideologie „Postideologie“ lässt sich gut propagieren. Aber was ist, wenn dieser Semantik der strukturelle Unterbau fehlt? Wie viele rechtsextreme Einzelfälle hält eine Partei aus?
Eine Partei hält einzelne rechtsextreme Elemente nur dann aus, wenn sie keine Billigung und keine Duldung erfahren. Es lassen sich nie diskriminierende Aussagen verhindern, in keiner Partei und in keinem Verein. Aber auf jede solche Aussage müssen mindestens 10 oder 20 Leute kommen, die diese Person abstrafen, indem sie ihr streng ihre Missbilligung gegenüber solchen Aussagen zeigen. Das wichtigste ist, dass sich diese Art von Denken nie in der Politik niederschlägt. Und da hat meine Partei bewiesen, dass die Mehrheitsverhältnisse sehr klar sind. - Sie schreiben (in Ihrem oben verlinkten Blogpost), dass die Piraten keine politische Meinung zu deutschen Kriegseinsätzen haben, weil dies Probleme der Vergangenheit (und der alten Parteien) sind, während die Piraten sich um die Zukunft kümmern. Das einzige Problem der Zukunft, dass sie nennen, ist das des individuellen Medienkonsums, der durch das aktuelle Urheberrecht weit hinter seinen Potenzialen zurückbleibt. Ist das tatsächlich das Problem der Zukunft? Lehnen die Piraten die politische Verantwortung für die Vergangenheit des Staates, den sie politisch mitgestalten wollen, ab?
Wir lehnen keine Verantwortung ab. Aber die Vergangenheit hat es an sich, dass für sie keine Lösungen mehr gefunden werden müssen. Höchstens müssen Lösungen für Konsequenzen aus der Vergangenheit gefunden werden. Und das werden wir tun. Ich sage auch nicht, dass die Piratenpartei sich nicht mit Kriegseinsätzen befassen wird. Sie tut das bereits. Wir werden zu einigen grundlegenden Dingen Positionen fassen. Konkrete Fragen werden wir bewusst offen lassen, weil wir glauben, dass die gesamte Gesellschaft über sie abstimmen sollte. Möglicherweise gehört dazu z.B. das Abziehen von Truppen aus einem Land. Das wichtigste ist es, die Bevölkerung ehrlich darüber zu informieren, was geschieht und was die Konsequenz jeder Entscheidung wäre. - Hypothetisch: Sollte das Demokratiemodell der Piratenpartei scheitern, kann aus der Enttäuschung über die direkte Demokratie eine neue rechte Partei erwachsen, die anstelle der radikalen Inhaltslosigkeit klare Orientierungspunkte bietet. Sehen Sie in diesem Szenario eine Gefahr?
Ich habe in dem von Ihnen beschriebenen Szenario immer eine Gefahr gesehen. Aber scheitern wird die Idee von Beteiligung nie ganz, sondern sie kann nur an einer falschen Umsetzung scheitern. Dann müssen wir es mit anderen Umsetzungen probieren. Wir müssen natürlich gewissenhaft vorgehen und viel Aufklärung betreiben. Aber wenn wir nicht versuchen, gemeinschaftliche Entscheidungen zu fördern, gewinnen die konservativen Kräfte automatisch. - Wie begründet die Piratenpartei ihre Haltung, dass die anderen Parteien alles falsch machen, strukturell vollständig falsch aufgebaut sind und dass die „alte Demokratie“ ganz falsch funktioniert? Wie viel gute Demokratie steckt im alten parlamentarischen Politikmodell?
Ich denke nicht, dass die anderen Parteien alles falsch machen. Mehr noch, ich denke, sie haben alles richtig gemacht. Für die Zeit, in der sie sich gegründet und entwickelt haben. Ich denke, dass sie eine sehr gute Basis geschaffen haben. Alles, was Piraten sagen, ist, dass es Zeit ist, sich weiter zu entwickeln. Ich empfinde fast allen Parteien gegenüber eine tiefe Dankbarkeit für viele Dinge, die sie erreicht haben. Wir wollen modernisieren, nicht rückwirkend kritisieren. Alles hat seine Zeit. - Braucht man in der Politik vertrauen? Warum ist die „Fraktionsdisziplin“ die schlimmste und nicht die beste Errungenschaft moderner Politik?
Man braucht in der Politik Vertrauen. Aber es darf nicht das Vertrauen von Lobbyisten sein, dass die Partei macht, was die sagen. Es darf nicht das Vertrauen eines Koalitionspartners sein, der weiß, dass sein Partner teils gegen seine Überzeugungen abstimmt, weil er an der Macht bleiben möchte. In der Politik braucht es Vertrauen des Bürgers zu seinen Repräsentanten. Es gilt, die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung möglichst genau abzubilden. Das aber gelingt mit wechselnden Mehrheiten und Themenbündnissen besser, als mit steifen Koalitionen und Fraktionszwang. Das kann man sogar mathematisch erklären. Ich wähle eine Partei, weil ich ihre Philosophie oder ihr Programm unterstütze. Ich möchte nicht, dass sie nur Teilaspekte umsetzt. Ich möchte nicht, dass die Opposition gegen ein gutes Gesetz stimmt, nur, weil es von der Regierung kommt. - Kann es gesellschaftliches Engagement, gesellschaftliche Verantwortung nur noch per parlamentarischer Machtpolitik geben?
Gesellschaftliches Engagement gibt es in allen Bereichen des Lebens und Verantwortung kann und muss von jedem gelebt werden. Die Piraten sind lediglich der politische Teil einer größeren Bewegung, die mehr Verantwortung vom Einzelnen abverlangt. - Warum glauben die Piraten, dass ihr Versuch historisch nicht nur einmalig, sondern auch erstmalig ist?
Wir glauben, dass genau unser Konzept erstmalig möglich ist, weil wir auf die neue Infrastruktur Internet zurückgreifen können, die durch die faktische Überwindung des Raums es erlaubt, alte Konzepte wie die ursprüngliche Demokratie nochmal im Lichte neuer Mittel zu bewerten. - Warum ist das Bild der „Tyrannei der Masse“ falsch? Diese Kritik an der Demokratie ist so alt, wie die Demokratie selbst – warum stimmt sie nach 2500 Jahren nicht mehr?
“Die Masse”, das ist die Menschheit. Es kann keine Tyrannei aller über alle geben, das ist irgendwie absurd. Das einzige Konstruktive, das ich aus dem Begriff “Tyrannei der Masse” ziehen kann, ist die Mahnung, dass wir bei allem Handeln immer darauf achten müssen, auch die Interessen der Schwachen und der Minderheiten im Kopf zu haben. Aber es spricht nichts dagegen, dass ein Großteil der Bevölkerung das tun kann. - Warum gibt es keine Partei, die die wirklichen Probleme der heutigen Jungend, jungen Generation aufgreift?
Gegenfrage: Welches sind die wirklichen Probleme? Wir glauben, uns mit einem Großteil davon zu befassen. Wenn es andere gibt, ist nichts leichter, als einen Antrag bei uns einzureichen und das Thema anzusprechen. Man muss nicht mal Pirat sein. - Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, dass sich seine Spielzeuge zum Hungerlohn am anderen Ende der Welt bauen lässt. Was ist falsch gelaufen?
Falsch gelaufen ist bislang das nationalistische Denken. Das hatte bis zu irgend einem Punkt seinen Sinn. Doch in der globalisierten, vernetzten Welt müssen wir darüber hinaus denken. Die Standesunterschiede, die wir seit dem Mittelalter innerhalb eines Landes halbwegs beheben konnten, müssen wir jetzt weltweit angleichen. Aber uns ist eine bessere Kooperation möglich, sodass ich die durchsetzung weltweiter Gerechtigkeit für ein durchaus nicht unrealistisches Ziel der Zukunft halte.
(Bild: independentman)
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